Kommentar

Volksabstimmungen – das Ende der EU?

Seltsamerweise erscheint ein Verbot von Volksabstimmungen einigen keinesfalls als abwegig, weil sie in Volksabstimmungen schon immer ein zweitrangiges, untergeordnetes und vor allem mangelhaftes Entscheidungsverfahren zu erkennen glauben. Vom Grundsatz der Volkssouveränität ausgehend ist allerdings die direkte Sachabstimmung die originäre Willensäußerung. Allein die Frage der Praktikabilität verleiht der Repräsentation durch gewählte Vertreter eine breitere Anwendung, die allerdings in vielen Verfassungen zu einem Gesetzgebungsmonopol der Parteien mutiert und die Volkssouveränität in ein Trugbild verwandelt.

Dies wird momentan eindrücklich durch die offene Aufforderung bestätigt, das Ergebnis der Volksbefragung der Niederländer einfach zu übergehen, bzw. durch die offizielle Stellungnahme des EU-Ratspräsidenten Tusk, dass der Assoziierungsprozess mit der Ukraine trotz des niederländischen Vetos vorläufig in Kraft bleibt. Um zu erkennen, dass es sich hierbei womöglich um eine systemimmanente Missachtung demokratischer Entscheidungen mit Tradition handeln könnte, lohnt es sich einige Jahre zurückzublicken.

Den 2005 in den EU-Mitgliedsländern zur Annahme stehenden Vertrag über eine Verfassung von Europa lehnten Frankreich und die Niederlande per Volksabstimmung ab. Trotz dieses Vetos wurde die Substanz dieses Verfassungstextes nur zwei Jahre später, umbenannt als Reformvertrag, in die bestehenden Grundlagenverträge eingearbeitet und 2009 als Vertrag von Lissabon durch alle Mitgliedsländer ratifiziert. Allerdings konnten durch die nun bloße Änderung schon bestehender Verträge in fast allen Ländern Volksabstimmungen vermieden werden, bzw. wurden entsprechende Forderungen von den Parlamenten (z.B. in Frankreich, Großbritannien und Österreich) abgelehnt.

Einzig in Irland kam es im Juni 2008 zu einer Volksabstimmung, in welcher der Vertrag von Lissabon aber keine Mehrheit fand. Gelöst wurde dieses EU-Problem durch eine zweite, leicht abgewandelte Volksabstimmung im Oktober 2009, die dann positiv ausfiel. Bei Abstimmungswiederholungen hat die EU mittlerweile eine Tradition begründet, denn die Iren ließ man schon über den Vertrag von Nizza zweimal abstimmen (2001/02) bis das Ergebnis passte, genau wie vorher auch die Dänen über den Vertrag von Maastricht (1992/93). Und nun ein neuer Fall, die NEE-sagenden Niederländer - wie das Problem heute lösen?

Ein Vergleich der genannten Ereignisse zeigt folgende Entwicklung auf: In allen drei Fällen ging es um Entscheidungen der EU, die Einstimmigkeit der Länder erforderten. Das Veto Frankreichs durch Volksabstimmung 2005 wurde noch respektiert (wenn auch in der Folge plump umgangen), denn es konnte wegen dessen Bevölkerungszahl nicht offen infrage gestellt werden. (Außerdem handelt es sich um ein Gründungsmitglied der EU.) Die Abstimmungen der bevölkerungsmäßig kleineren Länder Irland und Dänemark wurde dagegen nicht respektiert, sondern wiederholt. Beim heutigen Veto der Niederländer sind EU-Politiker inzwischen so abgebrüht, offen die Missachtung des Ergebnisses nahezulegen, und ein Verbot EU-relevanter Volksabstimmungen zu fordern.

Letzteres offensichtlich ohne sich zu fragen, ob ein solches Verbot innerhalb nationalen und europäischen Rechts überhaupt umsetzbar wäre. Denn entweder müsste die EU festlegen, dass nationale Vetos nur per Parlamentsbeschluss gültig sind, oder aber die Staaten müssten ihren nationalen Volksabstimmungsreglungen einen Materieausschluss bzgl. EU-Themen hinzufügen. Beides dürfte weder rechtlich noch öffentlich durchsetzbar sein. Womit sich die Verbotsforderungen als ungeprüfte Schnellschüsse und Wunschträume entpuppen, politisch Andersdenkende aus Entscheidungsprozessen auszuschließen. Hierbei handelt es sich um offen antidemokratische Einstellungen.

Und doch sind solche Wunschträume bezeichnend für den fortschreitenden Verfall demokratischer Gesinnung innerhalb der EU-Institutionen. Und nichts bestätigt dies mehr, als dass mit Rebecca Harms ausgerechnet eine EU-Abgeordnete der Grünen als forsche Wortführerin dieser Entdemokratisierungsfantasien in Erscheinung tritt, obwohl sie Mitglied einer Partei ist, die sich wie keine andere seit ihrer Gründung für die Verankerung direkter Demokratie einsetzt. Die Tragweite dieses Falles wird deutlich, wenn man sich vorzustellen versucht, ein Mitglied der Grünen würde Käfighaltung für Legehennen fordern.

Derart widersprüchliches Agieren lässt sich am ehesten auf ein "höheren" Ziel zurückführen, für welches die Akteure bereit sind, solche Widersprüche (falls sie diese wahrnehmen) auszublenden. Ein solches "höheres" Ziel kann die Vision von einem friedlichen, progressiven, toleranten, humanen Europa sein. Für die Umsetzung einer solchen Vision halten aber viele Menschen die bisherige Politik und Struktur der EU für ungeeignet. Sie erkennen in der EU vielmehr ein Projekt marktradikaler, neoliberaler Wirtschafts- und Finanzeliten, für die Demokratie einfach nur ein Renditehindernis darstellt. Sie sehen eine EU, die sich unter dem Einfluss der Nato vor die geopolitischen Interessen der US-Neocons spannen lässt und ureigenen europäischen Interessen zuwider handelt (wie z.B. an den Wirtschaftssanktionen gegen Russland erkennbar wird).

Gerade das Assoziierungsabkommen mit der Ukraine wird völlig konträr bewertet. Während EU-Parlamentspräsident Schulz das Abkommen als ein wichtiges Mittel zur Wiederherstellung des Friedens in einer Region darstellt, halten Kritiker den darin enthaltenen Artikel zur militärischen Annäherung Kiews an die Nato für den eigentlichen Auslöser des Ukraine-Konflikts und den völkerrechtswidrigen Anschluss der Krim (genauer: der Stützpunkte der russischen Schwarzmeerflotte) an Russland.

Die Sichtweisen auf die EU sind also sehr unterschiedlich und die Ausrichtung von deren Politik müsste deshalb eigentlich in demokratischem Diskurs bestimmt werden, woran es aber mangelt. Die zunehmende Gleichgültigkeit oder Ablehnung der Menschen gegenüber der EU ist nicht in erster Linie ein Problem von Kommunikation oder etwa ihrem Erscheinungsbild, wie es beispielsweise wiederum Martin Schulz diagnostiziert, sondern besteht vielmehr in einem grundsätzlichen und bereits langjährigen Demokratiedefizit bei der Führung dieses Diskurses. Statt sich dieses Defizits bewusst zu werden, soll es nun noch vergrößert werden, indem man aus Angst vor Widerspruch EU-relevante nationale Volksabstimmungen unterbinden will.

"Wenn man Europa kaputt machen will, dann braucht man nur mehr Referenden zu veranstalten", lautet eine Reaktion des luxemburgischen Außenministers Jean Asselborn auf das Nein der Niederländer. Vielleicht aber hat im Gegenteil das langjährige Fehlen von Referenden (bzw. das Ignorieren ihrer Ergebnisse) die EU schon längst kaputt gemacht, weil in der Bevölkerung nie die breite demokratische Akzeptanz durch Selbstentscheiden wachsen konnte, deren ein Projekt dieser Komplexität als Basis bedarf. Die Völker Europas scheinen sich in dieser EU nicht oder nicht ausreichend als Souverän widerzuerkennen.