Rezension

"Was ist Liberalismus?" – Eine kluge Begründung von Elif Özem

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In den USA waren bereits am Ende des 18. Jahrhunderts wichtige liberale Verfassungsprinzipien verwirklicht.

Elif Özmen, Philosophieprofessorin in Gießen, liefert mit "Was ist Liberalismus?" eine differenzierte und knappe Begründung, mitunter aber auch zu sehr im "Suhrkamp-Deutsch" gehalten, sprich etwas zu abstrakt und theorielastig. Dabei ist eine solche Einführung gerade in der Gegenwart überaus nötig, vielleicht folgt aber noch ein Publikumsbuch.

Bekanntlich formulierte Winston Churchill einst: "Die Demokratie ist die schlechteste aller Staatsformen, ausgenommen alle anderen." Was er genau damit meinte, ist bis heute umstritten. Eine Deutungsmöglichkeit kann sich darauf beziehen, dass Demokratie durchaus von Widersprüchen geprägt ist. Dazu gehört etwa das zwischen Freiheit und Mehrheitsprinzip bestehende Spannungsverhältnis. Gleichwohl gelang es in einer Demokratie, beide Prinzipien höchstmöglich Wirklichkeit werden zu lassen. Mit einer ähnlichen Aussage endet ein neues Buch: "Alles in allem ist die liberale Demokratie die schlechteste Regierungs- und Lebensform, abgesehen von allen anderen." Geschrieben hat es Elif Özmen, die als Professorin für Praktische Philosophie an der Universität Gießen lehrt. "Was ist Liberalismus?" lautet der schlichte Titel. Genauer wäre vielleicht "Was ist der politische Liberalismus?" gewesen, denn seine ökonomische Dimension ist kein Thema. Der Autorin geht es darin "um die Offenlegung der begrifflichen und normativen Architektur, welche die verschiedenen liberalen Theorieversionen als liberale Theorien trägt" (S. 11).

Cover

Sie will bezogen auf das Liberalismusverständnis keinen bloßen Minimalkonsens präsentieren, denn die bevorzugte Ausrichtung ergibt sich bereits aus dem Namensregister. Am häufigsten kommen Kant und Rawls vor, erst danach Locke und Mill. Die Autorin denkt Demokratie und Liberalismus zusammen, ohne aber die Unterschiede zu ignorieren: "Die Demokratie gibt eine Antwort auf die Frage, wer herrschen soll, wohingegen der Liberalismus darauf antwortet, wo die Grenzen jeder Herrschaft zu ziehen sind" (S. 15). Derartige Differenzierungen durchziehen die ganzen Kapitel, worin auch für den schmalen Band von knapp zweihundert Seiten die Stärken liegen. Sie arbeitet außerdem die Besonderheiten in der Konfrontation heraus, indem jeweils Differenzen zu anderen Richtungen der politischen Theorien betont werden. Die Auseinandersetzung erfolgt dabei immer fair und ohne billige Polemik, verkennt Özmen doch eben die Ambivalenz im Liberalismus nie. Auch dies spricht für die von ihr vorgelegte Einführung wie Legitimationsschrift.

Zunächst einmal werden die als "Familienähnlichkeiten" titulierten Gemeinsamkeiten herausgearbeitet: Freiheit, Individualismus und Gleichheit. Letzteres ist bezogen auf den politischen Bürger, nicht auf den sozialen Status. Danach geht es um die normative Architektur des Liberalismus, bezogen auch hier auf das Individuum und sein Selbst, die Akzeptabilität des Rechts und die dem Liberalismus eigene Unparteilichkeit und Toleranz. Bilanzierend heißt es: "Die liberale Demokratie gründet auf dem normativen Postulat der gleichen individuellen Freiheit aller Menschen. Dieser normative Kern sichert nicht nur die Bedingungen der individuellen Freiheit und Persönlichkeitsentfaltung, primär in der Sprache des Rechts und der Individualrechte, sondern er garantiert auch die friedliche Koexistenz und das kooperative Miteinander der Menschen in einer sozialen und politischen Gemeinschaft" (S. 143). Dann stehen noch Konfliktszenarien zu Pluralismus und Wahrheitsverständnis im Zentrum. Abschließend heißt es: "Im Zweifel für den Liberalismus" (S. 188).

Herausgekommen ist eine differenzierte und kluge Begründung des Liberalismus, es gibt aber auch Einwände zu einer Lücke und der Präsentationsform: Bezogen auf den erstgenannten Aspekt muss konstatiert werden, dass die Ökonomie und damit Verteilungsfragen überhaupt nicht vorkommen. Allenfalls kann man einige Anmerkungen zu Rawls den damit einhergehenden Themen zuordnen. Und dann ist der ganze Band aufgrund seiner Differenzierung mit vielen Einzelaspekten versehen, welche mitunter ausführlicher in den Fußnoten thematisiert werden. Dadurch wirken die einzelnen Sätze und Seiten vollgestopft. Und schließlich bewegt sich die ganze Darstellung auf der Ebene der Theorie, nur selten kommen einzelne Beispiele oder historische Details vor. Gerade angesichts der gegenwärtigen Angriffe auf den politischen Liberalismus, die, wie in der Einleitung zutreffend von Özmen bemerkt, von allen möglichen Seiten kommen, bedarf es aber auch einer eingängigeren und verständlicheren Begründung des politischen Liberalismus.

Elif Özmen, Was ist Liberalismus?, Berlin 2023, Suhrkamp-Verlag, 208 Seiten, 18 Euro

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