Kommentar

Solidarität als Zumutung – Wie die EU ihr Asylsystem semantisch entkernt

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Symbolbild
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Die EU hat einen neuen Mechanismus zur "Solidarität" in der Migrationspolitik beschlossen. Was nach Fortschritt klingt, ist in Wahrheit ein bürokratisches Entlastungsinstrument, das die Dysfunktionalität des europäischen Asylsystems nicht behebt, sondern neu verteilt – semantisch aufbereitet, politisch resigniert.

Deutschland etwa darf sich bis Ende 2026 von der Pflicht befreien lassen, Migranten aus anderen EU-Staaten aufzunehmen. Begründung: Man sei "überlastet". Auch Belgien, Frankreich und die Niederlande gehören zu dieser Gruppe. Österreich, Polen und andere dürfen sich teilweise entlasten lassen. Dass Polen überhaupt in einem Solidaritätsmechanismus auftaucht, ist eine semantische Kuriosität – das Land hat sich den EU-Vereinbarungen zu Asylverfahren seit jeher verweigert. Aber offenbar reicht es, sich selbst als überfordert zu erklären, um von Solidaritätspflichten befreit zu werden.

Gleichzeitig dürfen Griechenland, Zypern, Spanien und Italien bis zu 30.000 Asylbewerber:innen jährlich an andere Staaten weitergeben. Das klingt nach Entlastung – ist aber faktisch eine Verlagerung der Verantwortung, ohne strukturelle Reform. Die Dublin-Regelung bleibt unangetastet, die Außengrenzenstaaten bleiben überfordert, und die Idee einer gemeinsamen Asylpolitik wird weiter zur Phrase.

Besonders brisant: Der neue Mechanismus bestätigt indirekt auch die bisherige Praxis der Bundesregierung, Asylbewerber auf deutschem Boden ohne Prüfung und Verfahren zurückzuweisen – eine Praxis, die von Verwaltungsgerichten mehrfach als rechtswidrig eingestuft wurde. Innenminister Dobrindt, der diese Linie verteidigt, darf sich nun durch Brüssel bestärkt fühlen. Deutschland bekommt seine rechtswidrige Praxis vergoldet.

Die Süddeutsche Zeitung titelt: "Deutschland kann sich von der Solidarität befreien lassen". Das ist nicht nur semantisch bemerkenswert, sondern moralisch entlarvend. Solidarität wird hier nicht als ethisches Prinzip verstanden, sondern als administrative Last. Man kann sich von ihr "befreien", wie von einer lästigen Pflicht. Die EU kommuniziert Entlastung, nicht Reform – und das ist bezeichnend für den Zustand des Systems.

Was bleibt, ist ein Gefühl der publizistischen Resignation: Die EU hat ein dysfunktionales Asylsystem, das sie nun mit einem neuen Mechanismus noch dysfunktionaler macht. Die semantische Verpackung ist elegant, die politische Wirkung verheerend. Solidarität wird zur Ausnahme, nicht zur Grundlage. Und wer das erkennt, darf sich fragen: Was ist eigentlich noch europäisch an dieser Politik?

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