Neues Modell zur Ausbreitung von Lebewesen

rohrsanger_photoshop.jpg

Drosselrohrsänger
Drosselrohrsänger

Die Biologin Jitka Polechová erstellte in einem vom Wissenschaftsfonds FWF finanzierten Projekt ein theoretisches Modell zur Beschreibung der Ausbreitung von Tier- und Pflanzenarten. Sie konnte zeigen, dass die zugrundeliegenden Mechanismen einfacher sind als bislang gedacht, was wichtige Konsequenzen für den Artenschutz hat.

Wie sich biologische Arten auf der Erde ausbreiten, ist bislang nicht völlig geklärt. Manche Spezies haben sich bis an die Grenzen ihrer ökologischen Nische verteilt, besiedeln also alle Bereiche, für die sie genetisch ausreichend angepasst sind. Bei manchen Lebewesen kommt die Ausbreitung jedoch vor dieser Grenze zum Erliegen, bei wieder anderen zersplittern die Populationen in kleinere Gruppen. Warum das so ist, dafür gibt es bisher nur Hypothesen. Eine zusätzliche Schwierigkeit besteht darin, dass mit der Populationsökologie und der Populationsgenetik zwei Gebiete mit sehr unterschiedlichen Zugängen an dem Thema forschen.

Die Biologin Jitka Polechová von der Universität Wien hat nun im Rahmen eines vom Wissenschaftsfonds FWF finanzierten Grundlagenprojekts ein theoretisches Modell entwickelt, das Zugänge aus beiden Gebieten vereint. Es gelang ihr dabei, zu zeigen, dass die Bildung von Grenzen für die Ausbreitung von Spezies nur von zwei sehr allgemeinen Parametern bestimmt wird, und damit von bestimmten genetischen Faktoren unabhängig ist. Das hat nicht nur Auswirkungen auf das Verständnis, wie sich Arten auf der Erde ausbreiten, sondern liefert auch wichtige Informationen für den Artenschutz, indem es hilft, die Gefahren für bedrohte Arten besser zu verstehen und die richtigen Schutzmaßnahmen zu setzen.

Zweidimensionales Modell wird einfacher

"Es ist schwierig, die richtigen Parameter für die Ausbreitung von Populationen von Spezies zu finden", erklärt Jitka Polechová. "Dazu muss dieses komplexe biologische Problem durch ein einfaches Modell ausgedrückt werden. Doch manche der Annahmen, die in früheren Modellen gemacht wurden, führten zu völlig unterschiedlichen Vorhersagen." Relevant für die Beschreibung einer solchen Population seien laut bisheriger Erfahrung eine Handvoll verschiedener Charakteristika, so Polechová: Erstens, wie stark sich die Bedingungen in der Umwelt ändern, also etwa, wie sehr die Lebewesen bei der Wanderung in ein neues Gebiet sich an veränderte Bedingungen anpassen müssen. Zweitens ist die Größe der Population relevant. Die genetische Vielfalt kann etwa abnehmen, wenn Populationen sich sehr ausdünnen. Und schließlich sind drittens auch noch spezielle Informationen über die genetische Basis der Lebewesen notwendig.

Jitka Polechová ist Biologin und Zoologin an der Universität Wien. Sie interessiert sich für theoretische Modelle zur Beschreibung der Evolution von Lebewesen, insbesondere für die Entwicklung der Lebensräume von Arten.

"Bisherige Arbeiten beschränkten sich auf eine Raumdimension, was etwa der Ausbreitung von Lebewesen entlang eines Tals entspricht", sagt Polechová. Die meisten Forschungsgruppen schreckten davor zurück, die Modelle auf die realistischere Situation einer Ebene zu erweitern, weil sie davon ausgingen, dass die Situation unnötig kompliziert und teurer zu simulieren wäre. Das ist nicht der Fall, wie Polechová zeigen konnte. Sie fand heraus, dass die Betrachtung in zwei Raumdimensionen das Ergebnis grundlegend ändert und sogar vereinfacht, weil bestimmte genetische Informationen über die beteiligten Lebewesen für die Beschreibung nicht notwendig sind. "Diese Unabhängigkeit ist überraschend. Wer wissen will, wo sich Ausbreitungsgrenzen bilden, kann die komplexen genetischen Details der Lebewesen einfach ignorieren", so die Forscherin. Das erleichtere die Arbeit für künftige Experimente enorm.

Zersplittern von Populationen

Die Arbeit der Forscherin bringt unmittelbar neue Erkenntnisse über die Fragmentierung von Populationen von Lebewesen, also das Aufsplittern in kleinere Gruppen. Polechová fand heraus, dass es unter bestimmten Bedingungen zu einem "Phasenübergang" kommen kann, vergleichbar mit dem Schmelzen von Eis. Diese Fragmentierung könne ganz plötzlich passieren: "Eine Population könnte auf den ersten Blick so aussehen, als wäre alles in Ordnung, dabei könnte sie kurz vor einer Fragmentierung stehen", erklärt die Forscherin. "Bis jetzt wussten wir nicht, nach welchen Kriterien wir dieses Risiko beurteilen sollten."

Artenschutz

Das macht die Arbeit besonders relevant für das Verständnis verschiedener Umweltprobleme. "Einerseits ist da der Artenschutz: Bisherige Theorien legten nahe, dass eine große Ausbreitung und die Vermischung von Genen mit denen von Nachbarpopulationen problematisch sind, weil sie die lokale Anpassung behindern. Es stimmt zwar, dass die lokale Anpassung mit der Verbreitung abnimmt, allerdings wird der Effekt durch die Bewahrung der genetischen Vielfalt aufgewogen. In kleinen Populationen überwiegt der positive Effekt der Ausbreitung. Eine Verkleinerung des Ausbreitungsgebiets kann hingegen zu einer plötzlichen Zersplitterung der Population führen, was diese viel verletzlicher macht." Weiters liefert die Arbeit neues Wissen über invasive Arten. "Manche Arten breiten sich sehr rasch aus, ohne sich durch die Notwendigkeit für lokale Anpassung behindern zu lassen, während andere sich sehr schnell anpassen. Diese Mechanismen zu verstehen ist ungeheuer wichtig, wenn man die Ausbreitung solcher Arten stoppen will."

Noch keine Experimente

Eine experimentelle Bestätigung für die neuen theoretischen Erkenntnisse gebe es noch nicht, so die Biologin: "Bisher wurden diese beiden Größen noch nicht gemeinsam gemessen." Allerdings weist sie auf Studien an in Japan heimischen Libellen hin, die mit ihren Funden konsistent sind. Wichtig sei, den Austausch der beiden getrennten Forschungsgebiete zu fördern, die an dem Thema arbeiten, so Polechová. In einem Folgeprojekt arbeitet sie nun daran, die Fragmentierung von Populationen genauer zu untersuchen.

Übernahme mit freundlicher Genehmigung von scilog.fwf.ac.at.