In der Debatte um das Bundesteilhabegesetz hat die Beauftragte der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen, Verena Bentele, Nachbesserungen gefordert. "Es gibt noch zu viele Dinge, die nicht im Sinne der Menschen mit Behinderungen geklärt sind", sagte Bentele im Interview.
Frau Bentele, am Bundesteilhabegesetz ist jahrelang gearbeitet worden. Die Bundesregierung nennt es einen Paradigmenwechsel. Ist es das tatsächlich?
Mit dem Gesetz sind zweifellos wichtige Schritte gemacht worden. Zum Beispiel, dass es bundesweit ein Budget für Arbeit geben soll, um Menschen mit Behinderungen in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Oder, dass das Einkommen der Partner nicht mehr mit Eingliederungsleistungen verrechnet wird. Aber es ist bei einem solchen Gesetz auch wichtig, dass Menschen mit Behinderungen in ihrer besonderen Lebenssituation gesehen werden. Und da sollte sich noch etwas ändern.
Die Eingliederungshilfe wird aus der Sozialhilfe ausgegliedert und ins Neunte Sozialgesetzbuch "verschoben". Warum ist es so wichtig, in welchem Sozialgesetzbuch sie verankert ist?
Einerseits soll dadurch die Zusammenarbeit der unterschiedlichen Träger besser werden. Denn es gibt ja nicht nur die Eingliederungshilfe, sondern noch zahlreiche andere Leistungen. Andererseits darf ein Nachteilsausgleich für Menschen mit Behinderungen nicht gleichgestellt werden mit der Sozialhilfe, sondern muss auf jeden Fall einen anderen Stellenwert haben.
Sehr viele Menschen mit Behinderungen benötigen aber die sogenannte "Hilfe zur Pflege", für die weiter die strikten Vorgaben der Sozialhilfe bei der Vermögensanrechnung gelten. Werden damit unterschiedliche Kategorien von Betroffenen geschaffen?
Genau das ist das Problem. Außerdem darf es nicht passieren, dass Menschen künftig eher Pflegeleistungen bekommen und keine Teilhabeleistungen, weil die Pflege als vorrangig behandelt wird, so wie derzeit geplant. Denn Teilhabe geht weit darüber hinaus und es ist ein gewaltiger Unterschied, welche Leistungen sie bekommen. Auch dürfen Eingliederungsleistungen nicht an Erwerbstätigkeit gebunden sein. Eine Rentnerin muss, wenn sie mit 70 Jahren erblindet, natürlich die Möglichkeit haben zu lernen, wie sie sich orientieren kann.
Für Erwerbstätige soll es tatsächlich eine deutliche Verbesserung geben. Das Vermögen, das sie ansparen dürfen, ohne dass es mit den Unterstützungsleistungen verrechnet wird, steigt von jetzt 2.600 Euro auf schrittweise 50.000 Euro.
Das ist auf jeden Fall ein großer Schritt. Aber es kann nur ein erster Schritt dahin sein, dass wir irgendwann die Einkommens- und Vermögensgrenze ganz freistellen von Nachteilsausgleichen.
Verena Monika Bentele ist eine frühere deutsche Biathletin, Skilangläuferin, vierfache Weltmeisterin und zwölffache Paralympics-Siegerin. Seit Januar 2014 ist Bentele Behindertenbeauftragte der Bundesregierung.
Für die Eingliederungshilfe soll man künftig nachweisen, in 5 von 9 Lebensbereichen erheblich eingeschränkt zu sein. Kritiker befürchten dadurch eine Einschränkung des leistungsberechtigten Personenkreises.
Das teile ich auch. Denn es ist für Menschen mit seelischen oder onkologischen Erkrankungen extrem schwer nachzuweisen, ob sie gerade in einem bestimmten Lebensbereich eine Einschränkung haben. Aber dann ist die Frage: Wer leistet für diese Menschen, wer ist der verantwortliche Träger? Wenn man also sagt, man möchte so eine 5-von-9-Definition, die ich aber nicht für nötig halte, dann braucht es dringend eine Regelung, wer für diese Menschen zuständig ist, wenn es nicht die Eingliederungshilfe ist. Bisher gibt es die nicht. Da wünsche ich mir, dass die konkrete Lebenssituation der Menschen gesehen wird und hoffe auf eine Änderung durch das Parlament.
Die Behinderten- und Sozialverbände kritisieren, dass es künftig am Ermessen des Trägers liegt, ob er Leistungen individuell gewährt oder nur für eine Gruppe anbietet. Könnte das bedeuten, dass Menschen zu gemeinschaftlichem Wohnen sozusagen "gezwungen" werden.
Diese Befürchtung habe ich auch. Deshalb wäre für mich der richtige Weg, dass wir das "Poolen" nur mit Zustimmung der Betroffenen erlauben. Natürlich gibt es Situationen, wo es sich anbietet. Aber beim selbständigen Wohnen geht das auf keinen Fall. Es darf nicht passieren, dass erwachsene Menschen mit Behinderungen nachts mit anderen in eine Wohnung müssen, weil nur dann eine Assistenzgemeinschaft existiert, die ihnen bestimmte Leistungen sichert.
Menschen mit Behinderungen sollen viel besser als bisher in den ersten Arbeitsmarkt integriert werden, indem Firmen Lohnkostenzuschüsse bis zu 75 Prozent erhalten. Wird das funktionieren?
Es ist ein guter Ansatz, der funktionieren kann. Aber auch das ist auch nur ein erster Schritt. Nur allein deswegen werden nicht viele Firmen Menschen mit Behinderungen vermehrt einstellen. Die Herausforderung ist vor allem: Wie viele Menschen machen wirklich den Schritt aus den Werkstätten raus in den ersten Arbeitsmarkt und trauen sich, damit auch ein anderes Risiko einzugehen. Das muss sich erst noch zeigen.
Gesellschaftliche Teilhabe beginnt jedoch schon früher, bei der Integration der Kinder in Kitas und Schulen. Dabei zeigen Berichte von Betroffenen vor allem, dass die Hürden hier sehr hoch sein können.
Wir sind auf jeden Fall nicht da, wo wir sein wollen, weil die Unterschiede regional extrem hoch sind. Im Gegensatz zur Förderschule müssen sich die Eltern bei der inklusiven Schule um viel mehr Dinge selber kümmern, sie selber finanzieren. Das ist für viele eine riesige Herausforderung und auch Überforderung. Aber daran darf es am Ende nicht scheitern, ob wir die Inklusion in der Schule schaffen. Wir brauchen eine Regelung, die für alle Menschen in Deutschland, egal, wo sie wohnen, gleich zuverlässig ist. Wir können auch nur dann einen inklusiven Arbeitsmarkt schaffen und gesellschaftliche Teilhabe sichern, wenn Kinder von Anfang an gemeinsam lernen.
Im Vorfeld des Gesetzes gab es einen sehr umfangreichen Beteiligungsprozess der Verbände. Es sollte nicht über, sondern mit den Menschen entschieden werden. Erkennen Sie diesen Prozess im Gesetzentwurf wieder?
Es war gut, dass es den gegeben hat. Aber natürlich hätten sich viele nach den vielen Anstrengungen und Bemühungen gewünscht, dass wir mehr Vorstellungen der Verbände in dem Gesetz wiederfinden. Das hätte ich mir auch gewünscht.
Also wundert es Sie nicht, dass der Protest doch noch so deutlich ist?
Nein, das wundert mich nicht. Natürlich ist klar, wenn so ein großes Gesetz auf den Weg kommt, gibt es viele Unsicherheiten. Aber es gibt noch zu viele Dinge, die noch nicht im Sinne der Menschen mit Behinderungen geklärt sind.
Vor der Sommerpause hat der Bundestag eine Neufassung des Behindertengleichstellungsgesetzes beschlossen, das die Barrierefreiheit von Bundesbauten festschreibt. Warum war dieses Gesetz so wichtig?
Ich finde, das war eines der wichtigsten Projekte. Denn damit wurde noch einmal eine umfassende Barrierefreiheit festgeschrieben. Es gibt nun eine Bundesfachstelle, die zu dem Thema berät und es wird bei mir eine Schlichtungsstelle geben, an die sich Menschen mit Behinderungen und deren Verbände wenden können, wenn sie sich von Institutionen des Bundes diskriminiert fühlen. Damit wurden viele Dinge durchgesetzt, um die Rechte von Menschen mit Behinderungen zu wahren. Der nächste wichtige Schritt muss sein, dass Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz zu ändern, um auch im Bereich der Privatwirtschaft mehr Barrieren abzubauen.
Das Interview erschien zuerst in der heutigen Ausgabe der Wochenzeitung "Das Parlament".
3 Kommentare
Kommentare
Atheist Steinbrenner am Permanenter Link
Zugegeben, das Schicksal eine Behinderung zu haben ist sicherlich kein Leichtes. Ich selbst bin davon auch betroffen.
Dennoch betrachte ich es nicht als gerecht, dass es sich bei Behinderung laut Art 3 Abs. 3 GG um den einzigen Grund handelt, aus dem ein Mensch bevorzugt werden darf.
"(3) Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden."
Manchmal ist das was nicht geschrieben steht schon interessant. Dieser Umstand, dass Behinderte die einzige Gruppe sind die in Deutschland gleicher als andere sind, sollte wie ich meine Fragen und Kritik aufwerfen.
In den letzten Monaten wurden im Rahmen des Tauziehens um Privilegien durch das Bundesteilhabegesetz sicher viele Menschen durch Petitionen auf schlimme Umstande, etwa dass Behinderte ihr Einkommen nicht behalten dürften und so nie die Möglichkeit hätten ein Haus zu kaufen, aufmerksam. -- Dass auch viele nicht-Behinderte nie die Möglichkeit haben werden eine Wohnimmobilie zu erwerben, weil ihre Bedürfnisse ihr Einkommen aufzehren und keine Rücklagen ermöglichen wird dabei beflissentlich ausgeblendet.
Ebenso zu kurz kommt bei diesen Petitionen die um Solidarität heischen das Subsidiaritätsprinzip. Also, dass jeder Mensch erst einmal für sich selbst sorgen und aufkommen muss. Und erst wenn dann ein als notwendig anerkannter Bedarf besteht das Gemeinweisen unterstützend dafür aufkommt.
Dies scheint erst einmal für alle Menschen zu gelten... Menschen mit Behinderung ausgenommen.
So wie ein jeder Mensch in sein Leben, das er sich nicht selbst ausgesucht hat, hineingeworfen ist, ein jeder Mensch Bedürfnisse hat die befriedigt sein wollen, gilt dies bei Behinderung doch gleichermassen.
Wieso also sollen Menschen mit Behinderung ihr Einkommen nicht wie jeder Andere zur Befriedung ihrer Bedürfnisse aufwenden und erst wenn dies nicht ausreicht, springt das Gemeinweisen ein. Wieso soll ein Mensch mit Behinderung im Bezug auf die Bildung von Vermögen und der daraus folgenden Möglichkeit des Immobilienwerwerbs besser gestellt sein als jemand der aufgrund seiner Anlagen oder äußerer Umstände - ohne deswegen formell die Voraussetzen für eine Behinderung zu erfüllen - einfach nur ein geringes oder kein Einkommen hat? Wieso soll Behinderung einen Menschen gleicher machen?
Aus dem Interview entnehme ich das Zitat:
"dass das Einkommen der Partner nicht mehr mit Eingliederungsleistungen verrechnet wird"
Wieso soll eine Bedarfsgemeinschaft mit einem Behinderten Partner nicht erst einmal für sich selbst aufkommen? Wieso soll eine solche Beziehung privilegiert werden? Wieso soll dasselbe nicht generell für alle Beziehungen gelten? Wieso soll im Allgemeinen weiterhin bei der Berechnung von Existenzsicherungsleistungen das Einkommen des Partners ebenfalls vorrangig zur Versorgung des Anderen herangezogen werden?
Letztlich denke ich, dass es unredlich ist den Art 3 Abs 3 GG zu nutzen um sich gleicher als Andere zu stellen. Eine redliche Forderung würde gleiche Prinzipien für Alle einfordern. Eine redliche Forderung würde nicht implizit eine Privilegierung von Behinderten etwa gegenüber Hartz IV Beziehern fordern - denn auch diese können keine Rücklagen bilden, denn auch diese müssen erst einmal ihre Rücklagen aufzehren bevor das Gemeinweisen einspringt. Wenn also das Subsidaritätsprinzip - oder das Maß der Subsidarität das üblicherweise eingefordert wird - für Behinderte nicht akzeptabel ist, wieso soll es dies dann für andere Menschen die Teil dessselben Gemeinweisens sind sein?
Aus dem Interview entnehme ich das Zitat:
"darf ein Nachteilsausgleich für Menschen mit Behinderungen nicht gleichgestellt werden mit der Sozialhilfe, sondern muss auf jeden Fall einen anderen Stellenwert haben."
Behinderung soll also ein Grund für Privilegierung sein - das ist wie oben geschrieben laut Grundgesetz sicher legal, aber wie ebenfalls geschrieben meiner Meinung nach nicht redlich.
Zugegeben, eine Behinderung hat/erwirbt man meist ohne eigenes Verschulden. Genauso trifft dies bei objektiver Betrachtung aber auch auf Arbeitslosigkeit oder Niedrigeinkommen zu. Arbeitslosigkeit oder Niedrigeinkommen mag nach neoliberaler Doktrin ein Versagen des Einzelnen sein. Letztlich ist sie aber ein strukturelles Problem, in das der Einzelne unwillkürlich hineingestossen wird.
Echte Inklusion und die soziale Kohäsion des Gemeinweisens erreicht man meiner Meinung nach nicht, indem man Privilegien für sich selbst fordert, sondern indem man Forderungen nach Teilhabe für alle Menschen gleichermassen aufstellt.
little Louis am Permanenter Link
Ich denke, Sie haben Recht. Danke für diesen kritisch-aufklärerischen und ehrlich - heucheleifreien Beitrag. Das findet man selbst unter Humanisten der linken oder auch linksliberalen Spielart nicht so oft.
Als Grund wird angegeben, dass ein behinderter nicht (mehr) in der Lage sei, bei für ihn negativen Effekten im Verlauf der Studie seine im gesunden Zustand erteilte Zustimmung zur Studie zurückzuziehen.
Atheist Steinbrenner am Permanenter Link
Hallo Little Louis, ich halte es für erfreulich, dass die erste Antwort auf meinen kritischen Beitrag nicht der Beginn eines Shitstorms ist.
Zu dem von Ihnen erwähnten Thema fremdnütziger Studien möchte ich nur erwähnen, dass bei medizinischen Behandlungen generell gilt: ein nein ist ein nein. Auf Umstände wie etwa die Geschäftsfähigkeit kommt es meines Wissens letztlich nicht an. Wenn etwa ein Kind die Spritze mit der Impfung nicht will, so ist es gleich ob die Eltern wollen, dass diese verabreicht wird. Wird Sie trotz Ablehnung durch das Kind verabreicht ist es Körperverletzung.