Die Diskussion um die Person Luthers nimmt Fahrt auf

Warum Martin Luther ein Antisemit ist!

Dieses offenbar brandgefährliche Buch wurde zu Aufklärungszwecken Mitte Februar 2016 gleich zweimal neu verlegt. Zum einen im Alibri-Verlag in einer zeitgemäßen Übersetzung mit dem gesamten Originaltext zum Vergleich und in der berlin university press (neu bearbeitet auf Basis der Ausgabe von 1936 und kommentiert von Matthias Morgenstern; Wiesbaden, 2016). Diese neuen Editionen erschienen vor dem Hintergrund, dass 2017 das Luther-Jahr als Höhepunkt einer ganzen Lutherdekade (2008-2017) gefeiert wird.

Die protestantische Kirche der Niederlande (PKN) hat jetzt am 11. April eine bemerkenswerte Pressemitteilung herausgegeben. Die Kurzfassung verbreitete der Deutschlandfunk:

Die Protestantische Kirche der Niederlande hat sich von antisemitischen Schriften Martin Luthers distanziert. - In einer in Utrecht veröffentlichten Erklärung heißt es, einige Äußerungen des Kirchenreformators über Juden seien widerwärtig und unzulässig. Luther hatte unter anderem dazu aufgerufen, Synagogen in Brand zu stecken, Juden zu enteignen und sie zu vertreiben. Die Kirche erklärte, Luthers Schriften hätten zu einem Klima beigetragen, das später den Holocaust ermöglicht habe. Jüdische Organisationen hatten die Protestanten im vergangenen Jahr zu einer Distanzierung aufgefordert.

Wie positioniert sich die EKD (evangelische Kirche in Deutschland) zur "Causa Luther"?

1939 wurde noch von 13 evangelischen Landeskirchen in Eisenach das "Entjudungsinstitut" ins Leben gerufen. Dieses Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben erfuhr seine Einweihung an einem denkwürdigen Ort: auf Luthers Wartburg.

Nach dem Zweiten Weltkrieg schlossen sich die evangelischen Landeskirchen unter Leitung des württembergischen Landesbischofs Theophil Wurm zur Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) zusammen. Und wie ging man dort mit der Schuld an den Juden um?
In ihrem "Stuttgarter Schuldbekenntnis" vom Oktober 1945 bekannte die EKD: "Durch uns ist unendliches Leid über viele Völker und Länder gebracht worden. … wir klagen uns an, dass wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben." Kein Wort über die Judenvernichtung!
Ausgerechnet der 1. Ratsvorsitzende der neuen EKD, Theophil Wurm schrieb bereits 1939 in der Zeitschrift "Junge Kirche": "… treuer zu glauben, inniger zu lieben und fester zu bekennen". Unter der Überschrift: "Zum 50. Geburtstag des Führers"! Offenbar spielt das politische Umfeld keine große Rolle; die eingesetzten Mittel entfalten aber auch keine große Wirkung – weder, um Hitler zu unterstützen, noch um ihn zu stürzen. Aber hat nicht auch die ehemalige EKD-Ratsvorsitzende Margot Käßmann jüngst die Zaubersprüche Jesu als wirksamen Schutz vor Terrorismus propagiert? "Jesus hat eine Herausforderung hinterlassen: Liebet eure Feinde! Betet für die, die euch verfolgen! Der Daesch (IS) wird sich davon genauso wenig beeindrucken lassen.

Die Neupositionierung der EKD zum Judentum begann sehr spät. Luthers judenfeindliche Schriften waren natürlich nicht unbekannt, wurden aber nicht herausgegeben oder nach außen hin sichtbar als Last des Protestantismus aufgearbeitet. 1982 veröffentlichte der Lutherische Weltbund zur Vorbereitung des Lutherjahres 1983 eine umfangreiche Arbeit. Im ersten Abschnitt steht:

Als Lutheraner haben wir ein besonderes Problem: Im kommenden Jahr begehen wir den 500. Geburtstag Martin Luthers. Er machte in seinen letzten Lebensjahren gewisse bissige Äußerungen über die Juden, die von den lutherischen Kirchen heute durchweg abgelehnt werden. Wir bedauern die Art und Weise, in der Luthers Aussagen dazu gebraucht worden sind, den Antisemitismus zu fördern.

"Gewisse bissige Äußerungen über die Juden"? Diese werden zwar abgelehnt, aber bedauert wird letztlich nur der Gebrauch dieser Äußerungen, um "den Antisemitismus zu fördern".

Noch 2008 verharmloste der damalige Ratsvorsitzende Bischof Wolfgang Huber die "gewissen bissigen Äußerungen":

Luthers mitunter polemischer Charakter, seine ambivalente Rolle in den Bauernkriegen, seine beschämenden Aussagen zu den Juden und sein Kommentar zu den Expansionsbestrebungen des Osmanischen Reichs – all dies gehört in das Bild seiner Person hinein.

Die 35 Buchstaben seines einzigen Bezuges auf die Judenfeindschaft Luthers stehen in scharfem Kontrast zur Gesamtrede mit über 17.000 Zeichen, mit der Bischof Huber die Lutherdekade eröffnete.

Hier zur Illustration einige wenige der "gewissen bissigen Äußerungen", der "beschämenden Aussagen" aus der Alibri-Ausgabe (Aschaffenburg, 2016):

  • "Sie sind nun mal das boshafte, halsstarrige Volk die großspurigen, hochmütigen Schurken, die nichts anderes können, als mit ihrer Abstammung und mit ihrem Blut zu prahlen sie sind die wahren Lügner und Bluthunde" (S. 49)
  • "Kein blutrünstigeres und rachsüchtigeres Volk hat die Sonne je beschienen, als diejenigen, die überzeugt sind, Gottes Volk zu sein …" (S. 49 f.)
  • "Ihr seid es doch nicht wert, dass ihr die Bibel von außen ansehen, geschweige denn drin lesen dürft. Ihr solltet nur die Bibel lesen, die unter dem Schwanz der Sau steht und ihr sollt die Buchstaben, die darunter herausfallen, fressen und saufen." (S. 149)
  • "Lasst uns also diese edlen und beschissenen (beschnittenen wollte ich sagen) heiligen und weisen Propheten anhören, die uns Christen zu Juden machen wollen." (S. 149 f.)
  • "Darum, wenn du einen richtigen Juden siehst, kannst du mit gutem Gewissen ein Kreuz schlagen und frei und sicher sprechen: Da geht ein leibhaftiger Teufel." (S. 151)
  • "Und dieser trübe Bodensatz, dieser stinkende Abschaum, dieser eingetrocknete Bodensatz, dieser verschimmelte Sauerteig und sumpfige Morast von Judentum sollten mit ihrer Reue und Gerechtigkeit das ganze Weltreich, also die Erfüllung des Messias und der Prophezeiungen verdient haben, obwohl sie doch keine der oben aufgezählten Bedingungen erfüllen und nichts sind als ein fauler, stinkender, verrotteter Bodensatz vom Blut ihrer Väter?" (S. 201)

Auszug aus dem "Sieben-Punkte-Programm" Luthers:

  • "Erstens, dass man ihre Synagogen oder Schulen anzünde und was nicht verbrennen will, mit Erde überhäufe und überschütte, sodass kein Mensch für alle Zeiten weder Stein noch Schlacke davon sehe." (S. 247)
  • "Zweitens sollte man auch ihre Häuser abbrechen und zerstören, denn sie treiben darin genau das gleiche, wie in ihren Synagogen. Stattdessen mag man sie etwa unter ein Dach oder in einen Stall tun, wie die Zigeuner." (S. 249)
  • "Zum dritten, möge man ihnen alle ihre Gebetbüchlein und Talmude nehmen, in denen solcher Götzendienst, Lügen, Fluch und Lästerung gelehrt wird." (S. 249)
  • "Zum vierten, soll man ihren Rabbinern bei Leib und Leben verbieten, weiterhin zu lehren." (S. 249)
  • "Zum fünften, soll man den Juden das freie Geleit auf den Straßen ganz und gar verwehren und verbieten. Denn sie haben nichts im Land zu suchen. Sie sollen daheimbleiben." (S. 251)
  • "Zum sechsten soll man ihnen das Wuchern verbieten, das ihnen schon durch Mose verboten wurde. Da sie nicht in ihrem eigenen Land sind, können sie nicht Herren über ein fremdes Land sein. Und man nehme ihnen alle Barschaft und Wertsachen wie Silber und Gold und lege es zur Verwahrung beiseite." (S. 251)
  • "Siebtens soll man den jungen und starken Juden und Jüdinnen Flegel, Axt, Hacke, Spaten, Spinnrocken und Spindel in die Hand geben und sie ihr Brot verdienen lassen im Schweiß ihres Angesichts, wie es Adams Kindern auferlegt ist." (S. 245)

Das alles klingt nicht sehr theologisch (was auf Antijudaismus verweisen würde), sondern eindeutig rassistisch (was auf Antisemitismus verweist).

Da dies sicher Insidern der EKD bekannt ist, begann es seit Hubers Rede in der EKD zu brodeln. Mehr und mehr Beiträge erschienen in der Öffentlichkeit, die Luthers Person fragwürdig sahen. So verlagerte man den Schwerpunkt der Luther-Jubeljahre nach und nach auf das Reformationsjubiläum – obwohl das Jahrzehnt nach wie vor "Lutherdekade" und das Jahr 2017 nach wie vor "Luther-Jahr" heißt. Überall prangt das Konterfei des Reformators von Plakaten, Broschüren und Sondermarken. Er hat halt einen Namen, den man gut vermarkten kann. Einen Namen allerdings, der untrennbar mit äußerst hässlichen Schriften verbunden ist, die erst nach und nach in der Öffentlichkeit bekannt werden. So fällt ein schlechtes Licht auf die bevorstehenden Jubelfeiern, die mit insgesamt ca. 150 Mio. Euro recht gut dotiert sind, davon über 100 Mio. Euro aus dem allgemeinen Steueraufkommen (Bund und Land Sachsen).

Darf man im Land des Holocaust einen Antisemiten wie Luther feiern?

Der jüdische Weltkongress (WJC) schrieb am 11. April: "Juden begrüßen die Erklärung der niederländischen Kirche, die Martin Luthers Antisemitismus 'inakzeptabel' nennt."

In Deutschland hört man bisher wenig Kritisches zu Luther, vermutlich, weil in einer Zeit abnehmender Akzeptanz Religionen gegenüber die Monotheismen lieber näher zusammenrücken, als sich durch Zwist auseinanderzudividieren. Aber unsere europäischen Nachbarn wurden jetzt erstaunlich deutlich. Der WJC schrieb weiter: "Die protestantische Kirche der Niederlande (PKN) gab am Montag eine Erklärung ab mit der Verurteilung der vor fünf Jahrhunderten gemachten antijüdischen Aussagen des deutschen Reformators Martin Luther." Und weiter: "In einem Text, der am Montag während eines Seminars in Utrecht veröffentlicht wurde, erklärt die PKN, dass Luthers antijüdische Aussagen 'inakzeptabel' und ein Teil der 'dunklen Seiten' der evangelischen Kirchengeschichte sind. Der Sprecher der niederländisch-jüdischen Dachorganisation NIK, Rabbi Raphael Evers, begrüßte die Erklärung und sagte: 'Mir kommt manchmal die Frage, ob jetzt noch Entschuldigungen notwendig sind, angesichts der Erklärung des Lutherischen Weltbundes aus dem Jahr 1983. Ich befürchte allerdings, dass es nie genügend Warnungen vor Antisemitismus gibt.'"

D.h. die Niederländer – sowohl auf Seite der evangelischen Kirche als auch auf jüdischer Seite – haben längst akzeptiert, dass Luther ein Antisemit war. Nur die deutschen Kollegen tun sich offenbar schwer, dies mit aller Deutlichkeit anzuerkennen. Weiter der WJC:

Im nächsten Jahr wird die evangelische Kirche den 500. Jahrestag von Martin Luthers Anschlag der fünfundneunzig Thesen ... feiern, ... Viele späteren Schriften Luthers wurden von Protestanten verwendet, um Antisemitismus zu legitimieren und sogar die Diskriminierung der Juden. Luther agitierte erfolgreich gegen die Juden in Sachsen, Brandenburg und Schlesien. Im August 1536 erließ der sächsische Prinz John Frederick ein Mandat, das Juden verbot dort zu wohnen, sich geschäftlich zu betätigen oder sein Reich zu passieren. Im Jahre 1543 veröffentlichte Luther ein Buch mit dem Titel "Von den Juden und ihren Lügen", in dem er die Juden "wirklich dumme Narren‘"nannte und darauf drängte, sie in Arbeitslager zu schicken."

Man mag die Gedanken von Rabbinern erahnen, als sie dies schrieben.

Deshalb finde ich es bedauerlich, wenn der jetzige EKD-Ratsvorsitzende Prof. Dr. Heinrich Bedford-Strohm in seinem Geleitwort zur Morgenstern-Ausgabe von "Von den Juden und ihren Lügen" schreibt: "Luthers Schrift wurde von Deutschen Christen und den Nationalsozialisten dazu benutzt, den eigenen rassistischen Antisemitismus zu bekräftigen. ... Es ist unabdingbar, sich mit den Aussagen Martin Luthers über die Juden kritisch auseinanderzusetzen, um die judenfeindlichen, antisemitischen Rezeptionsmechanismen zu durchschauen und zu überwinden."
Bedauerlich deswegen, weil hier zum einen zwischen Christen und Nationalsozialisten unterschieden wird, als seien nicht praktisch alle Deutschen auch nach der Weimarer Republik überzeugte Christen gewesen. Zum anderen wird jede Verbindung zwischen Luther und Antisemitismus sprachlich äußerst geschickt vermieden. Es ist eben der "eigene rassistische Antisemitismus" und es sind "antisemitische Rezeptionsmechanismen". In diesem Punkt sind die Niederländer weiter. Da genügt es auch nicht, das Buch nach Verlagsinformationen als "Dokument der Schade" zu bezeichnen.

Es wäre wünschenswert, dass sich auch die EKD schonungsloser als bisher dem eigenen Erbe stellt. Bitte nicht erst ab 2018, wenn es niemanden mehr interessiert, weil das Hauptgeschäft mit der Lutherdekade in trockenen Tüchern ist, sondern z.B. schon bei ihren internen Beratungen am 16. April während der EKD-Synode in Hannover.

Karl-Heinz Büchner, Reinhold Schlotz, Robert Zwilling und ich haben zusammen mit dem Alibri-Verlag mit dem Buch "Von den Juden und ihren Lügen" den ersten Band der judenfeindlichen Schriften Luthers vorgelegt. Möge er dazu beitragen, dass eine breite Öffentlichkeit – die mit ihren Steuergeldern zum Gelingen der Jubelfeiern zwangsweise beiträgt – aufgeklärt wird, um die hässlichen Gedanken des großen Reformators verstehen zu lernen. Luther eignet sich – trotz all seiner unbestreitbaren Verdienste – nicht dazu, als Vorbild einer modernen Kirche zu dienen. Er steht für den intoleranten antisemitischen Ungeist des Christentums in seiner schmutzigsten und gleichzeitig wirkmächtigsten Erscheinungsform. Eine Kirche, die im Land des Holocaust moralische Instanz sein will, muss sich davon distanzieren – wie es die Niederländer beispielhaft taten.