Die menschliche Dimension des (Glücks-)Falls der Mauer

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Nur noch diese Doppelreihe Pflastersteine erinnert an den Standort der Berliner Mauer.
Nur noch diese Doppelreihe Pflastersteine erinnert an den Standort der Berliner Mauer.

Der Fall der Mauer am 9. November hat die Freiheit aller Menschen im wiedervereinigten Deutschland gestärkt. 30 Jahre danach gibt es jedoch kein Grund zur Selbstzufriedenheit. Der Grundkonsens allen Miteinanders, die Unantastbarkeit der Würde aller Menschen, droht aus dem Blick zu geraten. Ein Kommentar von Jan Gabriel, Präsident im Humanistischen Verband Berlin-Brandenburg KdöR.

Ein Glücksfall der Freiheit

Es besteht kein Zweifel, dass der Fall der Mauer ein Glücksfall für die Freiheit aller Menschen im wiedervereinigten Deutschland war. Familien und Freunde, die vom Eisernen Vorhang getrennt waren, fanden endlich wieder zueinander. Die Wiedervereinigung gab vor allem den Menschen im Ostteil des Landes die Fähigkeit zurück, sich selbstbestimmt durch die Welt und das Leben zu bewegen – wortwörtlich im Sinne der Reise- und Bewegungsfreiheit, aber auch im persönlich-biografischen Sinn, indem Menschen ihre Bildungs- und Berufsbiografie wieder wirklich selbst in die Hand nehmen, sich in einer freien Presse informieren, an freien Wahlen teilnehmen und nicht zuletzt frei ihre Meinung äußern können, ohne Angst vor Repression oder Denunziation haben zu müssen. Dass heute über 80 Millionen Menschen mit ganz unterschiedlichen kulturellen und biografischen Hintergründen in einer offenen, freien und demokratischen Gesellschaft leben können, ist 75 Jahre nach dem Nationalsozialismus und 30 Jahre nach dem Ende des Staatssozialismus ein Geschenk.

Es gibt keinen Grund zur Selbstzufriedenheit

Drei Jahrzehnte nach den historischen Ereignissen des 9. November müssen wir allerdings auch einräumen, dass es keinen Grund zur Selbstzufriedenheit gibt. Die Mauer in den Köpfen ist präsenter denn je, Vorurteile und Vorbehalte gegenüber "den Ossis" und "den Wessis" nehmen zu. Dazu kommt, dass das Gefühl von Wert- und Identitätsverlust unter ostsozialisierten Menschen aufgrund der fehlenden Anerkennung ihrer Lebensleistung wächst. Verstärkt wird dies von der fehlenden Repräsentanz von Menschen mit ostdeutscher Biografie in politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Spitzenpositionen. Infolge der Wiedervereinigung haben viele ostsozialisierte Menschen traumatische biografische Brüche erlebt und Abwertungs- sowie Verlusterfahrungen gemacht, die bis heute gesamtgesellschaftlich unterschätzt oder ignoriert werden. Die menschliche Dimension ist im Wiedervereinigungsprozess zu kurz gekommen. Die Folge ist, dass individuelle Enttäuschungserfahrungen, die zunehmende Komplexität der Lebensverhältnisse und die allgemeine wirtschaftliche Tristesse insbesondere im ländlichen Raum der Neuen Bundesländer von einem Teil der Bevölkerung zu einem eindimensionalen Ohnmachts- und Abstiegsmythos verdichtet werden, der sie misstrauisch gegenüber demokratischen Prozessen und anfällig für autoritäre, nationalistische und völkische Erzählungen macht.

Es gibt keine Rechtfertigung für Hass und Gewalt

Dies rechtfertigt jedoch nicht das Ausmaß an Aggressivität, Hass und Gewalt, das sich derzeit in unserer Gesellschaft Bahn bricht. Es ist nicht hinnehmbar, dass Menschen aufgrund ihrer Herkunft, Identität und/oder politischen Einstellung Angst um Leib und Leben haben müssen. Wir haben ein ernstzunehmendes Problem mit Rechtsextremismus und Rassismus. Wer das herabspielt oder relativiert, schadet unserer Gesellschaft. Wir haben aber auch ein Werte- und Anstandsproblem. Es ist nicht tolerabel, dass Menschen, die sich für die Werte des Grundgesetzes stark machen, aufs Übelste beschimpft und bedroht werden dürfen. Dies hat nichts mit Meinungsfreiheit zu tun und beschädigt – stellvertretend oder direkt – die Würde jedes einzelnen Menschen. Die Wende zu vollenden heißt eben nicht, das gesellschaftliche Klima mit Rückbezug auf die Meinungsfreiheit weiter zu vergiften. Hass ist keine Meinung. Als Gesellschaft ist es an uns, die politischen Fehler der Vergangenheit zu identifizieren, individuelle und kollektive Traumata anzuerkennen, sie zu bearbeiten und die Gesellschaft zu befrieden. Es geht um das Hinhören und Verstehen-Wollen, aber auch darum, klare Grenzen zu ziehen. Denn die Basis eines solchen dialogischen Prozesses kann nur Artikel 1 des Grundgesetzes sein. Sobald Rassismus oder Hass ins Spiel kommen, ist eine Verständigung nicht mehr möglich.

Die Würde des Menschen ist unantastbar. Die Würde jedes Menschen! Diese humanistische Grundannahme, da kann man sicher sein, hätte auch am Anfang einer neuen gesamtdeutschen Verfassung gestanden.