Wie der säkulare Aufbruch weitergeht

Säkulare Hysterese

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Zum Jahreswechsel blickt der Vorsitzende des Koordinierungsrates säkularer Organisationen – KORSO e. V., Dr. Rainer Rosenzweig, zurück auf das erste Jahr des von ihm so bezeichneten "säkularen Aufbruchs" und macht einen Vorschlag für seine Fortsetzung.

Das hinter uns liegende Jahr hatten sich die meisten wohl anders vorgestellt. Wer hätte das gedacht: Der KORSO-Vorsitzende ruft am 31.12.2019 das säkulare Jahrzehnt aus und nicht einmal drei Monate später erteilt der Papst seinen Ostersegen "Urbi et Orbi" vor menschenleerem Petersplatz.

Doch zum Spaßen ist vielen schwer Betroffenen ganz und gar nicht zumute, während andere von der weltweiten Pandemie profitieren. Es bleibt die – nun ernst gemeinte – Frage: Wie weit sind die Bemühungen um mehr Säkularität in der Gesellschaft gediehen?

Die öffentliche Diskussion um die Systemrelevanz kaum noch nachgefragter Gottesdienste wirkt in säkularen Kreisen ebenso skurril und aus der Zeit gefallen wie das penetrante Ignorieren einer säkularen Interpretation des Weihnachtsfests: Die vom KORSO formulierte Deutung wird in den deutschen Medien allenfalls am Rande wahrgenommen, wenn überhaupt. Stattdessen: Jesuskindelein, Rauschgoldengel, Jungfrauengeburt. Nun ja.

Das ist allerdings nicht das Einzige, was die säkulare Seele 2020 piesackte. Fassungslos verfolgte man etwa den Eiertanz eines deutschen Ministers (Spahn), der nach einem klaren Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das von einer erdrückenden Mehrheit der Bevölkerung geteilt wurde, nichts Besseres zu tun hatte als gegen den Geist des Urteils die Möglichkeiten zur Suizidhilfe erneut stark einzuschränken. Bei solchen Aktionen werden die persönlichen Motive religiöser Prägung oft nicht einmal versteckt, sondern sogar noch herausgestellt. Wer das tut, hält das für zeitgemäß.

Nun ist inzwischen aber bereits fast die Hälfte der Menschen in Deutschland weder katholisch noch evangelisch – bald wird es die Mehrheit sein. Vor diesem Hintergrund erscheint die diesbezügliche Ignoranz des medialen und politischen Establishments auf abenteuerliche Weise bizarr. Sie erzeugt Frustration, der einige mit pauschalen, deftigen Worten Ausdruck verleihen. Andere kontern diese drastische Pauschalkritik ihrerseits mit selbstgerechter Pauschalkritik. Beides ist verfehlt. Im Kontrast dazu begann 2020 eine Rückbesinnung auf gemeinsame Motive, die sich in einer kooperativen Klausur der säkularen Verbände manifestierte. Diese kollegiale Verständigung führt nicht nur zu gegenseitiger Toleranz innerhalb des säkularen Spektrums, sondern ermöglicht fruchtbare Allianzen und verbannt destruktive Grabenkämpfe ins Geschichtsbuch.

Doch wie ist sie nun zu erklären, diese Ignoranz der Eliten in Presse, Politik und Gesellschaft gegenüber der säkularen Welt? Eine breite politisch-mediale Verschwörung gegen die Interessen nichtreligiöser Menschen zu vermuten, wäre wohl verfehlt. Stattdessen sei hier der Versuch einer Annäherung skizziert:

In der Regelungstechnik gibt es den kybernetischen Begriff der Hysterese. Er besagt, dass sich Wirkungen von Maßnahmen unter bestimmten Bedingungen verzögern. Sie kennen das von Ihrer Heizung: Wenn Sie frieren, regeln Sie das Thermostat hoch. Es wird dann aber nicht sofort warm. Sie brauchen also erst einmal weiter eine warme Decke, eine dampfende Tasse Tee und ein wenig Geduld, bis die Wohnung sich aufgeheizt hat.

Vor mehr als 30 Jahren war unsere Gesellschaft noch ganz anders geprägt als heute. In der untergehenden DDR galten die Kirchen als Sammelpunkte für den Widerstand gegen den herrschenden Staat. Und in Westdeutschland waren nichtreligiöse Menschen dieser Zeit in einer so heillosen Minderheit, dass ein Ignorieren ihrer Bedürfnisse für manche geradezu zum guten Ton gehörte, wenn man seinen Ruf in der Gesellschaft nicht zerstören oder die nächste Wahl gewinnen wollte. Seitdem ist viel passiert. Galt die Kirche damals bei vielen vielleicht noch unhinterfragt als moralische Instanz, so hat sie inzwischen aufgrund diverser Skandale massiv an Glaubwürdigkeit verloren. Die Austrittszahlen (von Menschen, die übrigens größtenteils nie selber aktiv eingetreten waren) sind entsprechend gigantisch.

Dennoch sind diejenigen, die es heute in der Medienbranche nach vorne gebracht oder ihren Weg in den politischen Parteien durchlaufen haben, mehrheitlich in der damaligen Zeit sozialisiert und politisiert worden. Selbst wenn sie die neue Wirklichkeit rational schon zur Kenntnis genommen haben mögen – was viele mit einem zur Schau getragenen Bedauern kommentieren, das nur noch in einer kleiner werdenden Blase beklatscht wird –, dann stammt der emotionale Hintergrund ihres Handelns noch aus dem Ende des vorigen Jahrtausends. Diese "säkulare Hysterese" sorgt dann heute für manches Kopfschütteln.

Das vergangene Jahr wurde durch die Corona-Pandemie dominiert. Es ist zu hoffen, dass die monothematische Erstarrung der Welt im Laufe des kommenden Jahres wohl langsam, aber allmählich verblassen wird, wenn die Errungenschaften des rationalen Denkens ihre Wirkung entfalten und eine flächendeckende Impfung gegen das Virus gelingt. Damit wird einhergehen, dass wieder andere Themen den öffentlichen Diskurs bestimmen – zum Beispiel die deutsche Bundestagswahl am 26. September 2021 und Angebote, die die zur Wahl stehenden Parteien säkular-humanistischen Menschen zu bieten haben werden.

Ob die Anliegen der Säkularen letztendlich berücksichtigt werden oder nicht, liegt nicht nur, aber eben auch an denjenigen, die sich für ihre Belange engagieren. Der Wunsch nach gleichberechtigter Behandlung in Politik und Gesellschaft, nach Berücksichtigung einer säkularen Feierkultur, nach Selbstbestimmung und Autonomie statt religiösem Paternalismus ist und bleibt jedenfalls legitim. Er hat eine Chance, allmählich in die Gesellschaft einzusickern, wenn diejenigen, die säkulares Denken schätzen und sich als weltliche Humanistinnen und Humanisten begreifen, kritisch und konstruktiv bleiben, engagiert und energisch, geduldig und gelassen.

Nehmen wir uns also eine Decke, die vor Ignoranz wärmt. Kochen wir uns einen dampfenden Tee, der uns auf humanistische Gemeinsamkeiten und säkulare Kooperation besinnt und üben wir uns in Geduld. Das säkulare Jahrzehnt hat gerade erst begonnen, das Jahr der Zuversicht beginnt morgen.

Dr. Rainer Rosenzweig
Vorsitzender des Koordinierungsrates säkularer Organisationen KORSO e. V.

Erstveröffentlichung auf der Website des KORSO.

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