Religionsfreiheit und islamistisches Mainstreaming

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Amed Sherwan

Religionsfreiheit bedeutet für den Autoren Amed Sherwan das Recht nicht zu glauben und sein Leben frei von religiösen Vorschriften zu gestalten. Diese Freiheit hatte er als Kind nicht und musste sie sich hart erkämpfen. Mittlerweile hat er ein entspanntes Verhältnis zu religiösen Traditionen und Praktiken und wünscht sich, dass jede Person ihr Leben so gestalten kann, dass es ihrer Weltanschauung entspricht. Von außen werden ihm jedoch andere Eigenschaften und Ansichten zugeschrieben, beruhend auf den Narrativen der dominanten Islamverbände.

Ich bin als Muslim geboren und erzogen worden und habe mir meine Freiheit von der Religion hart erkämpfen müssen. Trotzdem oder gerade deshalb respektiere ich den Wunsch anderer Menschen, ihren Glauben auszuleben. Ich möchte, dass jede Person ihr Leben so gestalten kann, dass es ihrer Weltanschauung entspricht – solange sie damit andere nicht an genau demselben hindert.

Daher habe ich mittlerweile auch als Ex-Muslim ein entspanntes Verhalten zu religiösen Traditionen und Praktiken. Mir ist völlig einerlei, ob Leute fasten, beten, sich verhüllen oder bestimmte Essensvorschriften einhalten, wenn sie es aus freien Stücken tun und mich damit nicht behelligen. Ich wünsche mir möglichst diversitätssensible Orte und finde es legitim, wenn Menschen individuelle Lösungen dafür aushandeln, ihre Alltagsrituale ausleben zu können.

Mir ist egal, wenn mein Arbeitskollege seine Pause lieber mit einem Gebet in einer Kammer als rauchend vor der Tür verbringt. Und als Vegetarier freue ich mich über jede Kantine, die ethische, gesundheitliche oder religiöse Entscheidungen respektiert und etwas für jeden Geschmack anbietet. Die Sexualmoral hinter dem Kopftuch lehne ich ab, trotzdem respektiere ich die freie Entscheidung jeder erwachsenen Frau, sich so zu kleiden, wie sie will.

Der zentrale Punkt: Entscheidungsfreiheit

Das ist für mich der entscheidende Punkt: Entscheidungsfreiheit. Aus meiner Sicht ist es daher notwendig, ganz genau zu gucken, wenn Forderungen nach Ausübung der Religionsfreiheit laut werden. Geht es tatsächlich um persönliche Freiheit und gegenseitige Rücksichtnahme? Oder werden unter dem Deckmantel von Religionsfreiheit starre Standards dafür durchgesetzt, wie muslimisches Leben sich zu gestalten hat?

Amed Sherwans Autobiographie "Kafir. Allah sei Dank bin ich Atheist" ist 2020 bei der Edition Nautilus erschienen.

Mir scheint es oftmals so, dass Forderungen nach einem Recht auf Kinderkopftuch, Halal-Essen oder muslimische Gebetsräume gar nicht konkreten Bedürfnissen entsprechen, sondern von Akteur*innen formuliert werden, die sich damit als Sprachrohr einer angeblich homogenen muslimischen Community etablieren und ihr reaktionäres Bild des "wahren Islam" durchsetzen wollen. Und das gelingt ihnen ganz offensichtlich erschreckend gut.

Ich habe einige muslimische Freund*innen, die weder Essensvorschriften beachten noch fasten, geschweige denn sich verhüllen. Und dafür müssen sie sich nicht nur vor strenggläubigen Muslim*innen rechtfertigen, sondern auch vor Menschen aus der deutschen Mehrheitsbevölkerung, deren Vorstellungen von muslimischem Leben auf den Narrativen der dominanten Islamverbände basieren.

Queere Muslime müssen sich inzwischen nicht nur vor Anfeindungen von Glaubensgenossen schützen, sondern auch von Glaubensfremden fragen lassen, wie sich ihre sexuelle Orientierung oder Identität mit ihrem Glauben vereinbaren lässt. Und es ist viel unwahrscheinlicher, dass Musliminnen mit Kopftuch danach gefragt werden, warum sie sich verhüllen, als dass unverschleierte Musliminnen sich dafür erklären müssen, warum sie es nicht tun.

Wer sich als Muslim ein Glas Wein genehmigt, muss sich nicht selten gegenüber völlig Außenstehenden dafür rechtfertigen. Und ich kann gar nicht mehr zählen, wie oft wohlmeinende Menschen mir erklärt haben, dass ich ruhig zugreifen könne, weil etwas halal sei, da sie von meinem Äußeren auf meine Religion und damit auf mein Essverhalten geschlossen haben.

Typisch muslimisch

Genau wie viele andere Ex-Muslim*innen oder Êzîdî und Angehörige anderer religiöser Minderheiten werde ich aufgrund meines Aussehens ständig muslimisch gelesen. Und so erlebe ich jeden Tag, welche Vorstellungen von Muslim*innen in der deutschen Mehrheitsgesellschaft vorherrschen. Mir werden nicht nur ein bestimmtes Essverhalten unterstellt, sondern auch Werte, Rollenbilder oder politische Ansichten zugeschrieben, die angeblich "typisch muslimisch" sind. Ich glaube nicht, dass es ein Zufall ist, dass sich dieses Bild mit den repressiven Vorstellungen der dominanten Islamverbände deckt. Aus meiner Sicht tragen diese sogar massiv dazu bei, dieses reaktionäre Islambild auch in Deutschland in allen Köpfen zu zementieren.

Fast jeder muslimisch gelesene Mensch erlebt im Alltag Diskriminierungen: auf dem Arbeitsmarkt, bei der Wohnungssuche, im Alltag und auf Reisen. Zusätzlich zu dem gesellschaftlich verankerten Rassismus gegen nichtweiße Menschen begegnen mir dabei auch viele stereotype Vorstellungen davon, wie ich als mutmaßlich muslimischer Mann ticke.

Es frustriert mich ganz besonders, als antifeministisch, queerfeindlich, antisemitisch, latent gefährlich oder zumindest rückständig wahrgenommen zu werden, weil diese Zuschreibungen einerseits weder auf mich noch auf viele meiner muslimischen Freunde zutreffen und sich andererseits durchaus mit meinen Erfahrungen mit repressiven muslimischen Strukturen decken. Also genau den Strukturen, die mich zur Flucht gezwungen haben.

Dass Leute von meinem Äußeren auf meine angebliche Religion schließen und diese pauschal mit einer bestimmten Richtung im Islam verknüpfen, empfinde ich als einen islamisierenden Rassismus. Dieser ist in meinen Augen das Ergebnis sowohl rechter als auch islamistischer Propaganda, die sich in einem Aspekt nur wenig unterscheiden: In der Behauptung eines homogenen, unveränderlichen und mit progressiven Werten unvereinbaren Charakters des Islams.

Zur Bekämpfung des islamisierenden Rassismus gehört für mich ganz dringend die Aufklärung dazu, dass erstens nicht alle Menschen mit Wurzeln im Nahen oder Mittleren Osten Muslim*innen sind und zweitens nicht alle Muslim*innen gleich sind. Und dafür müssen endlich vielfältigere Stimmen gehört werden. Außerdem bedarf es einer ehrlichen und kritischen Auseinandersetzung mit den repressiven Strömungen im Islam und den politischen Interessen dahinter.

Der Begriff "antimuslimischer Rassismus" unterbindet die Auseinandersetzung

Mit dem Begriff des "antimuslimischen Rassismus" wird diese notwendige Auseinandersetzung geschickt unterbunden. Statt das Problem in der ganzen Komplexität zu beschreiben, konstruiert der Begriff das Phänomen als einen Angriff gegen "den" Islam und zieht das Thema in die religiöse Sphäre. Legalistisch-islamistische Organisationen nutzen dies aus meiner Sicht ganz bewusst, um sich als zuständig zu erklären und als Anwälte der von Rassismus betroffenen Menschen zu profilieren.

Und bei ihrer Problemdefinition liegen die Lösungsvorschläge auf der Hand: Im Kampf gegen "antimuslimischen Rassismus" muss "der" Islam gestärkt werden. Mit dieser Agenda bringen sich legalistische Islamist*innen überall in die antirassistische Bündnisarbeit ein und profitieren von dem alltäglichen Rassismus gegen muslimisch gelesene Menschen.

Wenn Islamverbände das Recht auf Kinderkopftuch oder Halal-Essen als Standardessen in Kantinen einfordern, mag das für Außenstehende harmlos und folgerichtig klingen. Vor dem Hintergrund dessen, wie konservative Islamvertreter*innen weltweit gegen säkulare, queere, anders- und nichtgläubige Menschen vorgehen, sind solche Vorschläge aber dringend dahingehend zu prüfen, ob sie Religionsfreiheit fördern oder behindern. Denn dass ausgerechnet reaktionäre Islamverbände sich als Verfechter von Vielfalt und Toleranz darstellen, ist ein Schlag ins Gesicht für alle feministischen, queeren, nicht- und andersgläubigen Menschen in muslimisch dominierten Zusammenhängen.

Es gibt keinen homogenen Islam

Auseinandersetzung mit Religion ist in muslimischen Communities schwer, denn öffentliche Religionskritik gilt vielen als illoyal. Ich erlebe nicht selten, dass muslimische Freund*innen meine Kritik an den repressiven Strömungen im Islam teilen, mich aber dafür rügen, dass ich sie öffentlich formuliere. Ihre Angst vor Islamkritik ist zwar nachvollziehbar angesichts des öffentlichen Diskurses, wo jedes problematische Verhalten eines muslimischen Menschen mit der Religion begründet wird und somit alle Gläubigen in Sippenhaft genommen werden. Aber wenn wir aus diesem Dilemma herauskommen wollen, dürfen wir nicht schweigen, sondern müssen wir die Vorstellung eines homogenen Islam kritisch-konstruktiv aufbrechen.

Es ist für mich unerhört, wenn geflüchtete Muslime sich erst im deutschen Exil auf Druck anderer Muslime zum Fasten genötigt sehen. Ich finde es unerträglich, wenn muslimische Mädchen sich auf Druck von Mitschüler*innen für ein Kopftuch entscheiden. Und es muss endlich ein Ende haben, dass Ex-Muslim*innen, queere Muslim*innen und Andersgläubige sich nicht in Begegnungsstätten trauen, weil die Umgangsregeln dort von legalistischen Islamist*innen bestimmt werden.

Wer sich bedingungslos auf die Seite derer stellt, die sich einseitig für bestimmte Lesarten, Praktiken und Symbole starkmachen, dient nicht der Religionsfreiheit, sondern einem islamistischen Mainstreaming.

Religionsfreiheit wird nicht durch Klientelpolitik erreicht, sondern durch Lösungen, die allen dienen. Es bedarf eines enttabuisierten Umgangs mit allen Weltanschauungen, mutige Kritik an religiösen Akteur*innen und kreative Lösungen, die alle im Blick behalten:

Rein pflanzliches Essen in Kantinen genügt buddhistischen und hinduistischen Essensvorschriften, ist halal und koscher, gesund, klima- und tiergerecht. Regelmäßige Pausen und ruhige Rückzugsräume kommen unterschiedlichsten Menschen zugute. Und alle Kinder brauchen elternunabhängige, weltanschaulich neutrale Lernorte. Es ist gar nicht so schwer!

Dieser Text ist als Diskussionsbeitrag zum 2. Band der Handreichung "Antimuslimischen Rassismus ernst nehmen – Kritik an muslimischen Organisationen zulassen" des Bunds der Alevitischen Jugendlichen in Deutschland (BDAJ) entstanden und wird mit freundlicher Genehmigung des Vereins abgedruckt. Beide Bände stehen auf der Homepage des Vereins zur Verfügung.

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