Kommentar

Menschenfeindlichkeit in Krisenzeiten – Ein unvergängliches Phänomen?

BERLIN. (hpd) Zurzeit erleben wir in Deutschland tagtäglich Gewaltexzesse. Es sind nicht nur rechtsradikale Gewalttäter, die ihrem Hass freien Lauf lassen. Auch der allgemeine Umgangston wird rauer, insbesondere gegenüber gesellschaftlichen Randgruppen. Wilhelm Heitmeyer wies in seinem Werk "Deutsche Zustände" bereits auf eine zunehmende Verrohung der bürgerlichen Schicht hin. Doch die gegenwärtigen Phänomene waren niemals neu, sondern traten in verschiedenen Gestalten auf und richteten sich gegen eine Vielzahl von Außenseitern.

Besonders in Zeiten wirtschaftlicher Krisen kam es nicht selten zu Gewaltausbrüchen, unter denen meistens Juden, Sinti, Roma und weitere Minderheiten zu leiden hatten. Es ist sinnvoll, einen Blick in die Vergangenheit zu wagen, um mit den Krisen von heute besser umgehen zu können. Eine bedeutende Phase zur Erforschung historischer Krisen ist das Spätmittelalter, welches auf die Zeit zwischen dem Ende des 13. Jahrhunderts bis hin zum Beginn der Reformation im 16. Jahrhundert datiert werden kann. In dieser Epoche kam es zu einer Reihe schwerwiegender Katastrophen, wozu wirtschaftliche Schwierigkeiten zählten, wie auch Klimaveränderungen, die zu Missernten und Hungersnöten beitrugen. In dieser Zeit konnte auch die Missgunst gegenüber Juden auf erschreckende Weise gedeihen.

Wie kam es aber zu einem solch ausgeprägten Antijudaismus? Dieser tauchte jedenfalls nicht zufällig auf. Die verleumderische Propaganda arbeitete gezielt mit Vorurteilen, die schon lange vorher in der mittelalterlichen Gesellschaft fest verankert waren. Man unterstellte ihnen Geiz, Betrug und Geldgier. Dabei schien kaum darüber reflektiert worden, dass die gesetzlichen Rahmenbedingungen den Juden untersagten, in anderen Geschäftsbereichen zu arbeiten als in der Kreditwirtschaft. Die Tatsache, dass es jüdische Kreditgeber gab, die es zu einem gewissen Reichtum und Einfluss gebracht haben, wurde dazu instrumentalisiert, Neid und Missgunst zu schüren. 

Parallel dazu nahm die organisierte Verfolgung von Minderheiten zu. Eine der ersten durch zeitgenössische Quellen überlieferte Verfolgungen waren die Judenpogrome, angeführt von einem "König Rintfleisch" im Jahr 1298. Laut dem historischen Lexikon Bayerns handelte es sich dabei wahrscheinlich entweder um einen Metzger oder um einen Scharfrichter. Die Titulierung weist nicht zwangsläufig auf die Zugehörigkeit zum Adelsstand hin, sondern war oftmals eine gängige Bezeichnung für einen Anführer von Freischärlern. Wir haben es also mit einem Menschen der Handwerkerschicht zu tun, also jemanden, der aus der Mitte der Gesellschaft stammte. Die Vorwürfe lauteten häufig: Hostienfrevel bzw. –schändung, Ritualmord (häufig in Verbindung mit Kindestötung), Brunnenvergiftung und viele mehr, wobei letzterer bei Ausbruch von Epidemien häufiger auftrat. Man schätzt, dass im Rahmen dieses Pogroms zwischen 4.000 bis 5.000 Juden ermordet wurden, wobei die meisten Opfer in Franken zu beklagen waren. 

In diesem Zusammenhang wäre eine weitere Bewegung zu nennen, welche als "Armleder-Aufstand" bezeichnet wird und in der Zeit zwischen 1336 und 1338 einzuordnen ist. Ähnlich wie beim zuvor erwähnten Rintfleisch-Pogrom versammelten sich eine Vielzahl von Menschen um eine charismatische Persönlichkeit, in diesem Fall um einen verarmten Adeligen namens Arnold III. von Uissigheim und brandmarkten Juden mit nahezu den selben Vorwürfen (Hostienschändung usw.). Die Mehrheit der teilnehmenden Akteure zählte in beiden Fällen zu den sozial benachteiligten Schichten. Ein weiterer nicht unbedeutender Teil lebte zwar im Anbetracht der Standeszugehörigkeit in relativ komfortablen Lebensverhältnissen, wozu der niedere Adel und Patrizier zählten. Sie sahen unter diesen Umständen eine Möglichkeit, sich selbst am Vermögen der ermordeten Juden zu bereichern und zu profilieren. 

Einen katastrophalen Höhepunkt erreichten die Pogrome zur Zeit des Schwarzen Todes zwischen 1348 und 1351, deren Brutalität erst durch die systematische Ermordung von Juden durch das NS-Regime rund 700 Jahre später übertroffen wurde. Viele jüdische Gemeinden auf dem Gebiet der heutigen Bundesrepublik wurden vollständig ausgerottet. Befeuert durch die Geißler, die durch ganz Europa zogen, entfaltete sich eine apokalyptische Stimmung in der Bevölkerung. Sämtliche soziale Strukturen lösten sich auf. Stimmen, die sich kritisch zum Mord an Juden äußerten, wurden entweder ignoriert oder auf ähnliche Weise verfolgt.

Wie passt das alles zur heutigen Situation? Selbstverständlich müssen Antijudaismus und Rassismus als zwei unterschiedliche Phänomene betrachtet werden. Doch als Antwort passt ein berühmt gewordenes Zitat vom Schriftsteller Mark Twain: "Die Geschichte wiederholt sich nicht, aber sie reimt sich."

Die Krisen, die auf globaler Ebene stattfinden, seien es Krieg, Massenflucht, Hunger oder ungerechte Vermögensverteilung wirken sich spaltend auf die Gesellschaften Europas aus, auch in Deutschland. Nun werden Flüchtlinge als Menschen zweiter Klasse behandelt, die Staatsbürgerinnen und Staatsbürger mit Migrationshintergrund werden misstrauisch beäugt, jahrhundertealte Vorurteile werden auf neue Zielgruppen angepasst.

Blicke in die Vergangenheit zu wagen, ist nun mehr denn je gefragt. Die Krisenphänomene sämtlicher Epochen geben uns eine Orientierung, auf welchem Pfad wir uns in der Gegenwart befinden. Und wie der Juden-Pogrom eines "König Rintfleisch" im Jahr 1298 als Vorbote der Katastrophen im darauf folgenden Jahrhundert verstanden wird, sollten wir jetzt die rassistischen Anschläge auf Flüchtlingsheime als ähnliche Mahnungen verstehen. Dafür gilt es, der Stimmungsmache durch AfD, PEGIDA und Co. konsequent entgegenzutreten.