Die katholische Kirche und ihre dubiosen Zahlen – Betroffene sexueller Gewalt sorgen für Transparenz

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Sylvia Wagner, Pharmaziehistorikerin und Vorstandsmitglied beim Verein ehemaliger Heimkinder.
Sylvia Wagner

Die katholische Kirche halte das Verfahren für Anerkennungsleistungen für die Opfer sexueller Gewalt intransparent, kritisieren Betroffene. Also kümmern sie sich nun selbst um Transparenz: Sie rufen Menschen, die schon Zahlungen von der Kirche erhalten haben, dazu auf, die Summen offenzulegen. Der Verein ehemaliger Heimkinder hostet das Formular auf seiner Webseite. Betroffene können dort anonym angeben, wie viel Geld sie für die erlittene sexualisierte Gewalt erhalten haben.

"Von der Kirche aus passiert nichts – nur unter öffentlichem Druck", sagt Sylvia Wagner. Sie ist Pharmaziehistorikerin und Vorstandsmitglied beim Verein ehemaliger Heimkinder. Wagner hat zusammen mit anderen Betroffenen das Formular entwickelt und die Aufforderung breit streuen lassen, damit sie bei möglichst vielen Opfern ankommt. Sylvia Wagner weiß, dass es viele Betroffene ärgert, dass die Verfahren nicht transparent sind. Sie bekommen Bescheide mit sehr unterschiedlichen Summen. "Man weiß nicht, wie diese Summen zustande kommen", erklärt Wagner. "Wenn man klagen möchte, dann weiß man gar nicht, wogegen man klagen könnte, weil man eben nicht weiß, wie dieser Betrag errechnet wird."

2021 habe die katholische Kirche Zahlungen für Opfer sexualisierter Gewalt in Höhe von 12,89 Millionen Euro genehmigt, heißt es im Tätigkeitsbericht der Unabhängigen Kommission für Anerkennungsleistungen (UKA). Diese wurde von der Deutschen Bischofskonferenz ins Leben gerufen. Laut der UKA erhielten die Betroffenen durchschnittlich etwa 21.000 Euro Entschädigung.

"Man kann einen Missbrauch natürlich nie mit Geld wiedergutmachen", stellt die Pharmaziehistorikerin klar. Aber viele Opfer seien sehr enttäuscht über die Summen. Nicht nur, weil sie oft zu niedrig seien, sondern auch, weil man nicht wisse, wie diese Beträge überhaupt zustande kämen. "So kann es auch retraumatisierend auf die Betroffenen wirken", sagt sie.

Viele Betroffene sind nicht mehr arbeitsfähig

Offiziell heißt es, die Summe der Anerkennungsleistung orientiere sich an Schmerzensgeldern, wie sie an staatlichen Gerichten festgelegt werden. "Ich weiß nicht mal, ob es da Tabellen gibt oder ob nach vergleichbarer Rechtssprechung entschieden wird", so Wagner. Zudem scheine es bei der Höhe der Leistungen einen Unterschied zwischen den Bistümern zu geben. Einen Rechtsanspruch auf eine Entschädigung haben die Opfer ohnehin nicht, es ist eine Anerkennungsleistung. "Der Missbrauch kann das Leben der Betroffenen stark beeinträchtigen, viele sind nicht mehr arbeitsfähig. Sie fühlen sich nicht gesehen, wenn das Schreiben so nüchtern und intransparent ist." Die Beträge sollten an die Situation der Betroffenen angepasst werden, fordert Sylvia Wagner. Politik und Gesellschaft müssten mehr Verantwortung übernehmen. Die Politik lasse die Opfer mit dieser Kirche allein.   

Der erste Hemmschuh: "Es fängt schon bei der Antragstellung an, man muss zu den Bistümern gehen, in deren Strukturen die Taten verübt wurden", erläutert Wagner. Viele Betroffene könnten diese Hemmschwelle erst gar nicht überwinden. Es sei wahrscheinlich, dass sich mehr Opfer eher an eine unabhängige Stelle wenden würden, als sich bei der "Täterorganisation" zu melden. Bisher gebe es bundesweit aber nur eine unabhängige Beratungsstelle in Köln. Das Angebot müsse dringend erweitert werden.

Im ganzen Verfahren zeigt sich die Nachrangigkeit der Betroffenen

"Das ist eine Sache der Politik", betont Wagner. Die Pharmazeutin kritisiert auch, dass es die Bistümer seien, die zunächst über die Entscheidungen der Kommission informiert würden. Erst Wochen später käme dann der Bescheid bei den Opfern an. "Daran sieht man schon das Verhältnis: die Nachrangingkeit der Betroffenen." Viele Opfer würden diesen Weg scheuen. "Eine genaue Zahl der Betroffenen, die sich gar nicht melden, kann ich nicht nennen, gehe aber davon aus, dass es eine hohe Zahl ist." Sylvia Wagner weiß, dass sich von den ehemaligen Heimkindern nur etwa zwei Prozent beim Heimkinderfonds gemeldet haben, um Anerkennungsleistungen zu erhalten. "Das könnte hier zahlenmäßig ähnlich sein", vermutet sie.

"Die Betroffenen sind letztlich auf den guten Willen angewiesen und haben rechtlich keine Handhabe", sagt Wagner. Zudem sei die Missbrauchsproblematik so lange ignoriert und vertuscht worden, dass inzwischen viele Opfer verstorben seien.

Das Formular, über das Betroffene anonym angeben können, wie viel Geld sie von der katholischen Kirche für erlittene sexualisierte Gewalt erhalten haben, findet sich hier.

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