Singvögel mögen es süß

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Rotkehlchen (Erithacus rubecula)
Rotkehlchen (Erithacus rubecula)

Der Mensch erkennt ohne Probleme süß schmeckende Lebensmittel – und das sogar sehr gerne. Vielen fleischfressenden Tieren jedoch fehlt diese Fähigkeit. Ob Vögel als Nachfahren fleischfressender Dinosaurier Süßes erkennen, war bislang unklar. Ein internationales Forscherteam unter der Leitung von Maude Baldwin vom Max-Planck-Institut für Ornithologie hat nun gezeigt, dass Singvögel mit ihren über 4.000 Arten unabhängig von der primären Ernährungsweise Süßes erkennen. Die Studie zeigt, seit wann und wie die Singvögel-Vorfahren den Umami-Geschmacksrezeptor, der eigentlich auf Herzhaftes reagiert, zum Schmecken von Zucker nutzen. Diese Fähigkeit blieb den Singvögeln im Laufe der Evolution erhalten und beeinflusst die Ernährung von nahezu der Hälfte aller heute lebenden Vögel.

Bitter, salzig, süß, sauer und umami sind die fünf Geschmacksrichtungen, die wir Menschen wahrnehmen. Der Geschmackssinn hat einen enormen Einfluss auf unsere Ernährung – was uns schmeckt, landet oft auf unserem Teller. Dem Rest der Tierwelt geht es nicht anders, denn der Geschmack hilft zuverlässig, Nahrhaftes von Giftigem zu unterscheiden. Aber was schmecken andere Tiere?

Es ist bekannt, dass der Rezeptor für das süße Geschmacksempfinden bei Säugetieren weit verbreitet ist. Den von fleischfressenden Dinosauriern abstammenden Vögeln jedoch fehlt eine essentielle Untereinheit dieses Rezeptors — vermutlich erkennen die meisten keinen Zucker. Die einzige bekannte Ausnahme sind Kolibris, die ihren Umami-Geschmacksrezeptor so umfunktioniert haben, dass dieser auch Kohlenhydrate erkennt.

Ernährungsgewohnheiten von Vögeln

Aber sind alle anderen Vögel unfähig, Zucker zu schmecken? Ein internationales Team um die Evolutionsbiologinnen Maude Baldwin vom Max-Planck-Institut für Ornithologie und Yasuka Toda von der Meiji University in Japan ging dieser Frage nach.

Zunächst untersuchten die Forscher systematisch die Ernährungsgewohnheiten von Vögeln. Während bekannt ist, dass bestimmte Singvogelfamilien wie Nektar-, Honig- und Türkisvögel regelmäßig große Mengen an Nektar verzehren, fanden Baldwin und Kollegen überdurchschnittlich viele Singvogelarten, die ebenfalls gelegentlich Nektar oder Früchte verzehren. "Dies war der erste Hinweis, dass wir uns bei der Suche nach den Ursprüngen des süßen Geschmacksinns auf eine Reihe von Singvögeln konzentrieren sollten und nicht nur auf Nektarspezialisten", erklärt Baldwin. In der Tat zeigte sich in Verhaltensexperimenten, dass sowohl ein nektar- als auch ein körnerfressender Singvogel Zuckerwasser gegenüber normalem Wasser bevorzugt.

Umami-Rezeptor reagiert auf Zucker

Toda und Baldwin fanden heraus, dass die Umami-Rezeptoren des nektarspezialisierten Honigfressers auf Zucker reagierten, ebenso wie die von Singvögeln anderer Ernährungsgruppen. Daraus lässt sich schließen, dass Singvögel tatsächlich Süßes schmecken und, wie die Kolibris, den Umami-Rezeptor dafür nutzen.

Um die Anfänge dieser Fähigkeit zu bestimmen, rekonstruierten die Forschenden ursprüngliche Umami-Rezeptoren an verschiedenen Stellen im Singvogel-Stammbaum. Es zeigte sich, dass die frühen Vorfahren der Singvögel das Zucker-Schmecken entwickelten, noch bevor sie aus Australien auswanderten und sich auf dem ganzen Planeten ausbreiteten. "Wir waren von diesem Ergebnis sehr überrascht. Der süße Geschmacksinn entstand demzufolge sehr früh innerhalb der Singvögel und blieb auch in Arten erhalten, die nicht primär auf zuckerhaltige Nahrung angewiesen sind", sagt Baldwin.

Neben dem Zeitpunkt der sensorischen Veränderung konnten die Forscher auch deren molekulare Grundlage aufdecken: Sie verglichen die Sequenzen von Rezeptoren, die Zucker erkennen mit solchen, die keinen erkennen. Dadurch identifizierten sie die Veränderungen, die zum Schmecken von Zucker führten. "Da viele Aminosäurereste an der Zuckererkennung beteiligt sind, mussten wir mehr als hundert Rezeptorvarianten analysieren, um die molekularen Mechanismen aufzudecken, die den Zuckerreaktionen zugrunde liegen", sagt Toda. Interessanterweise decken sich diese nur geringfügig mit denen der entfernt verwandten Kolibris, obwohl ähnliche Bereiche im Rezeptor modifiziert wurden. Demzufolge rüsteten beide Vogelgruppen im Laufe der Evolution ihren Umami-Geschmacksrezeptor für die Wahrnehmung von Zucker um. Dabei veränderten sich allerdings die Rezeptoren auf unterschiedliche Weise, um ans gleiche Ziel zu kommen.

Auf Grundlage ihrer Ergebnisse vermuten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, dass die veränderte Sinneswahrnehmung von Singvögeln weitreichende Auswirkungen auf deren nachfolgende Evolution hatte. In Australien, wo sich Singvögel entwickelten, sind viele verschiedene Zuckerquellen verbreitet, darunter Insektensekrete und Baumsäfte. Womöglich halfen zuckerhaltige Nahrungsquellen den Singvögeln, sich auf andere Kontinente auszubreiten und erfolgreich eine Vielzahl ökologischer Nischen zu besetzen.

Zukünftige Untersuchungen sollen nun entschlüsseln, wie sich das Zucker-Schmecken zusammen mit anderen physiologischen Merkmalen, wie der Verdauung oder dem Stoffwechsel, im Laufe der Evolution entwickelt hat. (mpg)

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