Kommentar

"Wutbürger" unter uns

Derzeit ist der Begriff des "Wutbürgers" in aller Munde, und jeder demonstrierende oder protestierende Bürger wird als solcher eingestuft. Zwar ist die Bezeichnung im Zusammenhang mit demonstrierenden Pegida-Anhängern zuerst aufgetaucht, aber inzwischen wird der Name auch für linke Demonstranten, die sich gegen CETA oder TTIP wenden, gebraucht. Ein Begriff macht Karriere. Dem Spiegel (Nr. 44 vom 29.10.16) ist es gelungen, sogar Martin Luther als "Wutbürger" zu charakterisieren.

Der Begriff selber ist mehr als zweifelhaft. Er unterstellt eine Protesthaltung aus unreflektierter, blinder Wut gegen gesellschaftliche Missstände aus der Sicht eines intellektuell selbstgefälligen und vermutlich gut situierten Bildungsbürgers, der sich lächelnd über die Proteste des "Wutbürgers" mokiert, der gegen die Folgen der Globalisierung oder der sich verändernden Arbeitswelt anrennt, die aus der Sicht des Bildungsbürgers notwendig oder alternativlos sind. Diese oberlehrerhafte Attitüde trieft nicht nur von selbstgefälliger Arroganz, sie verhindert auch die politische Analyse und die Beantwortung der Frage, warum Menschen den Demagogen jeglicher Couleur hinterherlaufen. Sie erklärt deren Verhalten als persönliche Dummheit und Dumpfheit.

Außerdem werden Proteste von linken und rechten Gruppen in einen Topf geworfen, so dass nicht mehr unterschieden werden kann zwischen vorwärts gewandten, lösungsorientierten Strategien für mehr soziale Gerechtigkeit und demokratische Rechte und rückwärts gewandten dumpf nationalen und fremdenfeindlichen Positionen.

Mit dem Begriff des "Wutbürgers" werden auch all jene Menschen diffamiert, die durch Globalisierung und neoliberale Politik geregelte Arbeit, sicheres Einkommen und zukünftige Perspektiven verloren haben und nun den Rattenfängern hinterherlaufen, weil sie - aus hilfloser Wut- glauben, nur noch dadurch zu den "Alt-Parteien" und der "Lügenpresse" durchdringen zu können. Wenn es eine Lehre aus Weimar gibt, dann die, dass Populisten dann groß werden und Menschen gewinnen, wenn sie erfolgreich soziale Fragen besetzen können.

Andererseits stellt sich die Frage: Sind wir in gewisser Weise nicht nicht alle "Wutbürger"? Opponiert nicht jeder und jede gegen den alltäglichen Trott und möchte mehr aus seinem Leben machen? Der eine will berufliche weiterkommen, die andere ihre Beziehung verbessern, ein dritter den schon lange geplanten Fitnesstermin realisieren. Manche möchten einfach nur, dass es ihren Kindern einmal besser geht. Ich vermute mal, es gibt niemand, der nicht einem schon lange gehegten Wunsch oder einer aktuellen Versuchung endlich nachgehen möchte. In diesem Sinne agieren alle Menschen mehr oder weniger widerständig. Diese Art von Wut steckt in uns allen.

Das Problem ist allerdings, dass viele nicht wahrhaben wollen, dass die meisten privaten und persönlichen Schwierigkeiten auch eine politische Dimension haben. Deshalb ist es dringend notwendig, dass sich Menschen vermehrt in die Politik einmischen und für soziale und menschenwürdige Lebensbedingungen engagieren – anstatt sich im Privaten einzumauern oder im Konsum zu berauschen.