Im Alltag brauchen wir ein Ortsgedächtnis. Morgendlicher Kaffee? Dafür gehen wir zielsicher in die Küche und wissen genau, wo Kaffeemaschine und Tasse zu finden sind. Um das zu leisten, benötigen wir ein mentales Abbild unserer Wohnung und der Dinge darin. Hätten wir dieses Gedächtnis nicht, müssten wir jedes Mal die gesamte Wohnung von Neuem durchsuchen. Wie dieses Ortsgedächtnis genau funktioniert, ist bislang nicht klar.
Nutzen wir eine große mentale Karte für alle Objekte in unserer Wohnung oder haben wir vielmehr verschiedene kleine Karten - für jeden Raum eine? Die Kognitionswissenschaftler Tobias Meilinger und Marianne Strickrodt vom Max-Planck-Institut für biologische Kybernetik in Tübingen sind dieser Frage in einer Studie nachgegangen.
In der Studie testeten die Max-Planck-Forscher mithilfe einer 3D-Brille das Ortsgedächtnis von Versuchspersonen in einer virtuellen Umgebung: Mal in einem offenen, übersichtlichen Raum und mal in verschachtelten Korridoren. In beiden Räumlichkeiten sollten sie sich ein Arrangement aus sieben virtuellen Objekten einprägen. Die Objekte waren in beiden Szenarien exakt gleich verteilt. Die verschachtelten Korridore, den sogenannten Navigationsraum, mussten sich die Teilnehmer erst zu Fuß erschließen, um alle Objekte zu sehen. Im offenen Raum, dem sogenannten Vistaraum, war alles auf einen Blick zu sehen.
Danach wurde abgefragt: Wo war der Teekessel, die Banane, der Hammer? Marianne Strickrodt und Tobias Meilinger prüften, wie schnell und wie gut sich die Personen an die Position der Gegenstände erinnern und in welcher Reihenfolge. "Mit einer virtuellen Welt, wie der in unserer Studie, haben wir die perfekte Kontrolle über die Versuchsbedingungen. So können wir gezielt einzelne Parameter verändern und die Auswirkungen auf die Gedächtnisleistung messen", erklärt die Forscherin Marianne Strickrodt.
Erinnerung soweit das Auge reicht
Die räumliche Gedächtnisspur für die Anordnung der sieben Objekte war davon abhängig, in welchem Raum die Versuchsteilnehmer sie gesehen hatten. Lernten sie in der verschachtelten Korridorumgebung, erinnerten sie sich sofort an Objekte, die sich im gleichen Korridor befanden wie sie selbst im Moment der Befragung. Sie brauchten allerdings länger, um sich Objekte aus dem Nachbarkorridor ins Gedächtnis zu rufen und wiederum noch länger für Objekte, die zwei Korridore entfernt lagen. Der Zugriff auf ihr Ortsgedächtnis verlief also nur schrittweise, Korridor für Korridor.
Personen, die im offenen Raum gelernt hatten, konnten sich hingegen an alle Objekte gleich schnell erinnern und waren flexibler bei der Nachbildung der Objektanordnung. Ein Kontrollexperiment zeigte, dass diese Unterschiede im Aufbau des Ortsgedächtnisses nicht daher rühren, dass die Personen durch den Navigationsraum laufen oder dass sie die Objekte nur nacheinander zu Gesicht bekommen. Sie kommen vielmehr durch die Verschachtelung und begrenzte Sichtbarkeit in den Korridoren zustande.
Für jeden Raum eine Extra-Karte
"Unsere Ergebnisse sprechen dagegen, dass wir eine große, allumfassende mentale Karte von der Umgebung aufbauen aus der wir schnell und flexibel alle Orte herauslesen können. Bildlich gesprochen umschließt unser Ortsgedächtnis für die Kaffeemaschine in der Küche also nicht zwingend den Ort für die Haarbürste im Bad, und umgekehrt. Wollen wir von der Küche aus zur Haarbürste im Bad zeigen, folgt der Zugriff auf unser Ortsgedächtnis Stück für Stück unserer tatsächlichen Lernerfahrung: Erst Küche, dann Flur, dann Bad", fasst Marianne Strickrodt zusammen.
Es gibt einen grundsätzlichen Unterschied, ob wir die Lage von Objekten in offenen Räumen oder in Navigationsräumen lernen. In großen, offenen Räumen fällt es leicht, die Position vieler Objekte als eine Einheit zu erinnern. Gänge, Straßen oder Eingangsbereiche mit großer Übersicht erleichtern es daher, sich zurechtzufinden.
"Die Ergebnisse sind für die Forschung zu den neuronalen Grundlagen der Navigation relevant. Viele bisherige Erkenntnisse wurden innerhalb von offenen Räumen gewonnen. Inwieweit diese auf Navigationsräume übertragbar sind oder ob nach ganz neuen Mechanismen gesucht werden muss, ist eine spannende Frage für zukünftige Studien", sagt der Studienleiter Tobias Meilinger. (MPG CB/HR)