Der WWDOGA (Worldwide Day of Genital Autonomy) wird traditionell um den 7. Mai in Köln und anderen Großstädten weltweit gefeiert. Er steht für das Recht auf genitale Selbstbestimmung aller Kinder – ohne Ausnahme. Seit 2013 kommen in Köln alljährlich Aktivist*innen aus der ganzen Welt zusammen und machen auf die Botschaft mit einem Demonstrationszug und einer Kundgebung aufmerksam.
Aufgrund der Corona-Pandemie wurde die Live-Veranstaltung in diesem Jahr abgesagt und stattdessen das Alternativ-Konzept der "Virtuellen Kundgebung" entwickelt. Sechs Tage lang, vom 4. bis zum 9. Mai, gab es täglich in den sozialen Medien und auf der offiziellen Website fortlaufend neue Video-Statements. Im digitalen Raum entstand so eine ganze "Woche der genitalen Selbstbestimmung".
Die insgesamt 30 Videos stellen eine vielfältige und vielseitige Mischung dar. Nicht nur sind es verschiedene Nationen (Uganda, Kenia, Dänemark, Finnland, Großbritannien, Frankreich, Israel, Irak, USA), die sich zu Wort melden, auch die Hintergründe der einzelnen Organisationen könnten vielfältiger nicht sein: Ärzteverbände, Mitglieder des Bundestages, Menschenrechtsorganisationen, Vertreter*innen aus der Queerbewegung – sie alle treffen mit einem gemeinsamen Anliegen zusammen.
Wie aber verhält man sich nun als Gast oder Journalist auf einer virtuellen Kundgebung? Da gibt es mehrere Möglichkeiten. Ähnlich wie beim On-Demand-Streaming einer Theaterpremiere kann man den Zeitpunkt und die Dichte des Konsums selbst wählen. Tägliches Reinklicken und Weiterleiten der spannendsten Videos an die eigenen Kontakte, Posten auf Facebook mit Kommentaren wie "ich demonstriere – auf der Couch, wer macht mit?" funktioniert ebenso wie etwa eine heimliche Teilnahme, ohne gesehen zu werden und ohne darüber zu sprechen. Wer die Option wählt, die ganze Kundgebungs-Playlist einmal nonstop anzusehen (seit Samstagabend möglich), trifft bei einer Gesamtlaufzeit von 105 Minuten auf ein sogenanntes abendfüllendes Werk (Spielfilmlänge).
Gemessen an den Reden, die in früheren Jahren in Köln und später als Video-Dokumentation auf Youtube zu sehen/hören waren, gestaltet sich die Aktion auch in inhaltlicher und technischer Hinsicht diverser und natürlich ganz anders als bei Live-Reden. Die Videos wurden selbstverständlich vorab produziert, selbst wer direkt nach dem Upload reinschaltet, wird den Live-Moment so nicht erleben können. Die Redner*innen haben sich vorbereitet und der eine oder die andere wird sicherlich mehr als eine Aufnahme gemacht haben. Endlich kann man an der Rede feilen, den Text auch mal ablesen, sich ohne Zwischenrufe und Witterungs-Beeinträchtigung auf das zu Sagende konzentrieren. Für das Publikum liefert der ständige Szenenwechsel von einem Homeoffice ins nächste darüber hinaus auch einen gewissen optischen Reiz. Während der eine vor dem Bücherregal im Arbeitszimmer steht, dekorieren andere den Hintergrund mit Vereins-Logo oder Fahne, sitzen vor ihrem an der Wand lehnenden Cello im heimischen Musikzimmer oder stehen im leeren Plenarsaal und der Nächste sitzt lässig an der Bar einer wegen Corona geschlossenen Kneipe. Innerhalb kurzer Zeit reist man als Zuschauer einmal um die Welt und von überall her kommt dieselbe Aussage immer und immer wieder: Stoppt nicht-therapeutische Eingriffe am Kinder-Genital.
Was bei diesem Format nur schwer erfolgen kann, ist der direkte inhaltliche Bezug aufeinander. Während alle in Quarantäne und Isolation ihre Gedanken zu Papier und vor die Kamera bringen, kann niemand auf die Vorredner*innen reagieren. So einhellig man in derselben Grund-Haltung ist, so unterschiedlich ist doch die Herangehensweise an das Thema der genitalen Selbstbestimmung. Das Schwerpunktthema in diesem Jahr war "Geschichte(n) der Aufklärung zu genitaler Selbstbestimmung", vielleicht hätte dies als Vorlage zur Einheitlichkeit helfen können, vielleicht ist die Einheitlichkeit im Rede-Inhalt aber auch gar nicht mehr das Ziel, wenn bereits das internationale Zusammentreffen in einer solchen Dichte das Zusammenwachsen dieses breit aufgestellten Bündnisses maßgeblich befördert. Das gemeinsame Feiern eines Gedenktages unter dem Motto der genitalen Selbstbestimmung aller Kinder wurde mehr als deutlich.
Dennoch: Beim Abspielen der Playlist en bloc kristallisiert sich der Trend heraus, dass reine Frauenrechts- oder -hilfsorganisationen fast ausschließlich über Mädchen und Frauen und damit über Weibliche Genitalverstümmelung (FGM) sprechen. Einzig Terre des Femmes e. V. nimmt Bezug zu Jungen und Männern und schließt diese in die Forderung zur Abschaffung nicht notwendiger Eingriffe am kindlichen Genital ein. Die Vorstandsvorsitzende Godula Kosak tut dies jedoch mit dem Hinweis, es sei hier schwieriger, sich zu positionieren, da Beschneidung von Jungen eine religiöse Vorschrift sei. Das irritiert ein wenig, da Terre des Femmes für eine explizit nicht-konfessionelle Haltung bekannt ist und häusliche Gewalt und Ehrenmord schließlich auch nicht schwieriger zu bewerten findet, wenn derartige Verbrechen aus einem religiösen Motiv heraus verübt werden. Vereine, die sich vorwiegend auf die Genitalverstümmelung von Jungen (MGM) fokussiert haben, gehen prinzipiell anders vor. Sie nehmen FGM grundsätzlich immer mit in ihre Forderungen auf, ziehen Parallelen, sehen die genitale Selbstbestimmung als ein geschlechterübergreifendes Anliegen.
Bei der virtuellen Kundgebung zu Hause auf der Couch hat man endlich die Möglichkeit, die Pausentaste zu drücken, sich einen Tee zu kochen und kurz innezuhalten. Das Gesagte geht weniger schnell unter und präsentiert sich in der Ruhe der häuslichen Quarantäne dann doch intensiver und unmittelbarer als live bei Sonne, Regen und im Menschengetümmel. Nebenbei klickt man sich durch die Webseiten diverser Medien, um zu sehen, was die Kolleg*innen so über den Welttag berichten. Neues Deutschland titelt am 6. Mai erst beherzt "Am Tag der Genitalen Selbstbestimmung …", um dann im Folgenden ausschließlich von FGM zu sprechen. Die Süddeutsche berichtet am 8. Mai über den Einsatz der AfD gegen FGM. Ohne die AfD anzugreifen, aber auch ohne den Welttag zu erwähnen.
Man kommt ins Grübeln und fragt sich: Woher kommt das eigentlich? Der Aktionstag am 7. Mai wurde durch das Kölner Urteil ins Leben gerufen. Dieses wiederum bezog sich auf die Beschneidung eines Jungen und der Deklarierung derselben als strafbare Körperverletzung. Wer über MGM spricht, spricht immer auch über FGM, umgekehrt ist dies jedoch nur sehr selten oder mit Vorbehalten der Fall. Wer über intersexuelle Personen spricht, tut dies mit Inbrunst, da ist man sich einig: Eine angleichende OP ohne Einwilligung der betroffenen Person, das geht ja gar nicht! Zugegeben: In diesem Fall steht einem auch keine religiöse Argumentation im Weg, es wird niemandes Weltanschauung verletzt, da alle Religionsgemeinschaften, die damit ein Problem hätten, die Existenz von intergeschlechtlich geborenen Kindern ohnehin leugnen. (Weil nicht sein kann, was nicht sein darf.)
Was aber ist da los mit FGM und MGM? Der jüdisch-amerikanische Sozialwissenschaftler Shemuel Garber schildert in seiner Rede einige Beobachtungen, die eine Erklärung für dieses Phänomen darstellen könnten. Zum einen weist er auf den "weißen Rassismus" hin, der dem Westen die Beschneidung von Frauen als fremd und daher barbarisch erscheinen lässt, während die Beschneidung von Männern flächendeckend seit Jahrhunderten Praxis auch in Europa und den USA ist. Eigene Verhaltensweisen infrage zu stellen würde voraussetzen, die Perspektive zu wechseln. Dies nicht zu tun oder zu wollen, ist das Grundprinzip, nach dem jede Form von Rassismus und Diskriminierung funktioniert. Sodann stellen Frauen in den allermeisten Gesellschaften noch immer eine unterdrückte Gruppe dar, die von vielen Rechten ausgeschlossen und rein aufgrund ihres Geschlechts diskriminiert wird. FGM in diesem Kontext als patriarchales Werkzeug zu erkennen, ist leicht. Die männliche Genitalverstümmelung ebenso als einen Akt der Unterwerfung zu durchschauen, ist nach dieser Logik schwieriger. Wo sie praktiziert wird, nehmen Männer in der Regel eine dominantere soziale Position ein. Sie werden demnach durch MGM nicht als Kollektiv unterdrückt, sondern individuell.
FGM als Ausdruck des Patriarchats abzulehnen, wäre demnach die erste Stufe der Erkenntnis, MGM in ebendiesem Kontext zu begreifen, ist der zweite Schritt und wer den vollzogen hat, hatte den ersten ja schon längst für sich verinnerlicht. Was die Thematik der geschlechtsangleichenden Operationen von intersexuellen Kindern betrifft, so ist dies nur vermeintlich eine Sonderposition. Wenn die Übergänge zwischen den Geschlechtern fließend sind, wie es uns die Wissenschaft lehrt, dann fließen auch die Grenzen der Erkenntnis: Wer FGM einmal als Unrecht erkannt hat, erkennt in der Folge auch das Unrecht an der OP eines Kindes, das auch weibliche Geschlechtsmerkmale hat und wird irgendwann die Genitalverstümmelung an Kindern ganz generell als patriarchales Werkzeug entlarvt sehen. Garber sieht in einer feministischen Herangehensweise eine erfolgversprechende Möglichkeit, auch die MGM als patriarchats-immanent bloßzustellen, da der Feminismus hervorragend dazu geeignet ist, patriarchale Muster zu durchschauen und aufzubrechen. Das männliche Geschlecht als eine Gruppe verletzungsoffener Individuen zu begreifen, ist für viele Menschen vermutlich der schwierigste Schritt – weil es seit Jahrtausenden in Stein gemeißelt steht, dass der Mann an sich die Welt regiert. Mit der Abschaffung von MGM wäre gleichsam die letzte Schraube im Gerüst des Patriarchats entfernt, um es zum Einsturz zu bringen. Und vielleicht liegt der globale Vollzug dieses Schrittes viel näher, als es im Augenblick aussieht.
Johan Nyman aus Finnland bringt diesen Gedanken in einfacher Sprache verständlich auf den Punkt: "Der beste Weg, das nicht-freiwillige Beschneiden von Genitalien für eine bestimmte Gruppe von Kindern einzudämmen, besteht darin, es für alle Kinder einzudämmen. […] Eine Familie, in der beide Elternteile selbst über ihren Körper und ihre Genitalien entscheiden durften, hat wahrscheinlich die besten Voraussetzungen, um einzuschätzen, wie wichtig es ist, ihrem eigenen Kind dasselbe Recht auf Selbstbestimmung über dessen Körper zu überlassen."
Auf die Hilfe von Politik und Medien sollte man dabei nicht übermäßig zählen. Auch das ist bei feministischen Anliegen nichts Neues. Der WWDOGA als virtuelle Kundgebung zeigt, wie der Einsatz der sozialen Medien für ein menschenrechtliches Ziel und im Kampf gegen das Patriarchat verwendet werden kann. Hätten die Suffragetten zu Anfang des 20. Jahrhunderts bereits Zugriff auf Facebook & Co. gehabt, hätte der Kampf um das Frauenwahlrecht sicherlich auch anders ausgesehen.
Was bei diesem Format am Rande auffiel, waren die teils verunsicherten Reaktionen im Bekanntenkreis der Organisator*innen – so ein Bericht aus dem Team: "Du hast mir da so einen Link geschickt. Das ist echt interessant. Aber, was soll ich denn jetzt damit machen?" "Am besten das Gleiche, wie mit allen Corona-Witz-Videos, die dir gefallen haben: liken, kommentieren, teilen …"
Vielleicht wäre für die Zukunft denkbar, ein Misch-Konzept zu entwickeln. Eine direkte Live-Übertragung der Kundgebung aus Köln gab es bereits in den vergangenen Jahren. Mitschnitte der Reden werden auch immer auf Youtube zur Dokumentation hochgeladen. Diese Playlists könnte man mit internationalen Homeoffice-Reden spicken. Oder wie wäre es mit einer Kommentar- oder Chat-Funktion? Während die Leute zu Hause die Live-Übertragung sehen, könnten sie virtuell miteinander ins Gespräch kommen. Auf jeden Fall ist den Initiator*innen zu wünschen, dass 2021 wieder real demonstriert werden kann und somit die Wahlmöglichkeit eines Formats besteht.
Während viele Redner*innen es in den Videos bedauern, dass das persönliche Treffen ausfällt, wartet der Brite David Smith (15 Square) mit einem unverbesserlichen Optimismus auf. Er sieht das Aussetzen verschiebbarer Operationen aufgrund der Pandemie als mögliche Chance vieler Jungen, ihre Vorhaut behalten zu können. Viele Menschen könnten nun die Erfahrung machen, dass es effektive alternative Behandlungsmethoden beispielsweise bei Vorhautenge gibt. Wenn man sich vor Augen führt, dass die meisten, die Alternativen kennen, ihre eigenen Kinder nicht operieren lassen, könnte dies der Anfang einer Art Infektions-Kette gegen die Beschneidungspraxis sein, die man durchaus positiv bewerten darf. Auch und gerade in Zeiten der Krise.
Kundgebung für Eilige, hier die Highlight-Empfehlung der Autorin:
Inge Bell, TDF
https://www.youtube.com/watch?v=wuGLb2YbYAU&list=PLP3sy53e5kvFnGCYvkFmpJz9dGS0dzkcX&index=1
Holger Edmaier (Projekt 100 % MENSCH)
https://www.youtube.com/watch?v=3mFn5354aU&list=PLP3sy53e5kvFnGCYvkFmpJz9dGS0dzkcX&index=2
Victor Schiering (MOGiS e. V. – Eine Stimme für Betroffene)
https://www.youtube.com/watch?v=145nV0nyvIQ&list=PLP3sy53e5kvFnGCYvkFmpJz9dGS0dzkcX&index=8
Prince Maloba (VVMC Experience Project)
https://www.youtube.com/watch?v=4lINOFGEavs&list=PLP3sy53e5kvFnGCYvkFmpJz9dGS0dzkcX&index=9
Matthias W. Birkwald, MdB, DIE LINKE
https://www.youtube.com/watch?v=0DtwDTTZ1M&list=PLP3sy53e5kvFnGCYvkFmpJz9dGS0dzkcX&index=18
2 Kommentare
Kommentare
Roland Fakler am Permanenter Link
Ein Kind hat ein Recht darauf, von seinen Erziehern unversehrt an Leib und Seele und mit Wertvorstellungen, die zur Gesunderhaltung von Leib und Seele beitragen, ins Erwachsenenalter geleitet zu werden…dann kann es üb
Ulf Dunkel am Permanenter Link
Danke für diesen sehr ausgewogenen Artikel - eine wirklich gute Zusammenfassung mit Anregungen, was die Organisator*innen noch besser machen könnten.
Ich persönlich sehe den WWDOGA (7. Mai) immer im Zusammenhang mit dem 12.12.12, als der Deutsche Bundestag das sog. "Beschneidungsgesetz", diesen "Fremdkörper im deutschen Rechtswesen" übereilt verabschiedet hat, ohne Betroffene anzuhören oder auch nur ein Jota am Gesetzestextentwurf zu ändern, wie es sonst üblich ist.
Einer der WWDOGA-Redner dieses Jahr sprach über "Shame" (Schande). Der WWDOGA sollte als Feiertag der Menschenrechte für Kinder mit diesem 12.12.12, dem Tag der Schande für den Deutschen Bundestag, zusammen gesehen und auch der 12.12. als Mahntag begangen werden.