Rasterfahndung wegen Kirchensteuern

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Der SPIEGEL 29/2019 berichtet über einen Fall zur Kirchensteuer-Rasterfahndung bis in die DDR-Zeit. Unter der Überschrift "Denen geht es um nichts anderes als Geld" (Online, Paywall) und "In der Seelenkartei" (Print, S. 40–41) schreibt SPIEGEL-Korrespondent Dietmar Hipp über den Fall, in dem eine Frau ihr Leben lang als Konfessionslose lebt und dann mit 58 Jahren erfährt, dass sie als Säugling in der DDR getauft wurde und Kirchensteuer nachzahlen soll. Das Institut für Weltanschauungsrecht (ifw) fordert effektives Handeln des Rechtsstaats für die Betroffene und die Abschaffung der Kirchensteuergesetze.

Rasterfahndung, Verzögerungsrüge und Justizversagen

Die Klage gegen die Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz (EKBO) läuft seit 2015 – mittlerweile seit vier Jahren. Trotz einer Verzögerungsrüge beim Verwaltungsgericht Berlin wurde noch immer kein Verhandlungstermin angesetzt. Zu diesem Missstand hatte das ifw zuletzt auch den zuständigen Berliner Justizsenator Behrendt über die sozialen Medien (auf Twitter, auf Facebook) gefragt:

"Hallo Justizsenator Dirk Behrendt (Bündnis 90/Die Grünen Berlin), die Klage gegen die Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg läuft seit 4 Jahren. Trotz Verzögerungsrüge beim VG Berlin noch immer kein Verhandlungstermin! --> Berlin macht #Rasterfahndung beim Einzug der #Kirchensteuer bis in die DDR-Zeit - wo aber ist der #Rechtsstaat für die Betroffene, sich dagegen zu wehren?

Es geht bei dem Verfahren um die Beendigung der staatskirchlichen Rasterfahndung: denn das Vorgehen der Kirche ist ein Verstoß gegen die Datenschutzgesetze. Die in Berlin gängige Praxis der Ansiedlung der Kirchensteuerstellen in den Finanzämtern ist verfassungswidrig (-->Trennungsgebot Grundgesetz). Überdies geht es um die Frage, ob die Übersendung des kirchlichen Fragebogens in der praktizierten Form als Amtsanmaßung strafrechtlich relevant ist.

Eine Reaktion des Justizsenators ist bislang nicht bekannt.

Der SPIEGEL schreibt: "In den staatlichen Finanzämtern Berlins sind Vertretungen der Kirchensteuerstelle angesiedelt, einer gemeinsamen Einrichtung von katholischer und evangelischer Kirche. Sie forscht im Zweifelsfall in den Taufregistern des Geburtsorts nach versprengten Schäflein. Die Juristin Jacqueline Neumann vom Institut für Weltanschauungsrecht, das auch Michaela Baumann (Anm.: Name geändert) bei ihrer Klage unterstützt, kritisiert diese Nachforschungen in enger Zusammenarbeit von Staat und Kirchen, die es so nur in Berlin gebe. Sie spricht von einer kirchlichen "Rasterfahndung". Krohn-Bräuer von der EKBO erklärt dagegen: Nur wenn es einen besonderen Anlass gebe, einen Umzug oder eine Scheidung, meldeten die Finanzämter Unklarheiten über die Kirchenzugehörigkeit den Kirchenleuten. "Das sind aber keine Ausnahmen", sagt Kritikerin Neumann, "irgendwann einmal findet sich immer so ein Anlass." Und da schon die Taufe eines Säuglings nach Kirchenrecht die Mitgliedschaft begründet, muss der spätere Steuerzahler nachweisen, dass er diese Mitgliedschaft beendet hat."

In diesem Kommentar des Instituts für Weltanschauungsrecht (ifw) werden ausgewählte Fragen des SPIEGEL-Artikels vertieft. Eine ausführliche Falldarstellung findet sich in dem Artikel: "Untergang der Kirchensteuerpflichtigkeit mit dem Untergang der DDR? Der Fall Frau X gegen die Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg".

Warum spricht das ifw von "Rasterfahndung"? Die Rasterfahndung zum Zwecke der Strafverfolgung ist in § 98 a StPO geregelt. Danach dürfen bei Vorliegen zureichender tatsächlicher Anhaltspunkte für eine Straftat von erheblicher Bedeutung Datenbestände (z. B. Kundenkarteien, Melderegister) systematisch nach bestimmten Kriterien (d. h. Rastern) verglichen werden, um den Sachverhalt zu erforschen und den Aufenthaltsort des Täters zu ermitteln. Eine präventive polizeiliche Rasterfahndung darf zur Gefahrenabwehr erfolgen und ist zum Beispiel in § 31 Polizeigesetz NRW geregelt. Das Übermittlungsersuchen ist auf Namen, Anschrift, Tag und Ort der Geburt sowie andere für den Einzelfall benötigte Daten zu beschränken (§ 31 Abs. 2 PolG NRW). Von den Kirchensteuerstellen in den Finanzämtern Berlins werden in vergleichbarer Datenauswertung Personen ermittelt, die zwei Merkmale aufweisen (vgl. Groschopp, Rasterfahndung nach Kirchensteuerflüchtigen, 2006):

a) Taufe als Säugling oder Kleinkind (z. B. in der DDR oder im Ausland)
b) Nichtzahlung von Kirchensteuern

Es herrscht in einigen Punkten Intransparenz über das genaue Vorgehen in der Verquickung von kirchlichen und staatlichen Aufgaben: soweit ersichtlich ist es ein exklusives Verfahren für die Kirchen in Berlin, dass die komplette Akte des Steuerpflichtigen vom Finanzamt an die Kirchensteuerstellen übergeben wird. Die Kirche behält sich dort Prüfungen der subjektiven Kirchenzugehörigkeit vor. In den anderen Bundesländern ist neben der staatlichen Eintreibung der Kirchensteuern (einzige Ausnahme ist teilweise Bayern) auch die Feststellung der Kirchenmitgliedschaft und Kirchensteuerpflicht den Finanzbehörden komplett übertragen worden. Eine Rasterfahndung durch die Finanzbehörden ist aus diesen Bundesländern nicht bekannt.

Fahndung auch im Ausland

Geraten nur ehemalige DDR-Bürger ins Visier der Kirchensteuerstelle Berlin? Nein, auch Ausländer, wie ein weiterer ifw-Fall zeigt: "Warum ein konfessionsfreier Franzose in Deutschland Kirchensteuer zahlt: Der Fall Herr B gegen das Erzbistum Berlin (katholische Kirche)".1 Hier wurde zur Feststellung der Kirchenmitgliedschaft Auskunft aus dem Taufregister bei der Diözese des Geburtsortes des Betroffenen in Frankreich und im Falle der Ermittlung eines Taufeintrages um Übersendung einer Kopie der Taufbescheinigung ersucht. Anstatt sich bei etwaigen Zweifeln betreffend die Religionszugehörigkeit an Herrn B. selbst zu wenden, wurde über die deutschen Grenzen hinweg und unter Verstoß gegen deutsches und europäisches Datenschutzrecht eine Fahndung durchgeführt. Der monatliche Kirchensteuerabzug endete erst, als Herr B. beim Amtsgericht seinen Austritt aus der deutschen katholischen Kirche erklärte, obwohl er nie Mitglied dieses deutschen Kirchensteuerverbandes geworden war. Auch dieser Fall wird derzeit noch juristisch von der Kirche gegen den Betroffenen weiterverfochten.

Ziele des Verfahrens

Doch zurück zur betroffenen ehemaligen DDR-Bürgerin Frau Baumann aus dem SPIEGEL-Fall: Ziel des Verfahrens vor dem Verwaltungsgericht Berlin ist es, die Rasterfahndung der Kirche erstmalig als Verstoß gegen die nationalen und europäischen Datenschutzgesetze zu qualifizieren und die in Berlin gängige Praxis der Ansiedlung der Kirchensteuerstellen in den Finanzämtern als verfassungswidrigen Verstoß gegen das Trennungsgebot zu beenden. Überdies geht es um die Frage, ob die Übersendung des Fragebogens zur Feststellung der Kirchenzugehörigkeit in der praktizierten Form als Amtsanmaßung der Kirche strafrechtlich relevant ist. Denn die Kirche stützt sich insofern auf die Abgabenordnung. Nach der Abgabenordnung ist jedoch lediglich die staatliche "Finanzbehörde" berechtigt, den Sachverhalt zu ermitteln. Darüber hinaus werden in dem Verfahren erstmalig die Frage des Untergangs der behaupteten Kirchensteuerpflichtigkeit mit dem Untergang der DDR sowie die Frage, ob der Körperschaftsstatus der beiden großen Religionsgemeinschaften nach 1990 neu begründet werden musste, problematisiert.

Keine Korrelation von Taufe und formaler Kirchenmitgliedschaft

Es besteht Aufklärungsbedarf, worin der Anreiz der Kirche für eine Beibehaltung dieser Fahndungspraxis angesichts des seit 2015 vor Gericht anhängigen Präzedenzfalles und der schlechten Öffentlichkeitswirkung besteht. Ist es Machtdemonstration gegenüber einzelnen Konfessionsfreien und Atheisten, prinzipielles Beharren auf hergebrachten staatskirchlichen Privilegien, eine höhere Steuerquote oder ein hoher Netto-Wert bei der "Eingemeindung" von Nichtreligiösen als Kirchenmitglieder? Genuin religiöse Gründe (die gleichwohl aus rechtsstaatlicher Sicht unerheblich wären) können es nicht sein. Denn es bleibt für die Klärung der Position der Kirche allemal im Raum stehen, dass für die Korrelation von Taufe und der formalen Mitgliedschaft in der Kirche als Institution bzw. als Körperschaft des öffentlichen Rechts (KdöR) keine im eigentlichen Sinn theologischen Begründungen verfügbar sind.

Überholte Verknüpfung von Taufe und Kirchensteuerpflicht

Der Fall veranschaulicht zudem, welch absurde juristische Sachverhalte in der heutigen Rechtswirklichkeit entstehen, wenn nach dem staatlichen Kirchensteuerrecht die staatliche Kirchensteuerpflichtigkeit allein an die Taufe eines Säuglings oder Kleinkindes anknüpft, von einem automatischen Fortbestand der Kirchenmitgliedschaft auf Lebenszeit ausgeht und die tatsächlichen Entwicklungen im Leben der Betroffenen, wie zum Beispiel das Desinteresse an oder die Entscheidung gegen eine Firmung (katholisch) oder Konfirmation (evangelisch) im Alter der Religionsmündigkeit ab 14 Jahren unberücksichtigt lässt. Die derzeitigen staatlichen Austrittsregelungen tragen dem Willen und dem Selbstbestimmungsrecht des Kirchenmitglieds nicht hinreichend Rechnung, wenn sie die Nichtteilnahme an der Firmung oder der Konfirmation etc. ignorieren. Es lassen sich verschiedene Reformoptionen skizzieren, zum Beispiel eine Kirchensteuerpflicht nur bei Bejahung der Zugehörigkeit durch den Religionsmündigen, das heißt ab dem 14. Lebensjahr (vgl. "Staatliches Kirchensteuerrecht an die Rechtswirklichkeit anpassen" S. 269 ff. in: "Aktuelle Entwicklungen im Weltanschauungsrecht". Herausgegeben von Dr. Jacqueline Neumann, Ri a. D. Dr. Gerhard Czermak, Prof. Dr. Reinhard Merkel, Prof. Dr. Holm Putzke. Nomos Verlag 2019).

Beweislast beim Betroffenen

Der SPIEGEL erwähnt auch den Vorschlag der "Weihnachtsamnestie im Kirchensteuerstreit", den der damalige HVD-Bundesvorsitzende Horst Groschopp bereits im Jahr 2004 an den damaligen EKD-Ratsvorsitzenden Wolfgang Huber sandte. Darauf ging die Kirche nicht ein, trotz des Hinweises, dass das kirchliche Vorgehen in der Kirchensteuerfrage in den neuen Bundesländern den Prozess der deutschen Einheit erschwere. Bislang verhallten diese Appelle in der Kirche vergebens – denn die Rasterfahndung und (finanzielle) Vereinnahmung von Menschen, die seit ihren frühen Kindheitstagen nichts mit der Kirche zu tun hatten, werden bis heute (auch 30 Jahre nach dem Ende der DDR) von der Kirche fortgesetzt. Zwar würde eine Austrittbescheinigung aus Zeiten der DDR der 1960er Jahre Frau Baumann vor der heutigen Kirchensteuerforderung schützen. Die früheren Steuerbescheide (ohne Kirchensteuerfestsetzung) aus den Jahrzehnten des bisherigen Berufslebens der Betroffenen entlasten sie aus Sicht der Kirchensteuerstelle Berlin jedoch nicht. Daraus ergibt sich eine Aufbewahrungspflicht der Austrittsbescheinigung von 60 (!) Jahren. Demgegenüber sind in allen anderen Steuerangelegenheiten die Aufbewahrungspflichten von Steuerunterlagen gesetzlich auf maximal 10 Jahre befristet.

Auch die nachgewiesenen Kirchenaustritte ihrer Eltern als sie ein Kleinkind war, entlasten Frau Baumann vorliegend nicht. Die Kirche geht tatsächlich davon aus, dass die Eltern aus der Kirche austraten und nur Frau Baumann als Kleinkind in der Kirche verblieb. Eine Beweislastumkehr zugunsten der Betroffenen wäre in solchen Fällen angezeigt.

Unterschiedliche Anforderungen bei Kircheneintritt und Kirchenaustritt

Die Schwelle für die Bejahung eines Kircheneintritts ist derzeit weitaus niedriger als die Schwelle für die Annahme eines Kirchenaustritts. Hinsichtlich des Kircheneintritts entschied das Bundesverfassungsgericht (NVwZ 2015, 517): "Abzustellen ist dafür auf den nach dem objektivierten Empfängerhorizont erkennbar gewordenen Willen des Betroffenen. Die Eingliederung in eine Religionsgemeinschaft setzt den wirksam bekundeten positiven Willen des Betroffenen voraus. Eine Eingliederung ist im staatsrechtlichen Bereich dann anerkennungsfähig, wenn sie durch eine positive – wenn auch möglicherweise nur konkludente – Erklärung des Betroffenen legitimiert ist […]. Eine darüber hinausgehende förmliche Beitrittserklärung ist nicht erforderlich […]. Das Bundesverfassungsgericht hat in […] verschiedenen Verhaltensweisen ein Bekenntnis zur betroffenen Religionsgemeinschaft gesehen. Der Wille, einer Religionsgemeinschaft angehören zu wollen, kann in vielfältiger Weise, nicht nur gegenüber der Religionsgemeinschaft selbst, zum Ausdruck gebracht werden."

Auch der Wiedereintritt eines Kirchenmitglieds – sofern keine weiteren innerkirchlichen Voraussetzungen vorgesehen sind – ist durch konkludente Wiederaufnahme möglich. So kann ein solches schlüssiges Verhalten nach der Rechtsprechung zum Beispiel in der kirchlichen Trauung oder der Trauung nach jüdischem Ritus gesehen werden, der Anmeldung von Kindern in kirchlichen Einrichtungen, der Angabe der Religionszugehörigkeit in der Steuererklärung oder der widerspruchslosen Zahlung der Kirchensteuer. Im Gegensatz dazu gilt für den Kirchenaustritt laut Bundesverfassungsgericht (NJW 2008, 2978), "dass die Wirksamkeit eines Kirchenaustritts mit Wirkung für das staatliche Recht an ein förmliches Verfahren gebunden werden kann […]: Das Verlangen nach einer förmlichen Austrittserklärung rechtfertigt sich demnach durch das Bedürfnis nach eindeutigen und nachprüfbaren Tatbeständen als Grundlage der Rechts- und Pflichtenstellung des Betroffenen, soweit sie in den weltlichen Rechtsbereich hineinwirkt."

Wenn tatsächliche Umstände und konkludente Verhaltensweisen zulasten eines Betroffenen hinsichtlich der Heranziehung zur Kirchensteuer berücksichtigt werden, müssten tatsächliche Umstände und konkludente Verhaltensweisen allerdings auch zugunsten eines Betroffenen berücksichtigt werden. Anderenfalls läge ein Verstoß gegen das verfassungsrechtlich verbürgte Verbot der Ungleichbehandlung von wesentlich gleichen Sachverhalten vor. Warum das Bundesverfassungsgericht für den Eintritt kein formalisiertes Verfahren fordert, aber für den Austritt ausschließlich ein solches anerkennt, hat es – soweit ersichtlich – bisher nicht erläutert.

Melderegistereinträge werden nicht anerkannt

Sofern nach § 19 Kirchenmitgliedschaftsgesetz (KMG) die Kirchenmitgliedschaft vermutet wird, wenn die Daten des staatlichen oder kommunalen Melderegisters entsprechende Angaben enthalten, muss umgekehrt auch die Vermutung gelten, dass keine Kirchenmitgliedschaft besteht, wenn die Daten des staatlichen oder kommunalen Melderegisters, wie hier, keine entsprechenden Angaben enthalten. Als Beleg dafür, dass Frau Baumann zum Zeitpunkt ihres Umzugs nach Berlin im Jahr 1972 nicht mehr Kirchenmitglied war, lässt sich zudem die Tatsache anführen, dass sie nach ihrem Zuzug nicht von der Gliedkirche zur Zahlung von Kirchensteuer im Land Berlin herangezogen worden ist. Dies deshalb, weil sie wegen des gemeinsamen Austritts mit ihren Eltern nicht mehr als Kirchenmitglied im Gemeindegliederverzeichnis (§ 14 Abs. 1 S. 1 KMG) geführt worden ist – wie die EKBO in ihrem Widerspruchsbescheid selbst ausführt –, obwohl die Gliedkirchen nach § 17 Abs. 1 KMG einen Datenaustausch gewährleisten. Auch in den kircheninternen Mitgliederverzeichnissen ist Frau Baumann nicht als Mitglied geführt worden und auch die Melderegisterauskunft weist keine Kirchenmitgliedschaft auf. Doch auch dies lässt die EKBO – zugunsten eines Betroffenen – nicht gelten.

Untergang der Kirchensteuerpflicht durch den Untergang der DDR

Die Rechtsvorgängerin der EKBO hatte ihren Körperschaftsstatus in der DDR verloren. Daher ist Frau Baumann auch nicht mehr den aus dem Körperschaftsstatus fließenden rechtlichen Anforderungen unterworfen. In dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht Berlin stützt sich die Betroffene daher hilfsweise darauf, dass ihre von der EKBO behauptete Kirchensteuerpflichtigkeit durch den Untergang der DDR ebenfalls untergegangen ist und eine Kirchensteuerpflicht der Klägerin gegenüber dem Staat ab dem 3. Oktober 1990 hätte neu begründet werden müssen durch eine entsprechende formale Erklärung. Spätestens mit Art. 39 Abs. 2 S. 1 der DDR-Verfassung von 1968 ist der Körperschaftsstatus der beiden großen Religionsgemeinschaften und damit auch das Recht zur Erhebung von Kirchensteuern endgültig entfallen, um die Privilegierung der Kirchen zu beenden. Durch die Entziehung der Körperschaftsstellung durch staatlichen Hoheitsakt wurde der Status der Kirchen generell auf das Niveau normaler privatrechtlicher Vereinigungen reduziert. Die bis dahin öffentlich-rechtlich verfassten Kirchen wurden in die private Rechtsform überführt. Infolgedessen war die Kirchensteuer juristisch lediglich als Naturalobligation zu qualifizieren, als eine nicht justiziable Verbindlichkeit (vgl. Bohländer diesseits 2005, 13, 14). Da folglich erst nach der Wiedervereinigung der Körperschaftsstatus in den neuen Bundesländern förmlich neu begründet wurde, konnte zumindest bis zu diesem Zeitpunkt keine Art von Kirchensteuerpflicht auf den neuen Gesamtstaat übergehen. Unabhängig von der Frage einer fortdauernden Mitgliedschaft oder eines Austritts von Frau Baumann bestand jedenfalls keine Verpflichtung mehr zur Zahlung von Kirchensteuern.

Drei Vorschläge für rechtspolitische Reformen

Der vom SPIEGEL herausgehobene ifw-Fall von Frau Baumann unterstreicht die Notwendigkeit einer Reform des staatlichen Kirchensteuerrechts. Staatskirchliche Privilegien des Steuereinzugs und des Informationsaustausches waren bereits früher verfassungswidrig, heutzutage widersprechen sie zudem noch der gesellschaftlichen Realität und der Rechtswirklichkeit: über 75 Prozent der Bevölkerung Berlins sind nicht Mitglied der evangelischen oder katholischen Kirche. Der Anteil der Kirchenmitglieder an der Bevölkerung sinkt bundesweit seit Jahrzehnten. Eine Trendumkehr ist unwahrscheinlich (vgl. fowid-Analyse). Daher empfiehlt das ifw die folgenden drei Reformen, wobei die ersten beiden Vorschläge durch die Umsetzung von Vorschlag drei hinfällig würden:

  1. Wenn das Land Berlin in kirchenstaatlicher Tradition schon eine Rasterfahndung beim Einzug der Kirchensteuer bis in die DDR-Zeit (im ifw-Fall bis zu 60 Jahre in der Vergangenheit) ermöglicht, sollte es wenigstens sicherstellen, dass der Rechtsstaat effektiv funktioniert. Wo aber ist der Rechtsstaat für die betroffene ehemalige DDR-Bürgerin Frau Baumann, um sich gegen die staatskirchliche Rasterfahndung und die Steuerfestsetzungen zu wehren? Spätestens eine Verzögerungsrüge an die Berliner Justiz sollte Beachtung finden. Bislang schweigt auch Justizsenator Dirk Behrendt (Bündnis 90/Die Grünen Berlin) zu diesem Justizversagen. Wenn der Rechtsstaat überfordert ist, und die Politik dem nicht Abhilfe schafft, sollte sie zumindest in Zukunft diese Gerichtsfälle dadurch vermeiden, dass
  2. das Land Berlin die Ansiedlung der Kirchensteuerstellen in den Finanzämtern beendet und auf die Einhaltung des Trennungsgebots von Staat und Kirche achtet. Verstöße wie im Fragebogen der Kirchensteuerstelle sind zu ahnden. Weitreichender und wichtiger:
  3. Berlin (wie auch die anderen Bundesländer) sollte die Kirchensteuergesetze abschaffen. Die kirchlichen Mitgliedsbeiträge sind so einzutreiben wie sich das in einem säkularen Staat gehört – durch die Kirche selbst. Damit kann der Staat Missbrauch und Fehlentwicklungen präventiv und strukturell vermeiden. Per einfacher Mehrheit ist im Berliner Abgeordnetenhaus durch die Regierungskoalition (SPD, Linke, Grüne) die Abschaffung des Gesetzes "Über die Erhebung von Steuern durch öffentlich-rechtliche Religionsgemeinschaften im Land Berlin (Kirchensteuergesetz – KiStG) vom 1. Januar 2009" möglich. Über die genannten Parteien hinaus gibt es auch in der FDP Stimmen, die das Privileg des staatlichen Einzugs der Kirchensteuer abschaffen wollen. Nicht zuletzt gibt es auch unter gläubigen Christen und Kirchenmitgliedern Fürsprecher für eine Beendigung des deutschen Sonderweges beim staatlichen Einzug der Kirchensteuer.

Erstveröffentlichung auf der Webseite des Instituts für Weltanschauungsrecht (ifw)

  1. Siehe hierzu auch: "Wie ein Franzose in Berlin Kirchensteuern zahlt" ↩︎