Auch in seinem neuen Buch kritisiert Bernd Stegemann die linke Identitätspolitik, wenngleich der gewählte Titel "Wutkultur" das nicht vermuten lässt. Der Autor macht in seinem Essay anschaulich deutlich, dass mit der kritisierten Form von Identitätspolitik auch Individualismus und Universalismus objektiv negiert würden.
Steht linke Identitätspolitik für einen säkularen Pietismus? In seinem neuen Buch wird die Frage von Bernd Stegemann bejaht. Der Dramaturg ist eigentlich Theatermensch. Als engagierter Intellektueller und studierter Philosoph nimmt er aber auch immer wieder politisch Stellung. Dies geschieht aus einer linken Blickrichtung, die sich an sozioökonomischen Aspekten orientiert, sprich die "Klassenfrage" ins inhaltliche Zentrum rückt. Mit dieser Auffassung, die erklärtermaßen nicht mit einem Dogmatismus vulgärmarxistischer Prägung einhergeht, legte Stegemann immer wieder reflexionswürdige Widersprüche vor. Sie richteten sich insbesondere gegen linke Identitätspolitik, wofür etwa die Bücher "Die Moralfalle" oder "Die Öffentlichkeit und ihre Feinde" stehen. Sein neuster Band, die nur knapp über hundert Seiten lange "Wutkultur", erschien im kleinen "Theater der Zeit"-Verlag. Insofern dürften die darin enthaltenen Betrachtungen eher weniger Interesse finden, was aber bei aller dortigen Einseitigkeit mehr als nur bedauerlich wäre.
Der Autor irritiert gleichwohl etwas durch das Thema "Wut", bleibt doch zunächst der inhaltliche Schwerpunkt seiner folgenden Zuspitzungen unklar. Denn es geht da allgemein um einen Anstieg einschlägiger Einstellungen und Handlungen im sozialen Miteinander, wozu dann auch Betrachtungen zur dialektischen Herausforderung von "Wut" gehören. Denn einerseits handele es sich um elementare Energien von Menschen, andererseits um Gefahren für das soziale Miteinander. Die Auseinandersetzung damit bleibt aber bei Stegemann sehr formal, kommt es doch auch auf die Inhalte und Regelungsformen für "Wut" an. Und nach einigen Betrachtungen zu eben der "Wutkultur" geht es dann um das eigentliche thematische Zentrum: Die kritische Auseinandersetzung mit linker Identitätspolitik und einen mit rechter Identitätspolitik vorgenommenen Vergleich. Dies alles geschieht nicht in klarer und stringenter Form, hat man es doch mit einem reflektierenden Essay zu tun. So erklärt sich auch manche von Stegemann vorgenommene Verallgemeinerung und Zuspitzung.
Gleichwohl lohnt die Auseinandersetzung mit den präsentierten Deutungen und Thesen. Der Autor macht treffend darauf aufmerksam: "Die Identität von Geschlecht und Hautfarbe ist vorderhand biologisch, soll aber mit Hilfe der Identitätspolitik auch zu einer sozialen Konstruktion gemacht werden" (S. 31). Dass dies von den Akteuren nach Gutdünken mal so und mal so vertreten wird, macht die instrumentalisierende Einstellung zum Gemeinten deutlich. Denn der Autor hebt gelegentlich hervor, dass es hier um nicht nur diskursive Machtinteressen gehe. Dies geschehe bei den Akteuren auch dadurch, dass sie sich selbst einen Opferstatus zuschrieben. Als angeblich oder tatsächlich Diskriminierte beanspruchten sie besondere Glaubwürdigkeit aufgrund ihrer dann doch wieder biologisch identifizierbaren Zugehörigkeit. Man zähle dann als Einzelner zu einem "Kränkungskollektiv", womit eben neue Opfer- und dann auch Tätergruppen entstünden. Dabei wären etwa weiße Einzelne nicht aufgrund ihrer Handlungen "rassistisch", sondern aufgrund ihrer Zugehörigkeiten.
Wie im religiösen Pietismus gehe hiermit ein exklusiver Wahrheitsanspruch einher. Nur die Buße könne teilweise Erlösung bringen. Für den Autor besteht sie in der Identitätspolitik darin, dass man sich in Demut selbst als Rassist bekennt. Die Gleichheit der Menschen wie im Universalismus werde negiert. Dies ergebe sich in dem kritisierten Diskurs eben durch schlichte kollektive Zugehörigkeiten. Wie nur selten bei Einwänden gegen die Identitätslinke hebt Stegemann hierbei kritisch hervor: "Der Universalismus der Rechte ist ein mühsam erkämpfter zivilisatorischer Standard, der gerade darum gilt, weil er unter Absehung von der individuellen Identität für alle gültig ist. Ihn zum Feind zu erklären und abschaffen zu wollen, ist der größte Angriff auf die Grundlangen unserer Gesellschaften" (S. 92). Bezogen auf diesen Aspekt bestehen auch Gemeinsamkeiten von Identitätslinker und Identitätsrechter. Darauf mit aufklärerischem Blick aufmerksam gemacht zu haben, ist Stegemanns intellektuelles Verdienst. Denn auch der Humanismus ist ein Universalismus.
Bernd Stegemann, Wutkultur, Berlin 2021, Theater der Zeit, 103 Seiten, 12 Euro