"Bedeutung und Perspektiven von Religion und Kirche in unserer Gesellschaft" – Zu diesem Thema fand am 29. Oktober im Rathaus Garbsen ein "Stadtgespräch" mit hochkarätiger Besetzung statt: Landesbischof Ralf Meister (Evangelisch-lutherische Landeskirche Hannovers), Guido Wiesner (Präsident des Humanistischen Verbands Niedersachsen), Ingrid Wettberg (1. Vorsitzende der Liberalen Jüdischen Gemeinde Hannover) und Ali Faridi (Religionsgemeinschaft der Bahá'í und Mitglied des Vorstands des Hauses der Religionen in Hannover) diskutierten unter der fachkundigen Leitung von Sven Speer vom Forum Offene Religionspolitik und nahmen zu Publikumsfragen Stellung. Für den hpd berichtet Matthias Krause von der Veranstaltung.
Nach kurzer Begrüßung durch Dr. Stefan Birkner vom Freundeskreises Garbsen hielt Bischof Meister das halbstündige Hauptreferat.
Meisters Vortrag
Meister wies zunächst darauf hin, dass die Kirchen in allen Ethikkommissionen, die von der Politik zu zentralen Schlüsselfragen einberufen werden, vertreten sind, und schloss daraus, dass es heute immer noch einen weitestgehenden gesellschaftlichen Konsens darüber gäbe, dass die Kirchen zu Werten und Normen etwas zu sagen hätten.
Das Feld der Kirchen seien allerdings primär nicht Werte und Normen, sondern der Glaube. Religion habe ihrem Wesen nach nicht zu allererst den Anspruch, Moral auszuüben, sondern sie frage nach dem letzten, tragenden Sinn.
Zentrale Begriffe wie Menschenwürde oder Menschenrechte seien zwar in ihrer Entstehung nicht ohne den Rückgriff auf die christlich-jüdische Tradition zu verstehen, aber dass ein Christ die Würde des Menschen mit der Gottebenbildlichkeit erklären könne, überzeuge einen Nichtchristen nicht. Es brauche einen Konsens für die Zukunft unserer Gesellschaft, der nicht von einer einzigen Religion definiert wird, sondern aus dem Konsens der gesamten Gesellschaft, die sich aus Religiösen wie Nichtreligiösen zusammensetzt. Es müsse eine Gesprächssituation geschaffen werden, dass die unterschiedlichen Begründungszusammenhänge nicht im Gegeneinander sind, sondern parallel auf einen Weg gelegt werden.
Ethische Entscheidungen würden oftmals nicht aus abstrakten Sätzen, sondern aus Intuition getroffen. In einer zunehmend säkularen Gesellschaft, in der die größte Gruppe die Nichtreligiösen sind, liegt die Bedeutung der Kirche nach Auffassung Meisters darin, dass sie für unsere Gesellschaft Erzählungen bereithält, die in ihrer Anschaulichkeit Menschen so bewegen, dass sie für ihr moralisches Urteil noch eine Bedeutung haben können. Wie z.B. die Geschichte vom barmherzigen Samariter, die den Sinn für das Mitleid wecke und die Frage "Wer ist mein Nächster?" thematisiere. Dies sei momentan auch eine Schlüsselfrage unserer Gesellschaft. Diese Geschichte zu erzählen, wachzuhalten und damit Menschen anzuregen, bleibt eine prägende Aufgabe der religiösen Gemeinschaften.
Meister zufolge übernehmen Religionen zudem weltweit eine Schlüsselrolle, um gesellschaftliche Prozesse zu heilen. Einer Studie des Soziologen Hans Joas (Meister bezeichnete ihn als "katholischen Theologen") habe gezeigt, dass Gesellschaften, in denen Religionen weniger prägend waren, andere große Erzählungen als Erklärungsmuster erfanden, um die Gesellschaft zu stabilisieren. Religion sei also nicht die einzige Antwort auf die Sinnsuche.
Eine weitere Bedeutung von Religion, die zunehmend auch von Menschen geschätzt werde, die mit Religion nichts am Hut hätten, sei die Rolle der Kirchenräume. Hier erwähnte Meister den Brand der Willehadikirche in Garbsen 2013. Kirchenräume riefen aus, was die Rolle von Religion in einer Gesellschaft meine. Kirchen, Moscheen und Synagogen seien die großen Trostorte einer Gesellschaft, wie z.B. nach den Anschlägen vom 11. September 2001. Sie seien "die Naherholungsgebiete für die bedrohten Seelen unserer Welt".
Zudem seien Kirchenräume und religiöse Orte Asylorte, Schutzräume. Und zwar für die Sprache. Dort werde anders gesprochen, dort bezöge man sich meistens auf sehr alte Texte in einer kostbaren Sprache. Sätze wie "Willst du N.N. als deine Ehefrau annehmen?" entzögen sich dem säkularen Sprachgebrauch. Meister zitierte den Philosphen Jürgen Habermas mit den Worten "Als sich Sünde in Schuld und das Vergehen gegen göttliche Gebote in einen Verstoß gegen menschliche Gesetze verwandelten, ging etwas verloren." Habermas habe bemerkt, was passiere, wenn der religiöse Asylort für die Sprache wegfalle. In religiösen Räumen habe eine Hoffnung ihren Ort, die wir uns überhaupt nicht mehr trauten, in der säkularen Welt zum Ausdruck zu bringen.
Alle Religionsgemeinschaften seien aufgerufen, an der Kultur des interreligiösen Gespräches teilzunehmen.
Podium, Runde 1
Im Anschluss an Meisters Referat machte Sven Speer deutlich, wie sich die weltanschaulichen Kräfte in Niedersachsen verschoben haben: 1950 seien 77 Prozent der Niedersachsen evangelisch gewesen, heute seien es noch knapp 50 Prozent. Der Anteil der Katholiken habe 1950 bei 19 Prozent gelegen und heute immer noch bei 18 Prozent. Andere Religionen und Konfessionslose hätten 1950 4 Prozent ausgemacht, heute gäbe es in Niedersachsen 3 Prozent Muslime und 26 Prozent Konfessionslose. Die Nichtreligiösen seien also in Niedersachsen am stärksten gewachsen. Von Guido Wiesner wollte Speer wissen, ob auch die Bedeutung des Humanistischen Verbandes entsprechend gewachsen sei, oder ob sie etwa abgenommen habe, weil es heute weniger Religiöse gibt.
Wiesner bestätigte die Abkehr von religiösen Strukturen und sagte, er kenne auch viele "Schläfer", die zwar noch Kirchenmitglied seien, sich aber nicht engagierten oder noch nicht ausgetreten seien. Wiesner glaubt, dass die Kirchen an ihre Grenzen gestoßen sind. Seiner Erfahrung nach suchten die Menschen nach anderen Lösungen als denen, die die Kirchen in den letzten Jahren angeboten haben. Die Menschen wollen heute pragmatische Lösungen. Als Beispiel nannte Wiesner den Amoklauf in München am 22. Juli dieses Jahres. Dort habe es eine Andacht in der Liebfrauenkirche gegeben. Der überwiegende Teil der Opfer seien allerdings Muslime gewesen. Hier stelle sich die Frage, warum man keine Gedenkveranstaltung in einer Moschee gemacht habe – auch als Zeichen dafür, wie offen die Gesellschaft geworden sei. Hier sei eine Chance verpasst worden.
Wiesner zufolge sind die Phrasen der Kirchen oft nicht mehr mit dem heutigen Leben kompatibel – zum Beispiel, wenn Naturereignisse als Fügung Gottes Beschrieben werden. Die Menschen wollten heute andere Antworten haben, die sie in den Kirchen nicht mehr fänden – daher auch die Austritte.
Wiesner sieht die Säkularisierung in unserer Gesellschaft auf einem großen Vormarsch. Die Menschen würden selbst denken und erforschen, was sie glauben wollten und wem sie sich anschließen, und ob freies Denken gewünscht werde oder nicht.
An Ingrid Wettberg richtete Speer die Fragen, ob es Juden in Deutschland schon vor den Christen gegeben habe, ob Deutschland eine jüdische Renaissance erlebe, und wie sich das Judentum zahlenmäßig und im Hinblick auf das Gemeindeleben entwickele.
Frau Wettberg erklärte, die älteste jüdische Synagoge sei in Köln ausgegraben worden und datiere von 333. Die Juden seien ab ca. 300 mit den Römern in das Gebiet des heutigen Deutschlands gekommen und hätten sich vor allem in Köln, Mainz und Worms angesiedelt. Bis 1.100 habe es ein gutes Zusammenleben mit den Christen gegeben, dann seien die Kreuzzüge über Deutschland hinweggegangen: "Es wurde gemordet ohne Ende."
Bis zur französischen Revolution mussten die Juden in Ghettos leben, unterlagen vielen Beschränkungen und mussten machen, was den Christen verboten war. Bis zum 2. Weltkrieg gab es 500.000 Juden in Deutschland, darunter so berühmte wie Hanna Ahrendt, Arthur Schnitzler, Max Reinhardt, Max Liebermann, Kurt Tucholsky oder Albert Einstein.
Nach dem Krieg hätten viele überlebende Juden auswandern wollen, einige aber seien geblieben. Deren Gemeinden seien klein und orthodox gewesen, da es sich um polnische Juden gehandelt habe. Und so sei das Judentum "dahingedümpelt": Bis 1989 habe es 26.000 Juden in Deutschland gegeben, und diese seien fast alle sehr alt gewesen: "Fünf Jahre später hätte Hitler gewonnen." Aber dann seien nach die Juden aus der ehemaligen Sowjetunion gekommen. Dadurch sei das Judentum wieder pluralistischer geworden und es konnten sich auch liberale Gemeinden bilden. Das sei die "Renaissance" gewesen, die Speer ansprach. Nach der Zuwanderung habe die Zahl der Juden mal 200.000 betragen, jetzt seien es aber wieder unter 100.000. Jüdische Gemeinden gibt es nur in den großen Städten. "Das ganze Landjudentum, das ist tot, und das wird es nie wieder geben." Da gäbe es nur noch Stolpersteine (Gedenksteine, die an deportierte und ermordete Juden erinnern), aber keine Juden mehr. In Niedersachsen gäbe es 280 jüdische Friedhöfe ohne Gemeinden, zu jedem dieser Friedhöfe habe mal eine kleine jüdische Gemeinde gehört.
Frau Wettberg denkt, dass jüdisches Leben in Deutschland auf Dauer Bestand haben wird. Allerdings sei man von Normalität noch meilenweit entfernt, was sich z.B. an Drohungen und notwendigen Sicherheitsmaßnahmen zeige. 30% der Deutschen seien antisemitisch eingestellt. Der Antisemitismus habe sich in einen Antizionismus verwandelt. Frau Wettberg ist auch Mitglied im Rat der Religionen in Hannover.
Von Ali Faridi wollte Speer wissen, ob es eine religiöse Renaissance gebe, oder nur eine Zunahme religiöser Vielfalt.
Faridi beobachtet in erster Linie eine Zunahme der Religiosität, die nicht unbedingt damit zu tun habe, ob man sich einer Religionsgemeinschaft direkt zugehörig fühlt oder nicht.
In einem kleinen Exkurs stellte Faridi das Haus der Religionen in Hannover vor, das bundesweit einzigartig sei. Es sei ein Zentrum der Begegnung für interreligiöse und interkulturelle Bildung, kein Gebetsort und auch keine Interessenvertretung der Religionen. Vormittags kämen viele Schulklassen, abends und am Wochenende gäbe es Veranstaltungen zur Erwachsenenbildung, z.B. die Veranstaltungsreihe „Bibel und Koran“, oder derzeit „Tora und Koran“. Man könne sagen: Menschen, die schon mal in einer Synagoge oder in einer Moschee waren, seien mehr oder weniger gegen Fremdenfeindlichkeit geimpft. Auch der Humanistische Verband sei auf eigenen Antrag hin Mitglied des Forums der Religionen, denn es gebe viele Schnittmengen. Faridi hofft, dass irgendwann Häuser der Religionen auch in anderen Ländern mit anderen religiösen Prägungen entstehen. Er empfahl auch das von Rat der Religionen herausgegebene Buch "Religionen in Hannover".
Anschließend nahm Bischof Meister zu der These von Guido Wiesner Stellung, dass die Kirchen nicht mehr kompatibel mit der Lebensrealität der Menschen seien. Seiner Erfahrung nach verließen Menschen die Kirche, weil sie mit deren Antworten nichts anfangen könnten oder sagten: Das bringt mir nichts, was die Kirche tut. Aber er würde das nicht generell sagen. Die Austrittszahlen in Niedersachsen bewegten sich im mittleren Feld der EKD-Mitgliedskirchen.
Zum "Rückgang der Religion" wies Meister darauf hin, dass die Religion weltweit allein schon durch das Bevölkerungswachstum massiv wachse. Die Vorstellung, es gäbe irgendwann eine religionslose Welt oder eine religionslose Gesellschaft, sei eine große Illusion, die schon seit Karl Marx falsch sei. Es gebe den schönen Satz: Die Menschen verlassen die Kirche in Mengen, zurückgewinnen kann man sie nur einzeln. Die Entscheidung für die Kirchenmitgliedschaft müsse eine aufgeklärte, individuelle Entscheidung sein. Ihm sei klar, dass bei der Antwort auf die Frage "Warum bin ich Kirchenmitglied?" ein paar der 23 Millionen Protestanten in Deutschland länger zögern würden. Aufgabe der Kirche sei, in dieses Zögern hineinzugehen und nicht zu fragen: Dir fehlt doch gewiss was, wenn du nicht mehr in der Kirche bist. Sondern zu fragen: Gibt es Grundfragen in deinem Leben, die du mit all dem, was du weißt, was du liest, mit deinem aufgeklärten Verstand, und mit den klügsten Leuten, mit denen du dich umgibst, nicht geklärt bekommst? Ohne die Frage nach Gott zu stellen.
Meister glaubt nach wie vor, dass eine Gesellschaft ohne Gott eine ganze Menge verliere. Die evangelische Kirche sei in Deutschland im sozialen Bereich mit Abstand der stärkste Vertreter von ehrenamtlichem Engagement im sozialen Bereich. Das zeige, dass darin auch für viele Menschen ein Sinnhorizont sei: In der Kirche und mit der Kirche kann ich anderen helfen.
Podium, Runde 2
Seine zweite Fragerunde begann Speer wieder mit Zahlen: Die repräsentative Studie "Wahrnehmung und Akzeptanz religiöser Vielfalt" habe für Westdeutschland ergeben: 7% der Befragten hätten eine negative Haltung gegenüber Christen, 28% gegenüber Juden, 31% gegenüber Atheisten, und 58% gegenüber Muslimen. Von Frau Wettberg wollte er wissen, wie es um die Akzeptanz des Judentums im Alltag bestellt sei.
Frau Wettberg erklärte zunächst, was "liberale" jüdische Gemeinde bedeute: nämlich, dass Frauen und Männer in der Synagoge gleichberechtigt und nicht räumlich getrennt seien. Man wolle ein modernes, zeitgemäßes Judentum leben.
Antisemitismus funktioniere auch ohne Juden. "Der moderne Antisemit hat keine Glatze mehr, der hat Manieren. Er trauert um die Juden, die im Holocaust ums Leben kamen, und fragt gleichzeitig, warum die Überlebenden – sprich: Israel – nichts aus der Geschichte gelernt haben. Der moderne Antisemit findet ordinären Antisemitismus ordinär, bekennt sich aber zum Antizionismus. Und stört sich nicht daran, was Israel macht, sondern dass es Israel überhaupt gibt."
Die liberale jüdische Gemeinde habe 800 Mitglieder aus 18 Nationen. Eine solche Gemeinde müsse auch erst einmal zusammenwachsen. Man wolle ein offenes Haus sein und müsse gleichzeitig die Türen abschließen. Es müsse aber etwas gegen das Nichtwissen getan werden.
Herrn Faridi fragte Speer nach Diskriminierungserfahrungen kleiner Religionsgemeinschaften.
Faridi zufolge ist vor allem die jüdische Gemeinde und gelegentlich die muslimische Gemeinde von Diskriminierung betroffen, alle anderen weniger. Der Dialog der Religionen könne dazu beitragen, dass solche Dinge nach und nach verschwinden. In der Begegnung und im Gespräch sollten die Gemeinsamkeiten der Religionen hervorgehoben werden. Diese Schnittmenge sei enorm groß. Das von Bischof Meister erwähnte Beispiel – die Ableitung der Menschenwürde aus der Ebenbildlichkeit Gottes – sei bei allen Religionen relevant, vor allem bei den abrahamitischen, und aus dieser Ebenbildlichkeit lasse sich auch sehr leicht eine Schicksalsgemeinschaft aller Menschen ableiten. Denn gemeint sei damit nicht nur die Ebenbildlichkeit der Angehörigen einer bestimmten Religion, sondern aller Menschen. Das Gefühl der Schicksalsgemeinschaft sei am Wachsen und Einrichtungen wie das Haus der Religion, die Gespräche und Begegnungen ermöglichen, würden dazu noch mehr beitragen. Die Individualisierung habe zugenommen, aber gleichzeitig fände auch eine Fragmentierung der Gesellschaft statt. Es bildeten sich viele Parallelebenen. Religiös geprägte Menschen sollten die Hoffnung nicht verlieren und auf die Empathiefähigkeit der Menschen hoffen. Das sei dann viel mehr als nur Mitleid, nämlich, dass sowohl Freude als auch Leid miteinander erlebt würden. Das sei auch ein Bestandteil des Hauses der Religionen, in dem auch gemeinsam Feste gefeiert würden. "Mit Utopien von vorgestern kann man nicht die Probleme der Zukunft lösen."
Auch Herr Wiesner wurde von Sven Speer nach Diskriminierungserfahrungen gefragt. Immerhin hätten 30 Prozent der Bevölkerung Vorbehalte gegenüber Atheisten, und der Humanistische Verband Deutschlands habe gerade den Bericht "Gläserne Wände" zur Benachteiligung Nichtreligiöser herausgegeben.
Wiesner zufolge müssen immer noch dicke Bretter gebohrt werden. Um die Situation zu verbessern, müsse ein Interesse füreinander entwickelt werden, vielleicht auch eine gewisse Neugier. Ob es in wesentlichen Fragen überhaupt so viele trennende Elemente gebe? Wiesner sagte, man solle sich auf die Stärken konzentrieren und die Schwächen etwas vernachlässigen, um auf einen gemeinsamen Nenner zu kommen. Er rief auch dazu auf, sich auf der Website des Humanistischen Verbandes zu informieren und erwähnte verschiedene Aktivitäten, darunter den kürzlich gegründeten humanistischen Chor. Die Humanisten seien seit 10 Jahren Mitglied beim Forum der Religionen. Natürlich gebe es in der Sache auch Differenzen und auch unterschiedliche Sichtweisen. Aber das Entscheidende sei, dass man sich nicht militant bekämpfe, sondern die Meinung der anderen anhöre. Benachteiligung oder Vorbehalte gegenüber Atheisten konnte Wiesner aus seiner eigenen täglichen Arbeit in Niedersachsen nicht erkennen, "im Gegenteil". Da seien wahrscheinlich Statistik und Wahrheit zweierlei Dinge. Wo Menschen seien, da menschele es. Jeder habe selbst in der Hand, wie er mit anderen Menschen umgehe. Sei man neugierig oder pauschal ablehnend aufgrund fehlender Information? Die Anwesenden am Tisch seien auf einem guten Weg, um da ein stabiles Fundament zu legen.
Von Bischof Meister wollte Speer wissen, ob es auch für evangelische Christen schwieriger geworden sei, ihren Glauben zu leben. Immerhin seien die Protestanten sind in Niedersachsen bald keine Mehrheit mehr, manche redeten auch von einem kämpferischen Atheismus. (Für den Herr Wiesner kein Vertreter sei.)
Auch Meister konnte diese Erfahrung persönlich nicht bestätigen. Allerdings binde die Frage die Schwierigkeit an die Religiosität: Du bist evangelischer Christ, hast du Schwierigkeiten in diesem Land? Die Antwort darauf sei ein eindeutiges Nein, und er kenne auch keine Fälle gegenteiligen Fälle. Allerdings würde er schon sagen, dass es an manchen Punkten schwieriger geworden sei, religiös zu argumentieren, und dafür Resonanz zu gewinnen, und dass es schwieriger geworden sei, sich mit theologischer Überzeugung öffentlich in die Debatte einzuschalten. Als Beispiel nannte Meister die Sterbehilfedebatte. In den Talkshows seien in der Regel auch immer Kirchenvertreter dabei gewesen, und es habe im Hintergrund massive Kritik gegeben, dass die Kirche an dieser Stelle so offensiv Stellung bezöge. Das gehöre sich nicht. Das, so Meister, sei ein Ton, der ein wenig irritiere in einer Staatsform, die die Religionsfreiheit garantiere, und den Öffentlichkeitsauftrag der Kirchen durch die Staatsverträge auch noch einmal garantiere. Natürlich müsse man damit rechnen, dass dann die Kirche auch das Wort ergreift. Aber ob es in irgendeiner Weise einen Nachteil durch die religiöse Identität in Deutschland gebe, da sei die Antwort „Nein“.
Allerdings müsse man nur 30 Jahre zurückgehen, um zu wissen, dass in Deutschland solche Einschränkungen zur Zerstörung von Abertausenden Biografien von Menschen in den östlichen Bundesländern geführt hätten. Heute gebe es das aber mit Sicherheit nicht.
Zuhörerbeiträge
Im Anschluss an das Podiumsgespräch wurden Zuhörerfragen entgegengenommen.
Ein Zuhörer vertrat die Auffassung, dass die Kirchen Werte und Normen nicht vorgäben, sondern nur nachzögen, z.B. beim Thema Homosexualität. Er fragte nach dem Unterschied zwischen Religion und Religiosität. Bischof Meister antwortete, viele Menschen fühlten sich religiös, wenn sie ins Fußballstadion oder in die Oper gingen. Für Meister wird eine religiöse Einstellung zur Religion, wenn sie Sinnfragen nicht nur mit den Kategorien dieser Welt beantwortet, sondern mit Bezug auf eine Gottheit. Für Ali Faridi ist derjenige religiös, der Empathie für andere Menschen empfindet, friedfertig ist und teilen kann.
Auf die Frage, wie politisch die Kirche sein dürfe oder müsse, antwortete Bischof Meister, im Nationalsozialismus sei für die Kirche die Notwendigkeit entstanden, dezidiert öffentlich politisch zu sein, und diese Tradition trage sich in bestimmten Weisen fort. Es habe damals eine theologische Grundsatzerklärung gegeben (gemeint ist die Barmer Theologische Erklärung), die deutlich gesagt habe: Die Kirche kann nicht Staat sein, und der Staat kann nicht Kirche sein. Aber die Kirche sei aufgerufen, wenn der Staat nicht die Menschenwürde achtet – in theologischen Worten: nicht Jesus Christus folgt – zu intervenieren. Bis ins Martyrium. Dann dürfe man jemanden umbringen – den Tyrannenmord –, oder auch sich selbst in den Tod geben. Was Meister zufolge heute nicht zulässig ist, sind parteipolitische Interventionen. Er achte darauf, dass die evangelische Kirche in Niedersachsen zu Parteiprogrammen keine Stellung nehme. Und zu welchen Themen man Stellung nehme, müsse man sehr reservieren.
Ein Zuhörer berichtete von seinen Eindrücken beim Tag der offenen Moschee: Dort schienen vor allem Rentner hinzugehen. Er wollte wissen, ob es auch Gegenbesuche gibt: Ob z.B. auch Muslime in eine Kirche kommen dürften, und ob sie dann auch tatsächlich kommen würden.
Bischof Meister antwortete, das geschehe tatsächlich, wenn auch nicht in einem Maß, wie man sich es wünschen würde. Dies hinge auch damit zusammen, dass gerade die islamischen Gemeinden wenig hauptamtliches Personal hätten. Dies sei die erste Generation, die in einer Gesellschaft groß werde, die sehr deutlich von der Pluralität der Religionen beeinflusst sei, von den Konflikten, den Auseinandersetzungen, den Ängsten usw. Diese Situation sei eine völlig neue. Alle seien aufgerufen, in vielen Schritten aufeinander zuzugehen.
Zu Guido Wiesners Beispiel mit der Gedenkfeier nach dem Amoklauf in München sagte Meister, irgendwann werde es selbstverständlich sein, dass es bei einem solchen Anlass ein Miteinander von Religionen und Konfessionslosen gebe. Er selbst habe vor zwei Jahren vorgeschlagen, den ökumenischen Gottesdienst zum Tag der deutschen Einheit mit anderen Religionen zu feiern. Andere Kirchenobere hätten – zu Recht – eingewandt, dass es dann kein Gottesdienst mehr sei. Am Ende sei eine kleine Geste herausgekommen, dass nämlich am Ende des Gottesdiensts je ein Vertreter der jüdischen und einer muslimischen Gemeinde einen Friedensgruß ausgeteilt hätten. Das sei so ein winziger Schritt, und dabei könne es nicht bleiben. Es müssten Formen gesucht werden, die kennen wir alle noch nicht kennen, und die müssten eingeübt werden. Da passiere in den Ortsgemeinden schon mehr, als sich die Kirchenoberen trauen würden.
Ratsmitglied Orhan Akdag von der islamischen Gemeinde in Garbsen erinnerte daran, dass 2013 nach der Brandstiftung bei der Willehadi-Kirche Muslime bis 3 Uhr Wache gehalten hätten. Die islamische Gemeinde veranstalte seit Jahren den Tag der offenen Moschee, aber das Interesse der Mitbürger hielte sich sehr in Grenzen. Es kämen nur eine Handvoll Besucher.
Als Beispiel für den täglichen Umgang mit den Religionen erwähnte Guido Wiesner ein Pilotprojekt aus Osnabrück, wo der Humanistische Verband gemeinsam mit der katholischen und der evangelischen Kirche einmal im Monat gemeinschaftliche Trauerfeiern für Menschen ohne Angehörige oder Obdachlose durchführe. Dort gebe es kein Gegeneinander, sondern ein ausgewogenes Miteinander. In Bramsche habe der Humanistische Verband eine Begegnungsstätte mit initiiert, wo Flüchtlinge in den Dialog mit anderen Menschen aus der Gesellschaft treten könnten.
Ein Zuhörer berichtete, dass er vor einigen Jahren bei einem Stadtteilfest eine jüdische Tanzvorführung gesehen habe, das Jahr darauf aber nicht mehr. Auf Nachfrage habe er erfahren, dass die Tanzgruppe bei ihrem Auftritt derartig angegriffen worden sei, dass sie meinte, nicht wieder an dem Fest teilnehmen zu können. Frau Wettberg bestätigte den Vorfall: Vor drei Jahren sei die Tanzgruppe mit Steinen beworfen und es sei gerufen worden "Juden raus!" Es habe damals allerdings auch sehr viele positive Rückmeldungen gegeben von entsetzten Menschen, die geschrieben hätten, so etwas dürfe nicht sein. Die Tanzgruppe habe ihren Schock mittlerweile überwunden und trete auf Anfrage auch wieder bei Stadtteilfesten auf.
Ein Problem sei, dass es heute kaum noch Begegnungen mit Juden gebe. Erst kürzlich habe ihr eine alte Frau gesagt – das sei eben in den Köpfen der Menschen noch drin – "Ach, Sie sind Jüdin? Dafür sehen Sie aber ganz normal aus." Die Frau habe sich dann entschuldigt und gesagt, sie kenne keine Juden. Sie habe noch den "Stürmer" vor Augen, wo die Juden mit riesigen Hakennasen dargestellt wurden und gräulich aussahen. Die jüdische Gemeinde wolle ein offenes Haus sein, aber sie brauche auch Hilfe von außen. Man könne gerne freitags zum Gottesdienst kommen – allerdings mit vorheriger Anmeldung. Obwohl es nur hunderttausend Juden in Deutschland gebe und diese sich stark zurücknähmen, müssten nur jüdische Einrichtungen derart geschützt werden. Früher hätte auf den Gemeinderundschreiben als Absender „Liberale Jüdische Gemeinde“ gestanden. Da hätten sich viele Gemeindemitglieder gemeldet und gesagt, wir möchten nicht, dass der Briefträger sieht, woher wir Post bekommen. Jetzt stünde dort nur noch "L.J.G.H.". Vielleicht werde das einmal besser, aber Frau Wettberg kann es nicht ganz glauben.
Ein pensionierter Werte-und-Normen-Lehrer, der auch Mitglied im Humanistischen Verband ist, wies darauf hin, dass es in Niedersachsen an Grundschulen keinen Werte-und-Normen-Unterricht gibt. Kinder, die keinen Religionsunterricht besuchten, würden mit Hausaufgaben beschäftigt, müssten aber während des Religionsunterrichts anwesend sein, oder sie müssten sich auf dem Flur aufhalten. Nun fordere der Fachverband Werte und Normen auch für die Grundschulen einen religionsungebundenen Ethikunterricht. Der Fragesteller wollte wissen, ob die Kirche diese Forderung unterstütze. Die Antwort von Bischof Meister war eindeutig: "Die Stimme der evangelischen Kirche in Niedersachsen für die Forderung, die ja jetzt auch in einer Petition erhoben worden ist, die haben Sie. Wir unterstützen dieses Anliegen von Ihnen."
Ein Zuhörer befürwortete Veranstaltungen wie diese, wo man miteinander rede. Er wies aber darauf hin, dass der Grund für religiöse Diskriminierung unter anderem auch bei den Religionen selbst liege. Beispielsweise gebe es im Islam die Dreiteilung von Muslimen, Dhimmis (Angehörige anderer Religionen) und Harbīs (Menschen, die gar keine Religion haben). Martin Luther habe von den Juden und ihren Lügen geschrieben. Bischof Meister habe zwar in seinem Vortrag gesagt, im Dritten Reich hätte die Kirche politisch werden müssen – damals sei die Kirche allerdings noch mitgeschwommen, und heute schwämme sie eben in die andere Richtung.
Meister entgegnete, Religionen seien lernende Religionen. Der Zuhörer habe Recht, aber die Frage sei: Wie verhält sich die Kirche heute dazu? So würde man z.B. im Zusammenhang mit dem Reformationsjubiläum keine Veröffentlichung finden, die sich intensiv mit dem Reformationsjubiläum auseinandersetze und nicht diese Schrift Martin Luthers erwähne und die klare Absage an diesen Text. Es werde im März nächsten Jahres – unter anderem auch durch Meisters Initiative – bei der Eröffnung der Woche der Brüderlichkeit noch einmal eine erneute Anerkennung des Versagens Martin Luthers in diesem Zusammenhang geben. Dazu werde eine symbolische Geste gegenüber Vertretern von jüdischen Gemeinden, nicht nur aus Deutschland, erfolgen. Wichtig sei: Wie gehen wir mit genau diesen Fehlern um? Die Kirche werde dann unglaubwürdig, wenn sie zeige, wir haben daraus nichts gelernt.
Ali Faridi wollte die Religionen insofern in Schutz nehmen, als Religionen lern- und entwicklungsfähig seien – auch das gehöre zu einer lebendigen Religion. Vielleicht sei es auch ein Zeichen der Religiosität, dass man nicht so nachtragend sein sollte. Wichtig sei, wie die Religionen jetzt zu verschiedenen Themen stünden.
Ingrid Wettberg bedankte sich für den Hinweis auf Luther. Der Weg sei bereits geebnet gewesen, Hitler habe nur noch zuzugreifen brauchen. Was sie heute umtreibe, seien der Islamische Staat und die Selbstmordattentäter, die sich auf den Islam beriefen. Ihr mache Angst, sich auf eine Religion zu beziehen und mordend und tötend durch die Gegend zu laufen. Sie wisse, dass die islamischen Gemeinden hier damit absolut nichts zu tun hätten, würde aber manchmal gerne deren Stimme noch lauter hören, dass sie das völlig ablehnten.
Eine Zuhörerin, die der Bahai-Religion angehört, äußerte Verständnis für Frau Wettbergs Ängste. Sie habe selbst aus Persien fliehen müssen, ihr Großvater sei umgebracht worden.
Eine Zuhörerin fragte, ob es nicht sinnvoller sei, wenn die Kinder einen gemeinsamen Unterricht erhielten, wo sie die Religionen kennenlernen und Werte und Normen vermittelt bekommen. (Aus Zeitgründen wurde diese Frage nicht mehr beantwortet.)
Ein Zuhörer meinte, in China sei die Religionsausübung jetzt wieder erlaubt worden, weil die Politiker dort festgestellt hätten: Wenn die Gesellschaft keine Religionsausübung mehr habe, ende sie im Chaos. Es sei kein Zusammenhalt in einer Gesellschaft, wenn die Religionen verboten würden und verschwänden. Er hielt es auch für ein Versäumnis der Kirchen, dass zwar jeder, der getauft wurde, als Christ gelte, die meisten aber ein Problem hätten, ihren Glauben zu definieren. "Wenn sie dann mit einem aktiven Moslem über den Glauben reden, was glauben sie, was der von ihnen hält, wenn sie noch nicht mal ihren Glauben ausdrücken können?"
Ein Zuhörer rief dazu auf, die Wahrheit beim Namen zu nennen: Das das große Problem sei der Islam, der ein Problem mit dem Judentum und dem Christentum habe, mit Atheisten sowieso. Er selbst sei anwesend gewesen, als die Steine auf die jüdische Tanzgruppe geworfen wurden. Die Steine seien von Muslimen geworfen worden. Der Islam müsse endlich kritikfähig werden.
Es wurde auch noch auf mehrere bevorstehende verbindende Termine hingewiesen: Neben dem Tag der offenen Moschee am 3. Oktober auch das islamisches und das jüdische Neujahrsfest am 2. bzw. 3. Oktober.
Schlussworte
In seinem Schlusswort sagte Guido Wiesner, ein Gegeneinander funktioniere nicht, sondern nur ein Miteinander. Auch unbequeme Punkte müssten offensiv angesprochen werden. Toleranz zeige sich im Handeln, und dazu seien alle verpflichtet. "Die Summe unserer Mosaiksteine, die wir hier bilden, ergibt dann hoffentlich irgendwann mal ein für uns alle zufriedenstellendes Bild."
Ali Faridi schloss mit dem Hinweis, man solle nicht zu viel von den Schulen und von den Kirchen erwarten. Werteerziehung beginne in der Familie. Vieles, was in der Familie krummgebogen werde, könnten Schule und Kirchen nicht wieder geradebiegen. Deshalb sei Werteerziehung in den Familien und in der Kindheit wichtig.
Ingrid Wettberg meinte, die Zukunft müsse gemeinsam gestaltet werden. Das ginge nur im Gespräch von Mensch zu Mensch. Man müsse aufeinander zugehen, und das ginge nur im eigenen Umfeld. Man solle den anderen zu verstehen versuchen und so annehmen, wie er ist.
Bischof Meister sagte, die überzeugendsten Erzählungen seien die des eigenen Lebens. "Und das, finde ich, kann man mit großem Stolz sagen: Dass wir in den vergangenen Jahrzehnten in einem Land gelebt haben, das große Herausforderungen hatte – und im Moment auch große Herausforderungen vor sich hat – und es (…) weitestgehend schafft, dieses friedlich und gerecht in unserer Gesellschaft zu organisieren. Und deswegen bin ich nach wie vor außerordentlich optimistisch, dass wir es schaffen, im Miteinander der Religionen eine Zukunft für dieses Land zu gestalten, und im Miteinander der Religionen auch mit denen, die keine Religion haben."