Einen Essay gegen die "Identitätspolitik" legt Bernd Stegemann mit eben diesem schlichten Titel vor. Das Buch neigt zwar gelegentlich zu Schiefen und Überspitzungen, argumentiert aber gegen die mit der Identitätspolitik einhergehende Ignoranz gegenüber Klassenpolitik und die Negierung des Universalismus überzeugend an.
Auch wenn es eigentlich wichtigere Themen in der Welt gibt, so tobt die Debatte um Identitätspolitik weiter fort. Einen erneuten Beitrag dazu legt Bernd Stegemann vor, der sich mit diesbezüglichen Fragen auch in anderen Monographien schon beschäftigte. Er lehrt in Berlin Dramaturgie und Kultursoziologie als Professor und äußert sich immer wieder mit dezidiert linker politischer Sicht zu den unterschiedlichsten Themen. Dazu gehört auch die Identitätspolitik. Sein kurzer Essay dazu trägt lediglich "Identitätspolitik" im Titel, es gibt keine Ergänzungen und keinen Untertitel. Indessen handelt es sich nicht um einen Einführungsband zum Thema. Eher hat man es mit einer Streitschrift und Warnung zu tun. Dabei verharrt der Autor, es sei hier schon zu Beginn der Besprechung betont, häufig auf der abstrakten Ebene, wird doch das Gemeinte selten konkret benannt. Nur zwei Autoren (Robin DiAngelo, Ibrahim X. Kendi) bilden konkrete Bezugspunkte für die vorgetragene Kritik. Diese Herangehensweise führt dann auch schneller zu Überspitzungen, was aber nicht gegen die Kernaussagen der kurzen Schrift sprechen muss.
Bereits zu Beginn heißt es: "Dabei ist der Kern von Identitätspolitik so alt wie die Menschheit: 'Wir zuerst!' ist der Schlachtruf, der zu allen Zeiten ertönt ist" (S. 7). Und gleich darauf folgt eine problematische Gleichsetzung von "America first" und "Black Lives Matter". Zur letztgenannten Aussage heißt es noch: "Warum sollen 'alle Leben' nicht zählen, und warum sollen nur 'schwarze Leben' zählen?" (S. 7). So ist aber diese Aussage nicht gemeint, was Stegemann eigentlich klar sein sollte. Derartige Argumentationstricks kommen gelegentlich vor, sprechen dann aber nicht für Seriosität. Genau darum sollte es aber einer Abhandlung mit Kritik gehen, welche die Aufklärung als Berufungsinstanz anführt. Denn der Autor formuliert richtige Einwände, wenn von einer archaischen und postmodernen Identitätspolitik die Rede ist. Deutlich wird auf eine altertümliche Gruppenfixierung und eine antiuniversalistische Moderneverneinung verwiesen: "Als erste regressive Tendenz fällt auf, dass der zwanglose Zwang des besseren Arguments seine befriedende Kraft verliert. An seine Stelle setzt sich die archaische Macht der identitären Behauptung." (S. 16)
Damit angesprochen ist die Frontstellung gegen den Universalismus, welche sich auch auf die Angemessenheit von Feststellungen bezieht. Denn entscheidend soll sein, was ein Betroffener etwa von angeblicher oder tatsächlicher Diskriminierung meint, nicht, was einer intersubjektiven Überprüfbarkeit nach empirischer Wahrnehmung entspricht. Berechtigt macht der Autor deutlich, dass diese Denkungsart aufklärerische Grundpositionen negiert. So werde der normative Ast der Moderne abgesägt, auf dem auch die Diskriminierungskritik des Universalismus gründe. Als marxistisch geschulter Linker kritisiert Stegemann darüber hinaus, dass die soziale Frage und die ungerechte Verteilung nicht relevant sind. So heißt es: "Identitätspolitik hilft dem Kapital bei seinem Bemühen, die Rivalität bei der Verteilung des produzierten Mehrwerts durch die Fragen nach gleicher Anerkennung zu ersetzen." (S. 29) Das ist eindimensional, aber auch nicht falsch. Noch bedenklicher ist aber in der besonders gelungenen Argumentation von Stegemann, dass sich die Identitätspolitik eben gegen die Prinzipien des Universalismus richtet.
Dies zeigt er an Kipppunkten auf, wozu die Ausführungen zu Cancel Culture, Critical Race Theory, Opfermanagement oder Woke-Aktivismus zählen. Deutlich betont der Autor dabei auch, dass es hier um Macht gehe: "… wer darüber entscheidet, wann die Partikularität (Hautfarbe) und wann der Universalismus (Konzept und Struktur) zählt, der hat die Macht. Und diese Macht liegt bei den Vertretern linker Identitätspolitik." (S. 86) Letzteres darf in dieser Pauschalität aber bezweifelt werden. Dafür verdient ein anderer Einwand größeres Interesse, wobei es um die von der Identitätspolitik ausgehende Spaltung geht: "Da sie nur Freund und Feind kennt, erschwert sie Kompromisse. Und da sie jedes Argument danach sortiert, ob es vom Freund oder vom Feind kommt, reduziert sie das Verstehen auf ihren eigenen Horizont". (S. 91) Am Ende der Reflexionen muss Stegemann aber wieder irritieren, etwa wenn die Identitätspolitik auch bei den Klimaprotestlern oder Putin gesehen wird. Bilanzierend betrachtet handelt es sich um einen lesenswerten Band mit kleinen Schwächen, der aber die Aufklärung und den Universalismus verteidigen will.
Bernd Stegemann, Identitätspolitik, Berlin 2023 (Matthes & Seitz-Verlag), 111 S., 12,00 Euro