Notizen aus der Ukraine

Russische Absurditäten zum Jahresbeginn

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Panorama der ukrainischen Hauptstadt Kiew
Kiew/Ukraine

Die Welt wird in Atem gehalten. Seit Jahren bereits. Provokationen, Drohungen, Morde und Annexionen – das politische Arsenal eines Landes, das sich selbst als Weltmacht sieht und gefälligst als solche von allen wahrgenommen werden sollte. Eine Einschätzung aus der Ukraine.

Der Präsident dieser Scheinmacht, unter Minderwertigkeitskomplexen ob seiner Körpergröße leidend, die er bei öffentlichen Auftritten mit allerlei Tricks zu kaschieren versucht, sei es mit Schuheinlagen oder höheren Stühlen, möchte die Geschichte zurückdrehen. Und persönlich in diese als großer Herrscher eingehen, auf dass kommende Generationen ihm mit Ehrfurcht gedenken. Er möchte das nach seiner Meinung größte Unglück des 20. Jahrhunderts, nämlich den Zerfall der Sowjetunion, partout ausgleichen, bestenfalls gar ausradieren. Dieser Verlust, der dem Präsidenten einen scheinbar unaushaltbaren Phantomschmerz verursacht, ist die verloren gegangene Kontrolle über einige Nachbarstaaten der damaligen SU. Das flächenmäßig größte und bevölkerungsreichste Land, das sich aus der ehemaligen Verbundenheit zurückzog und sich gen Westen orientierte, ist die Ukraine.

Historischer Exkurs

Seit 1991 ist die Ukraine unabhängig, wurde jedoch weiterhin lange durch moskautreue Präsidenten von Russland kontrolliert. Die engen wirtschaftlichen Verzahnungen und Abhängigkeiten zeugten von dieser engen "Partnerschaft". Das hat sich ab der Orangen Revolution 2004 geändert. Der "Rückfall" in eine ostorientierte Ausrichtung wurde durch den im Februar 2010 ernannten Präsidenten Janukowitsch, der als Marionette Russlands bezeichnet wurde, eingeleitet. Seine Weigerung, das Assoziierungs-Abkommen zwischen der EU und der Ukraine zu unterschreiben, führte Ende 2013 zur sogenannten Revolution der Würde. Im Februar 2014 flüchtete der autoritäre Kleptokrat Janukowitsch nach Russland, wo er seitdem in Saus und Braus von einem Teil der schätzungsweise über 60 Milliarden Euro lebt, die er der Ukraine entwendete und damit das Land an den Rand des Staatsbankrotts katapultierte.

Gerade die Episode Janukowitsch zeigt deutlich, mit welcher Vehemenz Russland Einfluss auf die Ukraine auszuüben versuchte. Obwohl Putin über Jahre hinweg betonte, er würde dem geplanten Assoziierungs-Abkommen zwischen EU und Ukraine nicht entgegenstehen, drohte er der Ukraine kurz vor Unterzeichnung mit einem Handelsboykott. Dass dies längst so geplant war und beileibe keine kurzfristige Entscheidung Putins war, ist offensichtlich. Bereits 2008, ergo ein paar Jahre vor Janukowitschs Machtübernahme, erklärte dieser persönlich in Russland auf einem Parteitag der russischen Regierungspartei "Einiges Russland", die Idee einer zukünftigen Integration der Ukraine in einen einheitlichen Wirtschaftsraum mit Russland, Belarus und Kasachstan sei alternativlos. Die Russlandtreue des damaligen ukrainischen Präsidenten wurde denn auch später "belohnt": Putin selber erklärte während einer Pressekonferenz des Waldai-Klubs am 24. Oktober 2014, Janukowitsch hätte "bei seiner Flucht aus der Ukraine nach Russland Unterstützung durch die russische Regierung erhalten". Janukowitsch wurde in der Ukraine des Hochverrats angeklagt, wobei einer der Hauptpunkte der Anklage wiederum die enge Verbindung zu Russland belegt; eine fatale Verbindung: Janukowitschs Brief an Präsident Putin mit der Bitte um die Entsendung von russischen Truppen nach Kiew.

Dieser kurze geschichtliche Exkurs weist darauf hin, dass der aktuelle Truppenaufmarsch Moskaus an der Grenze zur Ukraine einem seit langem festgesetzten Plan folgt: Die volle Kontrolle über die Ukraine zurückzuerlangen.

Der Westen und Putins Politik

Um dies zu erreichen, scheut Putin nicht davor zurück, dem Westen Konditionen zu diktieren, die eigentlich unannehmbar sind. Putin erpresst den demokratischen und ihm damit verhassten Westen.

Der "Westen" lässt sich fatalerweise auf die Erpressungsversuche ein, indem er Russland Gespräche nicht bloß auf Augenhöhe anbietet, sondern Putin (laut einigen EU-Politikern) gar zum möglichen Friedensbringer erhebt. Seit wann kann ein Aggressor mit am Verhandlungstisch sitzen, um über ein Land, in dem er einen Krieg angezettelt hat, über dessen Schicksal mitzubestimmen? Die Rollen sind eindeutig falsch verteilt. Man stelle sich vor: Ein Gericht zieht sich zur geheimen Beratung zurück. Der Schwerverbrecher sitzt gleichberechtigt in dieser Beratungsrunde mit Richtern am Tisch und beeinflusst die Urteilsfindung ihn selbst betreffend. Absurd? In der Tat.

Es stellt sich unweigerlich die Frage, warum der "Westen" das so geschehen lässt. Nicht wenige EU-Politiker sind lernresistent und hecheln einer unwirksamen und überholten Appeasement-Politik hinterher. Aus welchen Gründen auch immer – sei es, weil der eine oder andere in einem sentimentalen Russlandbild vergangener Epochen verharrt, oder aber Wirtschaftsinteressen überwiegen oder eventuell, weil er oder sie selber auf der Gehaltsliste eines russischen Unternehmens steht, oder… – geschenkt. Zweifellos jedoch lassen sich einige in ihrer Russlandpolitik von der Angst leiten. Diese Angst schürt Putin seit Jahren immer wieder mit dem Hinweis auf seine Atomwaffen mit Provokationen, Drohungen etc., siehe oben.

In diesem Zusammenhang sollte das für die Ukraine fatale Budapester Memorandum erwähnt werden, das am 5. Dezember 1994 in einer KSZE-Konferenz unterzeichnet wurde. Als Gegenleistung für einen Nuklearwaffenverzicht wurde der Ukraine verpflichtend erklärt, die Souveränität und die bestehenden Grenzen zu achten. Man bedenke: 1994 besaß die Ukraine das drittgrößte Atomwaffenarsenal der Welt. 1996 erklärte der damalige ukrainische Präsident Kutschma die Ukraine als atomwaffenfrei. Unterzeichner des Budapester Memorandums waren die Vereinigten Staaten von Amerika, Großbritannien und … Russland. 20 Jahre später annektierte Russland die Krim. Da half es auch nichts, dass China und Frankreich 1994 zur Sicherheitsgarantie der Ukraine eigene Erklärungen abgaben.

Rhetorische Geschütze

Ende Dezember 2021 sagte Putin: "Sollte der Westen seine 'eindeutig aggressive Haltung' nicht aufgeben", werde man angemessene militärisch-technische Vergeltungsmaßnahmen ergreifen. Dies als Chuzpe zu bezeichnen wäre hochgradig euphemistisch. Und nun vermutet Putin auch noch "US-Raketen an Russlands Türschwelle", wie er in seiner Jahrespressekonferenz ausführte. Abgesehen davon, dass eine geographische Lokalisierung dieser Türschwelle wohl eine rein putin'sche Sicht der Dinge ist, bezweckt seine Rhetorik in erster Linie die mediale Dramatisierung seiner Drohgebärden. Um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, bestreitet Moskau die Vorbereitung einer Invasion. Wenn 100.000 russische Soldaten an die Grenze eines Landes verlegt werden, ohne ein Motiv für diese Operation anzugeben, ist es zumindest nicht abwegig, eine geplante Invasion zu vermuten. Die Welt einerseits bezüglich des massiven Truppenaufmarsches in Unkenntnis lassend, wirft Putin andererseits der ukrainischen Regierung und der NATO Provokationen vor. Solcherlei verbale Widersprüchlichkeiten erstaunen kaum noch, gehören diese doch seit Jahren zu Putins Verbal-Arsenal.

Moskau fordert einfach mal so einen Verzicht auf eine Osterweiterung. Zum einen: Wer oder was ist Moskau auf der politischen Weltbühne, um solche Forderungen zu stellen? Zum anderen: Eine Nation, die in einem Nachbarland einen Krieg angezettelt hat, der in den Medien oft und irrtümlich verniedlichend als Konflikt bezeichnet wird, dürfte jegliches Recht auf Forderungen verwirkt haben. Nüchtern betrachtet müsste Putin als Bittsteller auftreten, jedoch nie und nimmer als Forderer welcher (geo-)politischen Zugeständnisse auch immer.

Kriegstreiber Kirche

Ein maßgeblicher Akteur in Putins direktem Umfeld wird erstaunlicherweise seit längerem kaum noch erwähnt: Die russisch-orthodoxe Kirche Moskauer Prägung. Unter Putin ist sie zu einem wichtigen gesellschaftlichen und politischen Faktor geworden. Die Kirche hat nunmehr um die 100 Millionen Mitglieder. Bezeichnenderweise ist eins der Mitglieder Putin selbst, der eigentlich Atheist ist, sich aber mittlerweile betont religiös gibt. Dieses unsägliche Schauspiel müsste kollektiv zu hochgezogenen Augenbrauen Anlass geben. Der unfassbare Widerspruch scheint aber kaum jemanden zu kümmern.

Wladimir Putin, der es sich 2016 nicht nehmen ließ, sich in der Rolle des Hüters der Religion gerierend auf dem Berg Athos in Griechenland in der Protatou-Kathedrale auf dem aus dem 14. Jahrhundert mit Ikonenmalereien ausgestatteten Bischofsthron Platz zu nehmen (obwohl es ihm laut Protokoll nicht zustand), hat die Verquickung von Staat und Kirche in Russland perfektioniert. Zwei Brüder im Geiste haben sich getroffen und miteinander eng verbunden. Der KGBler Putin mit Kyrill I., der Patriarch und Vorsteher der russisch-orthodoxen Kirche, der ehedem auch aktiver Offizier des sowjetischen Geheimdienstes KGB war. Bei jedem religiösen Fest der russisch-orthodoxen Kirche nimmt denn auch Putin jeweils persönlich teil. KGB goes Christianity. Mit Gott für Putin.

Das ist mitnichten bloß eine engere Zusammenarbeit zwischen Kirche und Staat, oder wie Putin es formuliert, eine "Partnerschaft mit der Kirche". Der Staat gewährt der Kirche außergewöhnliche Rechte und Vorzüge, die Kirche erwidert dies mit einer unabdingbaren Treue zum Staat, die sie ebenfalls von den Gläubigen einfordert. Eine Win-win-Situation, zumindest für Kirche und Staat. Ob ebenfalls für die Bürger, dürfte fraglich sein. In der neuen Verfassung, über die am 1. Juli 2020 abgestimmt wurde, ist nunmehr mittels der "hervorragenden" Teamarbeit der beiden Protagonisten Putin und Kyrill der Gottesbezug in derselben festgeschrieben. Dies geschah auf Wunsch des Patriarchen Kyrill, der sagte: "Wir beten und bemühen uns, dass Gott in unserer Verfassung vorkommen wird, weil die Mehrheit der russischen Bürger an Gott glaubt."

Putin sagte freimütig (oder übermütig), "Patriarch Kyrill I. habe gemeinsam mit den Repräsentanten der anderen anerkannten Religionen Russlands zur Stärkung des gesellschaftlichen Friedens beigetragen". Dass dies ein Hohn ist, erkennt man an der brutalen Verfolgung anderer Religionsgemeinschaften in Russland. Also ganz im Sinne der russisch-orthodoxen Kirche. Denn diese bestimmt, wer als "anerkannte" Religion Russlands gelten darf.

Die recht eigenwillige Auslegung christlichen Friedens seitens Kyrill wird auch außerhalb Russlands wahrgenommen. Putin sichert sich mit Hilfe der Kirche Support der Gläubigen zu. Kyrill hingegen nutzt den Staat für seine innerreligiöse Fehde mit der ukrainisch-orthodoxen Kirche.

Das Moskauer Patriarchat hatte über Jahrhunderte die Kontrolle über die Kirche auch in der Ukraine. Ein Dorn im Auge der russisch-orthodoxem Kirche aber ist, dass die russische Kirche im Jahre 988 eigentlich in Kiew "geboren" wurde. Zudem übte die russisch-orthodoxe Kirche in der Ukraine ehemals großen Einfluss aus, der mittlerweile arg geschrumpft ist. Aber die russisch-orthodoxe Kirche besitzt noch heute viele Kirchen und Klöster in der Ukraine. Die erfolgte Abspaltung der ukrainischen Orthodoxie von Russland birgt also erhebliches Konfliktpotential.

Der Glaube in Russland ist nicht bloß religiös, sondern auch politisch. Und so kommt es, dass die russisch-orthodoxe Kirche im Krieg gegen die Ukraine eine Schlüsselrolle spielt. Und so wie bei der Annexion der Krim, wo die russisch-orthodoxe Kirche massive Hetze gegen die Ukraine verbreitete, so ist auch hinter der aktuellen Drohgebärde Russlands mit dem Truppenaufmarsch an der Grenze der Ukraine die russisch-orthodoxe Kirche eine treibende Kraft, wenn auch für die Öffentlichkeit nicht so wahrnehmbar wie noch 2014.

Innenpolitische Nebelkerzen

Innenpolitisch ist die aggressive Rhetorik Putins schlicht ein Ablenkungsmanöver. Sein Land, das ökonomisch weiterhin überwiegend vom Export fossiler Energien abhängt, da eine Modernisierung, aber vor allem Diversifizierung der Wirtschaft nicht mal ansatzweise erfolgreich vorgenommen wurden, spielt sich zwar auch wirtschaftlich gerne als Weltmacht auf. Dabei fungiert es in der aktuellen "Liste der Länder nach Bruttoinlandsprodukt" gerade mal zwei Plätze vor Spanien und drei Plätze hinter Italien. Deutschland hingegen weist ein mehr als doppelt so großes BIP wie das "große" Russland auf. Russland ist flächenmäßig vier Mal so groß wie die europäische Union. Die wirkliche Bedeutung dieses "Rankings" wird einem erst bewusst beim direkten Vergleich der Einwohnerzahlen der jeweiligen Länder: Spanien hat etwas über 47 Millionen Einwohner, Italien gut 59 Millionen, Russland über 144 Millionen. Russland liefert in der Ökonomie eine recht bescheidene Performance.

Nun wird ja seit vielen Jahren immer wieder die Wichtigkeit Russlands für den deutschen Export betont. 2014, nachdem wegen der Krim-Annexion Sanktionen gegen Russland erteilt wurden, erhoben sich besonders viele Stimmen in Deutschland, man würde damit der deutschen Wirtschaft erheblichen Schaden zufügen. Nun, dazu eine Bestandsaufnahme aus just diesem Jahr, veröffentlicht vom ZBW (Leibniz-Informationszentrum Wirtschaft): "Russland war bei den Top-10-Exportpartnern nicht vertreten, es nahm mit einem Anteil von 3,3 Prozent erst Rang 11 hinter Belgien ein. Damit überstiegen die deutschen Exporte nach Frankreich den deutschen Russlandexport um fast das Dreifache." Die "Relevanz" Russlands für den deutschen Außenhandel lag also bei knapp über 3 Prozent. Und deswegen also wurden aus Deutschland heraus die Sanktionen konterkariert, häufig gar boykottiert? Eine ökonomische Logik ist nicht zu erkennen. Die Gründe für den Aufschrei aus der deutschen Wirtschaft zu den Sanktionen liegen woanders. Zu einem großen Teil in der Unterwanderung maßgeblicher Institutionen der deutschen Wirtschaft bis hin zum Wirtschaftsministerium durch "russlandfreundliche" Personen und Gruppierungen. Da verwundert es auch kaum, dass Deutschland (neben Frankreich) trotz Russlandsanktionen der größte Direkt-Investor (FDI – foreign direct investments) in Russland ist. Die deutschen Direktinvestitionen in Russland sind 2020/2021 bloß wegen Corona zurückgegangen, wie bei der Deutsch-Russischen Auslandshandelskammer (AHK) nachzulesen ist. Der Umgang Deutschlands mit den Sanktionen gegen Russland ist ein spannender und ernüchternder Themenkomplex, der in der Öffentlichkeit quasi überhaupt nicht behandelt wird.

Trotz aller deutschen Bemühungen ist Russland wirtschaftlich weiterhin schwach aufgestellt. Die direkte Folge für die Bürger: Immer mehr Menschen rutschen unter die Schwelle des Existenzminimums ab. Die Armut hat erschreckende Ausmaße angenommen. Darüber können auch Bilder von wohlhabenden Bürgern vor allem aus dem "reichen" Moskau nicht hinwegtäuschen. Mit der Armut nimmt auch die Unzufriedenheit der Bevölkerung mit ihrem Präsidenten zu, wie das Moskauer Meinungsforschungsinstitut Lewada, das einzige vom russischen Staat beziehungsweise russischen staatlichen Investitionen unabhängige Meinungsforschungsunternehmen – und sich seit 2016 in der Liste "ausländischer Agenten" befindend –, immer wieder erhebt. Corona hat der wirtschaftlichen Lage vieler russischer Bürger weitere Einbußen beschert. Viele Menschen haben ihre Arbeitsplätze verloren. Die wenigen Wirtschaftszweige außerhalb der fossilen Energien sind größtenteils eingebrochen.

A propos Corona: Eine weitere Baustelle der russischen Regierung. Russland ist eins der am schlimmsten betroffenen Länder überhaupt. Und das, obwohl Russland scheinbar als erstes Land überhaupt einen Corona-Impfstoff auf den Markt brachte. Allerdings wird immer mehr bezweifelt, dass dieser Impfstoff hielt (hält), was versprochen wurde. Zur Skepsis einiger Wissenschaftler kommen die massiven Infektionszahlen, einhergehend mit Todesfällen, hinzu. Im Dezember wurde die erschreckend hohe Zahl von mehr als einer Million Corona-Toten in Russland vermeldet. Die ermittelte Übersterblichkeit widerspricht dabei den offiziellen Angaben der Behörden, die das Ausmaß der Corona-Tragödie im eigenen Land weiterhin kleinzu"rechnen" versuchen.

Bereits im Oktober 2021 waren laut des russischen Gesundheitsministers Michail Muraschko die 292.000 Klinik-Betten für Corona-Patienten mit über 90 Prozent belegt – und damit die Krankenhäuser an ihrer Belastungsgrenze. Die erfolgten drastischen Maßnahmen in Russland (regionale Lockdowns, arbeitsfreie Phasen für staatliche Organisationen und private Unternehmen, Schließung der meisten Geschäfte, Schließung der Schulen und Kindergärten, Restaurants und Cafés nur Essen zum Mitnehmen etc.) belegen, dass die Corona-Lage in Russland im Oktober äußerst ernst war. Und dann sind auch in diesem Land die ersten Omikron-Fälle diagnostiziert worden. Die staatlichen Stellen und das Gesundheitswesen sind überfordert, was vielen russischen Bürgern nicht entgeht. Aber besonders die Unwahrheiten, also das Verheimlichen der wirklichen Lage, indem man geschönte Statistiken veröffentlicht, erbost viele Bürger Russlands.

Die tägliche Korruption sowie der Machtmissbrauch vieler Staatsbediensteten tragen zum Unmut noch bei. Immer mehr russische Bürger (ver-)zweifeln an Putin.

Wenn sich seine Umfragewerte im Sinkflug befinden, greift beim russischen Präsidenten der pawlow'sche Reflex der aggressiven Außenpolitik. Es wundert daher kaum, dass gerade jetzt eine massive Truppenbewegung an der Grenze der Ukraine stattfindet. Mit der dazugehörigen Inlands-Propaganda möchte Putin sein Ansehen bei den eigenen Bürgern wieder heben.

Hierzu dient ebenfalls das nachweisbar unökonomische Projekt Nord Stream 2. Innenpolitisch wird es als Russlands Energiemacht über die EU verkauft. Praktisch für Putin, dass es gleichzeitig außenpolitisch als Erpressungspotential herhält. Nord Stream 2 als doppelschneidige Axt in Putins Hand.

Doppelstrategie Truppenaufmarsch

Putin lenkt unzweifelhaft mit seiner jetzigen militärischen Aktion an der Grenze zur Ukraine von innenpolitischen Missständen ab. Es könnte ihm höchstens eine kurze Verschnaufpause einräumen, wenn er keinen spürbaren Erfolg damit erzielt.

Als Erfolg für Putin könnte gelten, wenn er dem "Westen" erhebliche Zugeständnisse abtrotzen würde, die seine Vormachtstellung in der Region zementierten. Ein solches Einknicken vor Moskau würde für den Westen fatale Konsequenzen nach sich ziehen. Eine ständige Gefahr für den europäischen Frieden und die Demokratie. Osteuropäische EU-Länder stünden unter dem Damoklesschwert einer möglichen russischen Invasion. Oder aber, wie man an Georgien und der Ukraine sieht, einer fortwährenden Destabilisierung, die sich auf Dauer lähmend und (selbst-)zerstörerisch auswirken könnte.

Die Ukraine als größter Anrainerstaat der EU unter Moskaus Fuchtel würde das Assoziierungs-Abkommen zwischen der EU und der Ukraine obsolet machen. Gerade aber dieses Abkommen hat vielen Ukrainern so viel bedeutet, dass sie dafür auf der Straße demonstrierten, woraus sich eine Revolution bildete, die mit gut hundert Toten in Kiew ein deutliches Zeichen gesetzt hat für eine pro-europäische Orientierung des Landes. Die Hoffnung Millionen Ukrainer auf eine bessere Zukunft für sich und ihrer Kinder beruht auf dieser Westorientierung.

Eine enttäuschte Hoffnung könnte sich wieder mit Massenversammlungen auf dem Maidan Luft verschaffen. Über die Folgen einer weiteren Revolution kann nur spekuliert werden. Es muss davon ausgegangen werden, dass der Kreml wieder versuchen würde, diese als Anlass für einen direkten Eingriff in innerukrainische Belange zu missbrauchen. Mit dem Ziel, die Ukraine endgültig und als Ganzes, also nicht bloß Teilgebiete, seiner Herrschaft unterzuordnen.

Putins persönliches Interesse

Außer der politischen und der religiösen Komponenten gibt es noch ein weitere, eine profane: "Putins persönlicher Reichtum". Er ist sich zweifelsohne im Klaren darüber, dass wenn er seine Macht verliert, er dabei den Verlust seines unermesslichen Reichtums riskiert. Das Gleiche dürfte auch für einige überaus wohlhabende Mitkämpfer von ihm gelten.

Im Laufe der Zeit scheint noch eine andere Komponente hinzugekommen zu sein: Megalomanie. Es reicht ihm scheinbar nicht, zu Lebzeiten einer der reichsten und einflussreichsten Menschen auf dem Planeten zu sein. Er möchte auch in die Geschichte eingehen als größter Staatslenker des 21. Jahrhunderts und dabei in der öffentlichen Wahrnehmung in Russland sein Idol Stalin noch übertreffen.

Das Dilemma für ihn könnte sein, dass er einerseits seine Macht durch seine geopolitischen Machenschaften weiter sichern kann, aber er dadurch auch Gefahr laufen könnte – sollte der "Westen" sich nicht länger auf der Nase rumtanzen lassen – durch eine heftige Auseinandersetzung im Endeffekt eben seinen Reichtum zu riskieren, an den er sich so klammert. Ihm bliebe in dem Fall nur, sein Land ähnlich wie Nordkorea abzukapseln. Damit wäre sein Eintrag in die Geschichtsbücher jedoch weitaus weniger positiv, als er es sich wohl wünscht. Und ob die Bürger in Russland eine solche Abspaltung von der Weltgemeinschaft einfach so hinnehmen würden, sei dahingestellt. Im Gegensatz zu den Nordkoreanern von vor gut 70 Jahren sind Russen technologisch und gesellschaftlich in der modernen Welt angekommen. Die Internet-Technologie hat diese Entwicklung in den beiden letzten Jahrzehnten noch beschleunigt.

Keine Prognose

Letztlich bleibt die Frage, ob Putin so fatalistisch handeln könnte, dass er lieber sein ganzes Volk mit in den Abgrund ziehen würde, als zu versuchen, einen wie auch immer gearteten Kompromiss einzugehen, der ihm zwar seine innenpolitische Macht weiterhin gewährleisten würde, ihn jedoch als Verlierer gegenüber der westlichen Welt ausweisen würde.

Nichts ist diesbezüglich sicher. Das Phänomen Putin und sein aggressiver Politikstil sind nun viele Jahre lang beobachtbar und bekannt; und dennoch scheint es, als würde er ungehindert weiter der Welt seinen Stempel aufdrücken können, indem er sie immer wieder vor vollendete Tatsachen stellt. Die Absurdität ist daher tatsächlich, dass er nach der Krim-Annexion und der faktischen Übernahme einiger ostukrainischer Gebiete dennoch über Wochen hinweg einen massiven Truppenaufmarsch an der ukrainischen Grenze vornehmen kann, und die (westliche) Welt – außer einige schwache Warnungen gen Moskau zu richten – tatenlos zuschaut.

Die Welt wird sich 2022 wohl oder übel auf weitere Absurditäten aus Putins Reich einstellen müssen.

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