Rezension

Missglückte Kritik des identitätslinken Selbstverständnisses

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Friedrich Böttiger, ein promovierter Sozialwissenschaftler, will in "Der Mensch ohne Gesicht" eine so im Untertitel versprochene "Kritik der Identitätspolitik" aus "dialektisch-materialistischer" Sicht vornehmen. Der Darstellung fehlt indessen schlicht die Bodenhaftung, ergeht sie sich doch in abstrakten Reflexionen. Darüber hinaus ist das Buch von erheblichen Mängeln bezüglich eines wissenschaftlichen Schreibens durchzogen.

An der Identitätslinken wird mittlerweile auch heftige Kritik von links geübt. Dabei lautet ein Kerneinwand, dass formale Akzeptanzgewinne für Minderheiten nichts an sozialen Ungerechtigkeiten ändern müssen. "Dann sollen sie Diversität essen" lautete etwa eine von Walter Benn Michaels im sozialistischen Sinne in den USA formulierte diesbezügliche Zuspitzung. Mittlerweile gibt es auch in Europa einschlägige Kritiken von links, etwa von Caroline Fourest aus Frankreich aus feministischer Sicht. Friedrich Böttiger, ein promovierter Sozialwissenschaftler, beansprucht so etwas auch in seinem Buch "Der Mensch ohne Gesicht. Kritik der Identitätspolitik". Darin will er die Blickrichtung einer dialektisch-materialistischen Kritik einnehmen und sich auf Marx, aber auch auf Adorno und Marcuse stützen. Bereits einleitend darf indessen konstatiert werden, dass dem Autor dies in Form und Inhalt nicht gelungen ist. Seine abstrahierend reflektierenden Betrachtungen sind ohne empirische Bodenhaftung und von formalen Mängeln wissenschaftlichen Schreibens durchzogen.

Cover

Als Auffassungen des Buchs werden folgende Thesen genannt: erstens die "von einer verfestigten Identitätslogik als Herrschaftsmoment", zweitens die, wonach "die Identitätspolitik ihre Umwelt nicht mehr dialektisch-materialistisch, sondern systemtheoretisch-relativistisch wahrnimmt", und drittens, "dass auf Grundlage der subjektiven Identitätslogik sowie eines kulturalistischen Bezugs ein statisches Gesellschaftsbild mit uniformen Blickwinkeln entsteht" (S. 24–26). In dieser Abstraktheit geht es durch das ganze Buch, wobei ein ökonomiezentrierter Marxismus als Rahmeninterpretation herhalten muss. Alles dient dann irgendwie auch "wachsenden Ansprüche(n) des Kapitals" (S. 60), was die Bewertungsgrundlage sein muss. Der Autor nennt marxistische Denker, die als solche nicht von ihren Ansätzen her notwendigerweise zusammen passen. Es werden gar Peter Decker und der "Gegenstandpunkt", also die einstige zynische "Marxistische Gruppe", als Referenzwerke mit großem Verwunderungseffekt genannt.

Gleichwohl findet man hier und da berechtigte Einwände, welche sich gegen die antiuniversalistische Gruppenfixierung des identitätslinken Selbstverständnisses richten. Auch dies bleibt jeweils abstrakt. Eine genauere inhaltliche Auseinandersetzung damit findet nicht statt, einschlägige Buchtitel tauchen gar nicht im Literaturverzeichnis auf. Ansatzweise gelungen ist demgegenüber die kritische Beschäftigung mit der Identitätsrechten, wobei sich auch diese mit Benoist und Lichtmesz gerade mal auf zwei Titel stützt. Berechtigt heißt es vergleichend: "Während rechte Identitätspolitik den ausländischen Nationalismus im Sinne ihres Ethnopluralismus relativiert … negiert linke Identitätspolitik ausländischen Nationalismus und Rassismus …" (S. 161). Doch auch hierfür mangelt es an genauen Belegen und konkreten Erläuterungen. Alle präsentierten Inhalte sollen irgendwie in ein marxistisches Weltbild eingeordnet werden. Da der ganze Ansatz nicht begründet, sondern vorausgesetzt wird, können auch nur ohnehin Überzeugte angesprochen werden.

Außerdem ist das Buch von formalen Mängeln durchzogen. Das beginnt schon damit, dass bei Literaturverweisen die Seitenangaben fehlen. Man findet etwa zu einem kurzen Absatz folgende Fußnote: "Marcuse (2014); Marcuse/Wolff/Moore (1967); Ebermann (2019); Adorno (1969); Gegenstandpunkt (1/21b)" (S. 78). Nur was ist dann der Beleg für welchen Inhalt und wo lässt er sich konkret finden? Kennt man durch eigene Lektüre die genannte Literatur, so entsteht nicht selten der Eindruck, dass die im Buch referierten Inhalte nicht unbedingt auch in der genannten Literatur so ein Thema sind. Fällt so etwas in einer Examensarbeit an einer Hochschule auf, gehen nicht nur diverse Alarmglocken bei einem Hochschullehrer an. Immer wenn die Aussagen konkreter sind, schleichen sich sachliche Fehler ein. So wurde etwa die KPD nicht 1953 (S. 172), sondern 1956 verboten. Kurzum, ein leider enttäuschendes Buch zu einem wichtigen Thema. Argumentative "Kritik der Identitätspolitik", so der Untertitel, wäre durchaus eine Notwendigkeit.

Friedrich Böttiger, Der Mensch ohne Gesicht. Kritik der Identitätspolitik, Aschaffenburg 2022 (Alibri-Verlag). 188 S., 14,00 Euro

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