Lebenssinn und der Mut zu sich selbst

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Die Frage nach dem Lebenssinn ist keinesfalls akademisch. Sie sucht nach Zusammenhängen, konstruktiven Bezügen und praktischen Orientierungen. Der Mensch ist ein biologisches Wesen und als Ergebnis der Evolution mit Stärken und Schwächen ausgestattet. Er hat sich in Anpassung an die vorherrschenden Bedingungen entwickelt und sich von einer ausschließlichen Gebundenheit an Instinkte gelöst.

Wir kennen keine Letztbegründung für unser Dasein und keinen über uns hinausreichenden Lebenssinn. Die Natur kommt ohne uns aus und interessiert sich nicht in besonderer Weise für uns. Ihre Prozesse vollziehen sich mitleidlos. Das bedeutet – ebenso wie die Tatsache des Todes – eine existentielle Ernüchterung und Verunsicherung. Kaum vorstellbar, dass jemand davon völlig unberührt bleibt.

Sehr viel spricht für die Formel vom selbst zu suchenden Lebenssinn, verstanden als individuelle Lebenserfüllung. Sie bildet ein Kontra-Produkt zur existentiellen Offenheit unserer Existenz. Mit den Offenbarungsreligionen ist diese Formel nicht zu vereinbaren. Dort liegt Orientierung in einer jenseitigen Autorität, der man sich anheimgibt und von der man Wissen zu haben glaubt. Für letzteres spricht allerdings nichts – womit die Orientierung lediglich auf sich selbst zurückverweist.

Versuchen wir zunächst, das Terrain etwas genauer zu erkunden

Die Erkenntnisse der Naturwissenschaften und ihre technischen und medizinischen Errungenschaften sind überwältigend und gewinnen weiter an Dynamik. Über den individuellen Sinn unserer Existenz vermögen sie uns nichts zu sagen, denn hier befinden wir uns im Bereich der persönlichen Betroffenheit und Bewertung der Lebenssituation.

Das ist nicht neu: der Mensch ist ein soziales Wesen, das ohne positive Resonanz auf seine personale Existenz nicht leben kann. Hart kontrastieren dazu die Schwierigkeiten der Menschen untereinander. Es gibt keine andere Kreatur, die so viel Blut der eigenen Art vergossen hat und die so ausgefeilte ideologische und psychologische Manipulation sowie wirtschaftlich-strukturelle Gewalt gegeneinander ausübt. Dass er dabei fast alles zu rationalisieren, eine "Storyline" zu entwickeln weiß, macht die Sache nicht leichter. Kognitionsforschung und Sozialwissenschaften stellen fest, dass der Mensch über ein unendliches Potential an Mitgefühl, Intuition und Kreativität verfügt – aber auch über das gegenteilige Potential in ebensolchem Umfang. Die beiden Seiten stehen sich nicht im Sinne starrer Antipoden gegenüber, sondern in einem Verhältnis dynamischer Verschränkung.

Wir sind nicht ausgestattet, komplexe Prozesse vollständig zu erfassen, ihren Verlauf präzise vorherzusagen und vollkommen gerechte Lösungen zu schaffen – Corona und die Reaktion darauf zeigen das exemplarisch. Es gelingt uns kaum, vorhandene Erkenntnisse und praktisches Handeln zur Deckung zu bringen. Bekanntlich sind wir im Begriff, mit unserer Art zu leben die Umwelt als unsere Lebensgrundlage zu zerstören. Die sich immer weiter öffnende Schere zwischen Arm und Reich hat das Potential zu zerstörerischer Sprengkraft. Die Umrisse epochaler Umbrüche in technologischer und wirtschaftlicher Hinsicht werden erkennbar; Kämpfe um neue Ordnungen und Machtverteilungen sind auf allen Ebenen in vollem Gange. Die von Menschen geschaffene Realität und ihre Konsequenzen bilden den Rahmen, in dem der Einzelne suchen muss, sich zu behaupten und zu verwirklichen. Der Anpassungsdruck ist enorm.

Temperament, Energiepotential, Begabungen und Interessen sind höchst ungleich verteilt. Die Wissenschaften klären uns über das Ineinandergreifen genetischer und sozialer Einflüsse (Epigenetik) auf. Letztere fallen selbst bei gleichem kulturellem Hintergrund und sogar innerhalb einer Familie höchst unterschiedlich aus. Dass die frühe Kindheit einen lebenslang prägenden Einfluss ausübt ist bekannt. Das Kind kann nichts für das chaotische Gemenge von Zuwendung, Erwartungen, inkonsistenten Wertvorstellungen, Übertragungen und ungelösten Konflikten der Erwachsenen, durch die es so gut wie möglich hindurch finden und in der es seine Wurzeln schlagen muss.

Zufälle, Schicksalsschläge und Krankheiten treffen uns ungleich, sind ungerecht, ohne nachvollziehbaren Sinn und Zweck. Schon deshalb ist eine Bewältigung auf rein rationaler Ebene nicht möglich. Sie müssen aber verarbeitet werden, hinterlassen Spuren und vertiefen den sogenannten "Charakter" eines Menschen. Tiefgreifende Wandlungen nicht ausgeschlossen.

Der Mensch verhält sich in der Menge anders als allein oder im kleineren Kreis. Die Kognitions- und Sozialwissenschaften weisen nach, wie leicht beeinflussbar er ist. Im Übrigen werden die Erkenntnisse der genannten Disziplinen auf vielen Feldern zur Durchsetzung von Interessen eingesetzt. Und zwar auf eine Weise, die der Einzelne bewusst kaum mitbekommt – ein Narr wer glaubt, er würde das immer checken oder könne es ignorieren, weil es zu seinem Besten geschehe.

Schon die phänomenologische Beobachtung zeigt, dass der Mensch wesentlich aus emotionaler Betroffenheit agiert – nie ohne eine solche. Die Relevanz dieses Sachverhaltes liegt darin, dass Gefühle keine intellektuellen Akte sind, sondern als leibliche Kräfte unmittelbar den Menschen ergreifen. Sie sind Teil seiner biologischen Existenz und geben dem Leben Dynamik, Farbe und Vielfalt. Empathie ist möglich, weil wir selbst Gefühle kennen!

Wir wissen um den Wandel im Lauf der Zeit – können uns beiden aber nicht entziehen, sie nicht aufhalten. Die Zukunft kennen wir nicht – können mit Kierkegaard nur vorwärts leben und rückwärts verstehen. Das Wissen um die Evolution befreit nicht von den Einschränkungen und problematischen Anteilen derselben in uns; Verdrängung oder Unterdrückung sind keine guten Alternativen für das Bemühen um konstruktiven Umgang damit.

Spannungsverhältnisse und Ambivalenzen prägen das menschliche Leben. Krisen sind unvermeidlich und lösen sich mit heiteren Phasen ab – sie bedingen einander sogar bis zu einem gewissen Grad. Eine allzeit stabile und souveräne personale Lage ist dem Menschen nicht gegeben. Unvermeidlich ist dem Leben auch eine schmerzliche Seite eingeschrieben.

Woran lässt sich unter diesen Voraussetzungen orientieren und wie finden wir Freude und Erfüllung?

Zunächst lässt sich entlastend feststellen, dass Homo sapiens nichts kann für die conditio humana, in die er gestellt oder geworfen ist.

Wir wissen, dass unsere Existenz in eine uns übersteigende Dynamik eingebunden ist, die wir mit allen Lebewesen teilen. Wir müssen uns den Prozessen der Natur letztlich anheimgeben. Vielen ist nicht nur das Wissen, sondern auch ein unmittelbares Gespür für dieses Eingebettet-Sein gegeben.

Als biologisch-evolutionäres Wesen, angepasst an die Bedingungen dieser Erde, hat das Erlebnis von Natur eine verankernde und stärkende Wirkung. Wir werden von den Atmosphären der Natur ergriffen und sind fasziniert von der Komplexität, wie sie uns die Wissenschaften aufzeigt.

Wir verfügen durch das Potential zu Empathie, zu Distanz nehmender Reflexion, Kreativität und Intellekt über erhebliche Spielräume, auf unsere Lebenssituation Einfluss zu nehmen. Darauf gründet Hoffnung. Es verlangt gesellschaftliche Auseinandersetzung und Verantwortung und ermöglicht, Dinge praktisch zu verändern. Auch können wir – in einem mühsamen Prozess - mit falschen Vorstellungen zu uns selbst aufräumen, die uns behindern.

Für die je eigene Orientierung kann als Ausgangspunkt das Selbstgespräch dienen: wo stehe ich mit meinen Bedürfnissen und Wünschen? Was treibt mich an, worauf hoffe ich, was ist mir wichtig?

Was hält mich zurück, was bricht die Impulse zu eigenem Handeln? Wie berührt mich das, was mir widerfährt? Was sind meine Potentiale und meine Optionen? Vor allem aber: wie beziehe ich Stellung? Wie entscheide ich mich? Das verlangt eine gründliche Prüfung. Passive und aktive Elemente wechseln sich ab, gehen ineinander über. Unbenommen ist das Recht auf Irrtum, Revision und Kurswechsel – ein eigenes Stück Freiheit! Das Bemühen um Perspektivwechsel ist wichtig, wofür der hilfreiche Blick von außen unverzichtbar ist.

Bekanntlich ist das Leben weder auf später verschiebbar noch kann man es delegieren oder die Verantwortung abgeben – auch nicht an Algorithmen. Rat und Austausch stoßen an Grenzen. Das bedeutet Freiheit und Herausforderung zugleich.

Angesichts der unvermeidlichen Unterschiedlichkeit auf vielen Ebenen ist das Potential zu innerer und äußerer Abgrenzung so lebenswichtig wie die Fähigkeit zu Öffnung und Hingabe. Bindung und Festlegung sind so wichtig wie die Fähigkeit zu Trennung und Neuanfang. Ebenso wichtig ist es, bei schmerzlichen Erlebnissen und Verlusten der Trauer Raum zu geben und Unterstützung zu suchen, wenn man ihrer bedarf. Es braucht einen positiven, tragenden Selbstbezug, um den Anfechtungen des Lebens zu widerstehen.

Menschliche Nähe im Sinne von Aufmerksamkeit, Mitgefühl und Verständnis ist ein Lebenselixier. Nazim Hikmet: "Leben, einzeln und frei wie ein Baum und brüderlich wie ein Wald – das ist unsere Sehnsucht." Jedoch muss der Kreis der Menschen gefunden werden, mit denen bei aller Unterschiedlichkeit ein fruchtbares Miteinander in konstruktiver Atmosphäre möglich ist!

Ruhe in der Bewegung des Lebens zu suchen, sich für eine Tätigkeit zu entscheiden und ganz in ihr aufzugehen, befreit und setzt Ressourcen frei. Sei es nun in Meditation, künstlerischer oder praktischer Tätigkeit, in sozialem Engagement oder was immer. Eine Sache des Tuns.

Kunst und Kultur wissen uns zu bereichern und anzuregen in Bezug auf unsere spirituellen Bedürfnisse und offenen Fragen – ohne immer eine fertige Antwort liefern zu müssen. Musik kann uns in besonderer Weise ergreifen und in Schwingungen versetzen.

Der Abschied vom Leben ist ein wichtiger Teil des Lebensprozesses. Es geht um Rechenschaft sich selbst gegenüber, um letzte Klärungen und um Abschied.

Wir selbst und alles um uns herum verändert sich. Die altbekannte Ermunterung "Erkenne Dich Selbst" zielt nicht auf einen Höhepunkt der Vergeistigung oder der kognitiven Erkenntnis, sondern einen ganzheitlichen und achtsamen Lebensprozess der Übung und der Reflexion. Mehr Herausforderung geht nicht.

Dieser Artikel erschien zuerst in "Der Evolutionist", Ausgabe 27, der vierteljährlichen Zeitschrift der Evolutionären Humanisten Berlin-Brandenburg (ehbb)

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