Von Juni 1943 bis April 1945 arbeitete Irmgard F. als Sekretärin im KZ Stutthof östlich von Danzig. 77 Jahre später verurteilt sie das Landgericht Itzehoe wegen Beihilfe zum Mord in tausenden Fällen zu einer zweijährigen Bewährungsstrafe. Dieser Schuldspruch ist gut und richtig – und Beleg einer skandalösen Verspätung.
Nach der Urteilsverkündung gibt sich die Angeklagte regungslos. Gerade hat das Landgericht Itzehoe Irmgard F., ehemalige Sekretärin im Konzentrationslager Stutthof bei Danzig, schuldig gesprochen. Die 97 Jahre alte Frau ist zu einer Jugendstrafe von zwei Jahren Haft auf Bewährung verurteilt worden – wegen Beihilfe zum Mord in 10.505 Fällen sowie Beihilfe zum versuchten Mord in fünf Fällen. Nun sitzt sie, mit Mantel, Mütze und Maske, die Augen hinter einer dunklen Brille, neben ihrem Verteidiger und folgt schweigend den Ausführungen des Richters.
Ein Mammut-Prozess in der norddeutschen Provinz findet sein Ende. In gut 14 Monaten waren die Prozessakten auf ungefähr 3.600 Seiten angeschwollen. Dazu kam ein USB-Stick mit etwa 2.000 Vernehmungsprotokollen. 14 Zeuginnen und Zeugen wurden gehört, acht davon Überlebende des KZ Stutthof. Sie alle berichteten über ihre Leidenszeit im Lager. Ein Ort des Grauens.
Für die Kammer ist ausgeschlossen, dass die Angeklagte, die zum Zeitpunkt der Tat zwischen 18 und 19 Jahre alt war, nichts von den systematischen Morden gewusst haben soll. Da die Tötungen in Konzentrationslagern systematisch waren, hätten sie viel Schriftverkehr und Bürokratie erfordert – Aufgaben, für die die Angeklagte als einzige Schreibkraft des Lagerchefs verantwortlich war. So hat sie laut Gericht zum Beispiel die Todesmärsche aus dem Lager Anfang 1945 schriftlich mitorganisiert. Irmgard F. konnte nicht entgehen, was im Lager geschah. Gaskammer und Krematorium hatte die Angeklagte laut Kammer von ihrem Arbeitsplatz zwar nicht direkt im Blick – aber die Wege dorthin und auch den Sammelplatz, auf dem die Gefangenen ankamen. Mindestens 1.000 der Ermordeten seien mit dem Giftgas Zyklon B getötet worden. 9.500 weitere seien infolge der bewusst herbeigeführten lebensfeindlichen Bedingungen gestorben.
Ein Urteil, allenfalls mit Symbolkraft: zwei Jahre Jugendstrafe auf Bewährung. Die Greisin, die in einem Pflegeheim lebt, wird wenig Möglichkeiten haben, gegen die Auflagen zu verstoßen. Ihr Anwalt verkündet im Anschluss an die Urteilsbegründung, dass er nicht einverstanden sei mit dem Schuldspruch: "Wir haben gemeint, dass man der Angeklagten den verbleibenden Zweifel zu Gute halten muss und halten eine solche Verurteilung nicht für richtig." Er denkt daran, Revision einzulegen. Es ist das gute Recht eines Verteidigers. Wir leben in einem Rechtsstaat.
Die Nicht-Verfolgung der NS-Verbrechen ist beschämend
Tatsache ist: das Urteil gegen die 97-Jährige ist Beleg einer skandalösen Verspätung. Jahrzehntelang waren Verfahren nicht eröffnet oder beinahe routinemäßig eingestellt worden. Es sollte nur bestraft werden, wer einer Beteiligung an ganz konkreten Morden überführt wurde. Es fehlte durchweg an gesetzgeberischen Signalen. Es fehlte das "Wollen", NS-Täter, als diese noch keine Greise waren, vor Gericht zu bringen. Persönliche Schuld verschwand so im Dickicht von Beweisakten, Gutachten und Verteidiger-Strategien.
Die Nicht-Verfolgung von NS-Verbrechen ist beschämend. Eine jahrzehntelange Verweigerung von Strafverfolgung, eine konsequente Strafvereitelung im Amt. Dafür gehörte die Justiz auf die Anklagebank. Einige Zahlen: In den drei Westzonen und der Bundesrepublik wurde von 1945 bis 2005 insgesamt gegen 172.294 Personen wegen strafbarer Handlungen während der NS-Zeit ermittelt. Das ist angesichts der monströsen Verbrechen und der Zahl der daran beteiligten Menschen nur ein winziger Teil. Das hatte seine Gründe: Im Justizapparat saßen anfangs dieselben Leute wie einst in der NS-Zeit. Viele machten sich nur mit Widerwillen an die Arbeit. Auch politisch wurde auf eine Beendigung der Verfahren gedrängt, dafür sorgten schon zahllose Amnestiegesetze.
Zu Anklagen kam es letztlich gerade einmal in 16.740 Fällen – und nur 14.693 Angeklagte mussten sich tatsächlich vor Gericht verantworten. Verurteilt wurden schließlich gerade einmal 6.656 Personen, für 5.184 Angeklagte endete das Verfahren mit Freispruch, oft aus Mangel an Beweisen. Die meisten Verurteilungen – rund 60 Prozent – endeten mit geringen Haftstrafen von bis zu einem Jahr. Ganze neun Prozent aller Haftstrafen waren höher als fünf Jahre. Vor dem Hintergrund eines der größten Verbrechen in der Menschheitsgeschichte eine skandalöse, empörende Bilanz.
Von der Justiz hatten die NS-Täter nichts zu befürchten. Die meisten Deutschen wollten von Kriegsverbrechern, von Verbrechen gegen die Menschlichkeit, von den NS-Verstrickungen, von schuldhaften Täter-Biographien, kurz: vom moralischen und zivilisatorischen Desaster Hitler-Deutschlands, nichts mehr wissen. Aus der Politik gab es keine zwingenden Gesetzesvorgaben. Unter diesem Eindruck zeigte vor allem die Justiz nur wenig Neigung, ehemalige NS-Täter zur Verantwortung zu ziehen, zumal dort bekanntlich eine besonders starke personelle Kontinuität zur NS-Zeit gegeben war. Die Bereitschaft, in NS-Strafsachen zu ermitteln und zu handeln, ging nahezu gegen null.
Jahrzehntelange Untätigkeit der Justiz
Der Justiz reichte es jahrzehntelang nicht für eine Anklage, dass jemand eine Funktion in einem Vernichtungslager innehatte. Vielmehr musste der jeweilige Beitrag zu mörderischen Taten nachgewiesen werden. So konnten Täter und Täterinnen unbehelligt ihr Leben führen. Erst nach dem Urteil gegen John Demjanjuk, ein Wachmann, der als "ukrainischer Hilfswilliger" im Vernichtungslager Sobibór tätig gewesen war und 2011 in München verurteilt wurde, ist die Justiz nach jahrzehntelanger Untätigkeit wieder aktiv geworden. Wer als kleines Rädchen beim großen Massenmorden der Nazis dabei war, der kann seither auch ohne konkreten Tatverdacht wegen Beihilfe zum Mord angeklagt werden. Mord verjährt nicht.
Langsam, zu langsam hat sich die deutsche Justiz ihrer "zweiten Schuld" befreit: der mangelnden Strafverfolgung von NS-Tätern und -Täterinnen in der Bundesrepublik nach den Schandurteilen des Nationalsozialismus. Auch nach dem Urteil im Prozess von Itzehoe bleibt die Frage: Kann die Justiz nach Jahrzehnten diese Verbrechen noch sühnen? Kann ein Gericht jemanden angemessen bestrafen für die Beteiligung an einem kollektiven System der Barbarei – dafür, am "reibungslosen Ablauf der Tötungsaktionen" teilgenommen zu haben? Vor allem aber: Kann den Opfern und ihren Hinterbliebenen überhaupt Gerechtigkeit, späte Wiedergutmachung widerfahren? Sicher, man kann darüber streiten, ob das Strafmaß von zwei Jahren auf Bewährung für Irmgard F. gerecht ist und ob der Aufwand des Verfahrens gerechtfertigt ist. Doch unstrittig sollte sein: Der Respekt vor den Hinterbliebenen verpflichtet uns, die Schuld und die Schuldigen zu benennen und vor Gericht zu bringen, solange es noch möglich ist. Die Verbrechen von damals sind zu gewaltig, um heute zu sagen: Jetzt soll endlich einmal Schluss sein.
"Es tut mir leid, was alles geschehen ist. Ich bereue, dass ich zu der Zeit gerade in Stutthof war. Mehr kann ich nicht sagen." Diese dürren Sätze sagte Irmgard F. im Prozess. Eine Anerkenntnis der Schuld war darin nicht zu erkennen. Gegen ihre Verurteilung hat sie inzwischen Revision eingelegt.
Siehe dazu auch:
Helmut Ortner: Volk im Wahn. Hitlers Deutsche – Über die Gegenwart der Vergangenheit. Dreizehn Erkundungen. Edition Faust, 296 Seiten, 22 Euro