Religion und republikanischer Staat

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Reichstagsgebäude in Berlin, Sitz des Deutschen Bundestags
Reichstagsgebäude in Berlin, Sitz des Deutschen Bundestags

Ein grelles Schlaglicht auf die Bewusstseinslage in Sachen Staat und Religion wirft die Debatte über die Äußerungen des AfD-Politikers Albrecht Glaser, dem von den anderen Fraktionen des Bundestages das Amt des Alterspräsidenten verweigert wurde, weil er "dem Islam die Religionsfreiheit absprechen" wolle. Man darf wohl konstatieren, dass der Mangel an Sachkenntnis in dieser immerhin parlamentarischen Debatte allenfalls von ihrer Peinlichkeit überboten wurde, was nichts damit zu tun hat, wie man zur Person Glaser stehen mag.

Nicht weniger Anlass zu einer Reflexion dieser Bewusstseinslage lieferte die Rede, die die Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel zum Reformationsjubiläum am 31.10.2017 gehalten hat (der hpd berichtete höchst zutreffend unter dem Titel "Religiöse Marmelade"). Dabei geht es im Besonderen um die Passage:

"Die (staatliche) Beteiligung an der Vorbereitung und Durchführung des Reformationsjubiläums war und ist Ausdruck unseres Bestrebens, über dieses Jubiläum hinaus auch allgemein ein reiches und lebendiges religiöses Leben in Deutschland zu ermöglichen. Dabei gilt der verfassungsrechtliche Schutz der Glaubens- und Bekenntnisfreiheit sowie der ungestörten Religionsausübung für alle Gläubigen und jede Religionsgemeinschaft."

Deutliche Indizien dafür, dass sich in Bezug auf das Verhältnis Demokratie / Republik / Religion inzwischen so erstaunliche Ansichten verfestigt haben, dass es einer Selbstvergewisserung bedarf.

Res publica – das ist die "öffentliche Sache" im Sinne einer Vereinigung zur befriedigenden Regelung der "Angelegenheiten aller", beruhend auf Rousseaus Begriff des "allgemeinen Volkswillens" als Ausdruck staatlicher Legitimation. Die Staatsform der Neuzeit, die den Feudalismus mit seiner Herrschaftsgarantie von Einheit von Thron und Altar ablöste. Einer Interessengruppe dabei eine "Übermacht", also einen dezidiert größeren Einfluss auf Angelegenheiten der Gemeinschaft über den anderer gesellschaftlicher Gruppen hinaus einzuräumen, widerspricht dem republikanischen Gedanken, ja, stellt eine Gefahr für den Zusammenhalt und den inneren Frieden dessen dar, was wir heute die "Zivilgesellschaft" nennen (warum nennen wir sie wohl so?). Dieser Grundgedanke zielte von Anfang an besonders auf das Verhältnis von Staat und Kirche, den im Feudalismus traditionell verbündeten, jedoch unter der republikanischen Flagge geschiedenen Kräften. Die amerikanische Unabhängigkeitserklärung ist ein beredeter Ausdruck dessen.

Persönliche Bekenntnisfreiheit und Garantie der freien Religionsausübung

Der Gedanke der persönlichen Bekenntnisfreiheit, die dem Individuum zu gewähren sei, entstand später als die Idee der Republik selbst, mit den aufklärerischen Menschenrechtsideen des 18. Jahrhunderts. Nicht etwa brachte Bekenntnisfreiheit die Menschenrechte hervor! Ursprünglich bedeutete "Religionsfreiheit" nur die schon vom Augsburger Religionsfrieden garantierte Möglichkeit, aus Glaubensgründen das Land zu verlassen und sich woanders ansiedeln zu können, das "privilegium emigrandi". Die Regel war nach wie vor das "cuius regio, eius religio", die selbstverständliche Dominanz des Bekenntnisses des Landesherrn, die Ausnahme die Aussiedlungsfreiheit – als Religionsfreiheit "verkauft".

Das Verhältnis Staat / Kirche wurde demgemäß zeitlich zuerst von den Grundgedanken der republikanischen Konstitution bestimmt, die Ausformungen persönlicher Bekenntnisfreiheit des Individuums sind später hinzugetreten. Der Staat macht sich nicht gemein mit Glaubensgemeinschaften, garantiert aber dem Einzelnen das persönliche Bekenntnis und die zu dessen Verwirklichung notwendigen Rechte. Zwei Dinge, die zu unterscheiden sind und die auch unser geltendes Grundgesetz hinreichend präzise unterscheidet – und bei denen das Eine die Voraussetzung für das Andere ist.

Im Gegensatz zu dieser Sachlage, die klar zwischen der Abwehr kirchlichen Einflusses auf staatliche Belange und der Garantie persönlicher Rechte im Rahmen der Bekenntnisfreiheit unterscheidet, scheinen auf dem Markt der Ansichten diese beiden Sphären heillos verwischt zu sein und sich unter dem Begriff einer nicht näher definierten Religionsfreiheit etwas anscheinend Grenzenlos-Unverhandelbar-Imaginäres herauszubilden. Zunehmend geht die wichtige Unterscheidung zwischen den individuellen Rechten zur Bekenntnisfreiheit und den staatskirchenrechtlichen Aspekten in der Debatte verloren, ja, inzwischen werden die Inhalte der Individualrechte Religionsgemeinschaften, gar abstrakten Glaubenslehren zugeschrieben (DAS Christentum, DER Islam als Träger von "Religionsfreiheit"). Genau dies geht fehl.

Der Versuch einer Selbstvergewisserung kann auf einen historischen Rückblick nicht verzichten.

Kaiserzeit und Weimarer Reichsverfassung

In Deutschland fanden die Prinzipien des von religiösen Überzeugungen wie von Institutionen unbeeinflussten Staates ihre Verwirklichung erst mit der Weimarer Reichsverfassung (mit der dann auch gleich die zweite Säule des Feudalismus, der Adel, abgeschafft wurde). Vorher – im Kaiserreich – war die evangelische Kirche die de-facto-Staatskirche (der preußische Kaiser war der oberste Landeskirchenherr). Mit der katholischen Kirche hatte das Kaiserreich bekanntlich so seine Schwierigkeiten. Wir sehen hier eine äußerst ambivalente Situation, bestimmt von nationalistischen Überlegungen – in Bezug auf die evangelische Kirche immer noch eine Ausformung des "cuius regio", mit Blick auf die katholische Kirche das entschiedene Eintreten gegen einen klerikalen Einfluss auf staatliche Belange.

Von daher wird es verständlich, dass der Bruch der Weimarer Verfassung mit der Staat-Kirchen-Union durchaus nicht in voller Konsequenz durchgeführt wurde. Die Kirchen merkten in den zum Art. 137 WRV folgenden Verhandlungen schnell, dass ihre Position durchaus nicht so geschwächt wurde, wie sie zunächst befürchtet hatten. Da die Grundgedanken der Weimarer Verfassungsgeber zur "Entstaatlichung der Kirchen" und "Entkirchlichung des Staates" bis heute durchwirken, sei hierauf ein näherer Blick gestattet.

Art. 136 WRV kannte explizit den Begriff der "Religionsfreiheit", erstmals im Sinne der Ausübung eines individuellen Rechts, und zwar primär als Schutzrecht gegenüber dem Staat im Sinne einer negativen Religionsfreiheit. Daraus ergibt sich eine wichtige Schlussfolgerung zum Verhältnis Staat / Religion (nicht Staat / Kirche, dazu gab es den Art. 137 WRV): Das gewährte Schutzrecht beinhaltet implizit die Unmöglichkeit jeder staatlichen Entscheidung über die "Zulässigkeit" einer Religion, also auch zu einem "Werturteil" über ein religiös-weltanschauliches Ideengebäude. Was bereits ein wichtiges Schlaglicht auf die einleitend erwähnten Anlässe zu diesem Beitrag wirft.

Man denkt heute wie selbstverständlich beim durch die WRV eingeführten verfassungsrechtlichen Begriff der Religionsgemeinschaften an die Großkirchen. Es verwundert deshalb bei einem Blick in die Historie zunächst, dass es erst einer Sondierung durch die Großkirchen beim Verfassungsgeber bedurfte, um klarzustellen, dass sie selbst durchaus auch mit dem Begriff gemeint waren. Beide – evangelische wie katholische Seite – empfanden es durchaus nicht als sonderlich passend, nun plötzlich in dem sehr allgemein gehaltenen Begriff der "Religionsgemeinschaft" aufzugehen. Und in der Tat lag hier ein zentraler Punkt, der heute völlig aus dem Blick geraten ist: Mit den "Religionsgemeinschaften" beabsichtigte die WRV eine bewusst weite Fassung des Begriffs über die etablierten Großkirchen hinaus, ein Postulat neutralen religiösen Pluralismus, den die Großkirchen insofern – durchaus zutreffend – als die entscheidende Schwächung ihrer Position durch die WRV empfanden.

Die expliziten Regelungen des Art. 137 zum sogenannten "Staatskirchenrecht" hatten aber auch einen Hintergrund, der heute – wo die Position der Religionsgemeinschaften vielfach nur unter dem Gleichbehandlungsaspekt gesehen werden – regelmäßig übersehen wird: Es sollte dem Staat vorbehalten bleiben, nach seinem Ermessen zu entscheiden, welchen Gemeinschaften er mit den Rechten einer Körperschaft des öffentlichen Rechts ausstatten wollte und welche nicht. Die Weimarer Verfassungsväter wollten es durchaus ihrer Entscheidung vorbehalten, inkompatiblen Glaubensgemeinschaften jedenfalls einen ausdrücklichen rechtlichen Status zu verweigern. Immerhin wahrt das Bundesverfassungsgericht noch diese Position im Kern, indem über es über die Formalvoraussetzungen einer Anerkennung als öffentlich-rechtliche Körperschaft hinaus ausdrücklich "Rechtstreue der Gemeinschaft im Hinblick auf das Grundgesetz und die verfassungsgemäße Ordnung" verlangt. Immerhin… Der öffentliche Diskurs lässt diesen Aspekt vielfach vermissen.

Mit der Weimarer Reichsverfassung war die Trennung Staat / Kirche damit einerseits festgeschrieben, andererseits nicht konsequent durchgeführt. Dies zeigt der Artikel 137 WRV, der teilweise Garantien für die Religionsgemeinschaften enthielt, teilweise eine Fortführung der Trennung von Staat und Kirche "auf die lange Bank schob" – was wir heute, hundert Jahre später, ja schmerzlich als anhaltendes Faktum erleben. Wobei man der Gerechtigkeit halber nicht übersehen sollte, dass sich die junge Weimarer Republik an Dingen wie Ablösungszahlungen an die Großkirchen auch nicht gleich völlig überheben wollte – mehr als verständlich angesichts des Versailler Vertrages, dem man sich damals gegenüber sah.

Obwohl die Bestimmungen der WRV weitaus schärfer im Sinne eine Säkularisierung des Staates hätten ausfallen können, brach bei den Großkirchen nicht gerade Begeisterung aus. Man muss im Auge behalten, welchen sozio-kulturellen Einschnitt gleichwohl die WRV bedeutete. Der entscheidende Bruch gegenüber dem Kaiserreich war vollzogen. Einer Staatskirche wurde eine klare Absage erteilt. An das Postulat der Kaiserzeit zur "besonderen Bedeutung des Christentums für Staat, Kultur und Gesellschaft" war nicht mehr zu denken. Damit war der Anspruch dahin, im Gleichklang mit dem Staat konkret auf eine "Verchristlichung der gesamten Gesellschaft" hinzuwirken. Und damit auch der vor allem der evangelischen Kirche bislang selbstverständliche Anspruch aus dem Kaiserreich auf eine Definitionsmacht über die "Leitkultur". Der Staat versagte sich jede "Herrschaft über Ideen" und stellte sich als Garant einer Gemeinschaft gleicher Teilhabe dem vielzitierten Anspruch, sich auf Voraussetzungen zu stützen, die er selbst nicht garantieren kann – nämlich auf den republikanischen Konsens aller Bürger guten Willens, die gegenseitige Achtung gleicher Partizipationsrechte der Mitbürger und die allgemeine Bereitschaft zur aktiven Mitarbeit an der Gestaltung von Staat und Gesellschaft. Und eben nicht, wie das Böckenförde-Diktum immer fälschlich interpretiert wurde, auf die Annahme einer letztlich doch für unverzichtbar gehaltenen Transzendenz. Staat und Gesellschaft emanzipierten sich in "dieser Welt", der "ideelle Säkularismus" etablierte sich.

Grundgesetz

Man sollte nicht vorschnell annehmen, in Sachen Religion und Staat unterscheide sich das Grundgesetz nicht groß von der Weimarer Reichsverfassung. Diese oft selbstverständlich geäußerte Meinung beruht wohl vor allem darauf, dass die Inkorporation des Art. 137 WRV, das sogenannte "Staatskirchenrecht" in diesem Sinne (über-)interpretiert wird. Übersehen wird bei alledem die völlig neue Ausformung konkreter individueller Rechte zur Bekenntnisfreiheit und zur Religionsausübung durch das Grundgesetz in klarer Abgrenzung zum "Staatskirchenrecht", als Garantierechte deutlich schärfer akzentuiert als das passive Schutzrecht der negativen Religionsfreiheit in Art. 136 WRV.

Die Protokolle des Verfassungskonvents auf Herrenchiemsee und insbesondere des Parlamentarischen Rates zum Grundgesetz zeigen deutlich diese Ausrichtung auf individuelle Rechte. Äußeres Zeichen dessen ist das Aufgehen des (als passives Schutzrecht gestalteten) Art. 136 WRV in als aktive Garantierechte ausgeformten Einzelrechten, die klar dem Individuum zugeschrieben werden und in keiner Weise eine Religionsgemeinschaft oder gar den ideellen Begriff der "Religion" selbst betreffen. Ebenfalls nicht übersehen werden sollte, dass nur eine solche Gestaltung eine Gleichstellung religiöser und weltanschaulicher Bekenntnisfreiheit überhaupt möglich macht. Unleugbar sah hier die verfassunggebende Versammlung den Kernpunkt der Neugestaltung der religiösen Frage und nicht im Staatskirchenrecht. Bezeichnenderweise kommt im Grundgesetz das Wort "Religionsfreiheit" nicht vor.

Die immer so problematisierte Frage nach den Grenzen der individuellen Bekenntnisfreiheit und des Rechts der freien Religionsausübung ist vor diesem Hintergrund nicht so schwer zu beantworten. Die Garantie des persönlichen Bekenntnisses ist der Staatlichkeit inhärent, die persönliche Religionsausübung ist ein Kreis innerhalb des Kreises der republikanischen Staatlichkeit - denn wäre das nicht so, welchen Sinn und Gehalt hätte sonst eine staatliche Garantie derselben? Er kann nichts garantieren oder schützen, was er selbst transzendiert. Woraus sich zwingend ergibt, dass die Grenzen dieser Garantie dort liegen, wo sich konkrete Handlungen einzelner Personen gegen den Garanten (den Staat) selbst oder gegen gleichwertige Rechte anderer Individuen wenden. Staatsschädigendes oder drittschädigendes konkretes Handeln ist nicht hinnehmbar, denn die persönlichen Rechte zur Religionsausübung weisen nicht über die Schutzpflichten des Staates sich selbst oder Dritten gegenüber hinaus.

Man darf nicht vergessen, dass zur Zeit der Beratungen zum Grundgesetz "die Kirchen" in den Augen vieler Mütter und Väter des Grundgesetzes durchaus diskreditiert waren und von schon von daher kaum Neigung bestand, mehr zu tun, als das "Staatskirchenrecht" von 1919 schlicht zu perpetuieren – durch die Inkorporierung des Art. 137 WRV. Auch in der Situation der jungen Bundesrepublik muss man dies als einen Kompromiss verstehen, aus ganz ähnlichen Gründen wie im Jahre 1919. Nicht zu übersehen ist dabei auch, welche Rolle beim Wunsch, in Sachen Staatskirchenrecht (zunächst) den status quo zu erhalten, das ungelöste Problem des fortbestehenden Reichskonkordats von 1933 gespielt haben dürfte. Kaum jemand dürfte sich angesichts dessen und der damals jungen Vergangenheit (und unsicheren Zukunft) zu einer radikalen Neuregelung des Staatskirchenrechts durch das neue Grundgesetz berufen gefühlt haben.

Debatte "Religionsfreiheit für die Religion"?

Es sollte damit deutlich geworden sein, dass die republikanische Grundordnung der Weimarer Reichsverfassung genau wie die des Grundgesetzes die Gewährung einer "Religionsfreiheit" an eine Religion als ideellem Gebilde nicht kennt. Der Bereich des Art. 4 GG mit seinen konkreten Garantien spricht keine "Religion" an, sondern den einzelnen Träger eines Bekenntnisses bzw. einer weltanschaulichen Überzeugung. Art. 4 regelt im Rahmen der Grundrechte Individualrechte für natürliche Personen, und zwar eine Reihe von Einzelrechten, von der Bekenntnisfreiheit (der einzelne darf nicht wegen seines Bekenntnisses belangt werden, wohl aber, wenn er mit Berufung auf dieses Bekenntnis gegen geltendes Recht verstößt) bis zur Freiheit der Bekenntnisausübung (die als solche ebenfalls nicht den Schutz einer imaginären "Religionsfreiheit" genießt, sondern nur das konkrete Tun der einzelnen Person schützt - und dieses konkrete Tun steht natürlich ebenfalls unter der Grenzziehung des Rechts, insbesondere der Straf- und Ordnungsgesetze).

Auch im sogenannten Staatskirchenrecht des Art. 137 WRV, inkorporiert in Art. 140 GG, taucht ein Abstraktum "Religion" als Träger von Rechten nirgends auf – die Bestimmungen an dieser Stelle regeln materiell-institutionelle Beziehungen zwischen Religionsgemeinschaften (nicht Religionen) und dem Staat. Wir erinnern uns daran, dass schon in der WRV der Gegenpol zur persönlichen Glaubens- und Bekenntnisfreiheit der Abschied des Staates von einer transzendenten Identität war – die Verwirklichung des ideellen Teils der Säkularisierung sozusagen.

Glasers wie Merkels Unzulänglichkeit liegt also darin, nicht ausreichend zwischen Religion als Gedankengebäude und den Voraussetzungen und Grenzen einer Religionsausübung von Individuen unterschieden zu haben. Darin, nicht erkannt zu haben, dass man ein ideelles Konstrukt wie eine Religion oder eine Ideologie weder tatsächlich noch unter republikanisch-rechtsstaatlichen Aspekten "verbieten" oder "erlauben" und deshalb auch nicht als Träger von "Rechten" ansehen kann. Beide versuchen mit ihren völlig fehlgehenden Ausführungen, den staatlichen Verzicht auf einen transzendenten Anspruch, die ideelle Seite der Säkularisierung, aufzuheben – der eine negativ, die andere positiv gefärbt. Glasers "negative" Unzulänglichkeit wurde allerdings von den – mehrheitlichen – konträren politischen Kräften in der konstituierenden Sitzung des 19. Bundestages in einer völlig die Verfassungslage verfehlenden Weise beantwortet: Indem sie nämlich die gleiche falsche Position bezogen und ebenfalls ein Recht auf Religionsfreiheit für Religionen imaginierten, nur eben eine andere Folgerung daraus zogen als Glaser. Sowohl für Glasers Position als auch für die Gegenposition der großen Mehrheit des deutschen Bundestages ist das Bonmot anwendbar, dass beide jeweils so falsch seien, dass nicht einmal das Gegenteil wahr sei.

Und nun?

Was zeigt uns das alles für unsere Gegenwart und Zukunft in einem republikanischen Staatsgebilde, für die Zielsetzung einer Humanisierung der Gesellschaft? Was sagen uns solche Verirrungen in die Gefilde längst überwunden geglaubter transzendenter religiöser Überhöhung des Staates? Was haben wir von einer politischen Klasse zu erwarten, die weitgehend kritiklos offenbar nicht nur den "materiellen" Teil der Säkularisierung aufhalten oder gar zurückdrehen, sondern gar den "ideellen" Teil der Säkularisierung wieder zurückholen will? Und sich der Voraussetzungen und Folgen solcher Handlungen offenbar gar nicht bewusst ist?

Die angestammten Großkirchen allerdings scheinen in diesen Tendenzen die Chance zu sehen, das Thema Religion unter staatlicher Assistenz wieder stärker in der zivilgesellschaftlichen Bedeutung zu verankern, Manche Anzeichen deuten darauf hin, dass nach Ansicht der Kirchen der aufstrebende Islam dabei die Rolle einer "Partnerreligion" übernehmen und helfen könnte, die inzwischen bedrohlichen Trends einer Abkehr von den Religionsgemeinschaften umzukehren. Dass alle Beteiligten dabei auf die lockenden Privilegien des unantastbar scheinenden de-facto-Staatskirchenrechts schauen, ist offensichtlich.

Im Interesse des Erhalts – wenn nicht der Wiederherstellung – eines friedlichen republikanischen Pluralismus muss solchen spaltenden Tendenzen Einhalt geboten werden. Womit wir bei den Grundsatzüberlegungen des Anfangs wieder angekommen wären. Die wichtigsten Handlungsoptionen liegen auf der Hand: Den Bestrebungen der Religionsgemeinschaften nach Erhalt und womöglich Ausweitung ihrer Privilegien auf der Grundlage des Art. 140 GG muss durch deren Abschaffung begegnet werden. Es gehört absolut nicht zum Kerninhalt republikanischer Staaten, Religionsgemeinschaften und auch nicht Weltanschauungsgemeinschaften einen de facto öffentlichen Status zu geben, ihnen mehr als ein Selbstverwaltungsrecht einzuräumen und sie zudem auch noch zu alimentieren.

Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Grundsatzentscheidung vom 14.12.1965 genau diese Haltung eingenommen, was eigentlich nicht anders gedeutet werden kann als eine Aufforderung zur Beendigung des Staatskirchenrechts-Kompromisses des Art. 140 GG. Es führte aus:

"Das Grundgesetz legt durch Art. 4 I, Art. 3 III, Art. 33 III GG sowie durch Art. 136 I und Art. 137 I WRV in Verbindung mit Art. 140 GG dem Staat als Heimstatt aller Staatsbürger ohne Ansehen der Person weltanschaulich-religiöse Neutralität auf. Er verwehrt die Einführung staatskirchlicher Rechtsformen und untersagt auch die Privilegierung bestimmter Bekenntnisse." (BVerfGE 19, 248 – 253)

Dass diese ganz eindeutige Aussage inzwischen leider auch durch das gleiche Gericht in hohem Maße aufgeweicht wurde – z.B. durch die Annahme einer "grundsätzlichen Religionsfreundlichkeit" von Legislative und Exekutive und der Bestätigung der kirchenarbeitsrechtlichen Privilegien – ist eine andere Geschichte, die unsere Überlegungen an dieser Stelle nur noch dringlicher machen.

Die Religionsgemeinschaften sollen Player im Kräftespiel der pluralistischen Gesellschaft sein wie jede Interessenvereinigung – aber nicht mehr und auch nicht weniger und auch das nur im Rahmen ihrer tatsächlichen gesellschaftlichen Relevanz, nicht einer Fassade davon. Sie sollen am Diskurs teilnehmen, aber keine Position erhalten, um diesen privilegiert zu prägen. Um eine hochaktuelle Aussage zu zitieren: Säkularisierung ist die Lösung! Wie Joachim Kahl schon vor Jahrzehnten formulierte: Nur ein weltanschaulich strikt neutraler und paritätischer Staat fungiert als Instrument aller und garantiert die Religionsfreiheit (Kahl 1968).

Nach Abschluss des Textes las der Verfasser im Zusammenhang mit der Anerkennung des Humanistischen Verbandes Deutschland als den Religionsgemeinschaft gleichgestellter Körperschaft durch den Berliner Senat, folgende Äußerung der kirchenpolitischen Sprecherin der CDU-Fraktion im Abgeordnetenhaus, Cornelia Seibeld: "Ich halte die Gleichstellung mit den Kirchen nicht für zielführend. Nicht jedem Verband, der sinnvolle Aufgaben übernehme, könne eine Anerkennung als Öffentlich-Rechtliche Körperschaft zuteil werden. Auch zeigen Forderungen wie die nach einem humanistischen Feiertag an den Schulen, dass der humanistische Gedanke, der Deutschland mitgeprägt hat, zu einer Anti-Religion genutzt wird." (Die Tagespost, 21.11.2017). Ein in mehrfacher Hinsicht verstörender Diskussionsbeitrag.

Bedarf es noch weiterer Belege, dass demokratisch-republikanische Grundlagen in Gefahr sind, in einem Wust von Unwissenheit und lärmender Parteinahme der Politik "für Religion" unterzugehen? Was wir hier vernehmen, ist der Ruf nach staatlichem Gleichklang mit einer christlichen Leitkultur, was zeigt, dass offenbar die Garantien der individuellen Religionsfreiheit nicht ernst genommen werden – denn die strikte staatliche Neutralität ist Spiegelbild und Voraussetzung der Garantie dieser Rechte.