Die Türkei erlebt eine der dunkelsten Phasen ihrer Geschichte. Das Land, das eben noch der EU beitreten wollte, ist zum weltweit größten Gefängnis für Journalisten geworden. Von allen inhaftierten Journalisten dieser Welt sitzen 80 Prozent in türkischen Gefängnissen ein.
In der Rangliste der Pressefreiheit ist die Türkei auf Platz 151 von 180 Ländern abgerutscht – sie steht nun hinter dem Sudan, Russland, Pakistan, Mexiko.
Die Pressefreiheit, eingeschränkt schon vor dem Putschversuch vom 15. Juli 2016, wurde danach gänzlich abgeschafft.
Seit der Ausrufung des Ausnahmezustandes wurden 169 Radio- und Fernsehsender, Webseiten und Zeitungen geschlossen.
Rund 2000 Journalisten haben ihre Arbeit verloren. An die 150 Journalisten sitzen im Gefängnis.
Die Regierung behauptet: Es sitze nicht ein einziger Journalist im Gefängnis. Und lässt gleichzeitig verlauten, alle Verhafteten seien des Terrorismus verdächtig. Weil die Regierung jede substantielle Kritik als Terrorismus brandmarkt. 2500 Menschen stehen vor Gericht weil Erdoğan sie wegen Beleidigung angeklagt hat. Journalisten pendeln seither zwischen Gefängnis und Gericht. Sie werden bedroht, sie werden angegriffen, sie werden misshandelt.
Wie Erdoğan die Presse zum Schweigen gebracht hat
Präsident Recep Tayyip Erdoğan hat er die großen Medien mit Steuerverfahren überzogen, hat ihre Sendezeiten eingeschränkt, ihnen Anzeigen entzogen. Zweitens hat er Journalisten ihre Akkreditierung entzogen und nach wichtigen Ereignissen Nachrichtensperren verhängt. So hat er journalistische Berichterstattung so gut wie unmöglich gemacht. Unter dem Vorwand, den Terrorismus zu bekämpfen, hat er investigative Journalisten kriminalisiert.
Drittens hat er oppositionellen Medien "Unterstützung von Terroristen" vorgeworfen, "Enthüllung von Staatsgeheimnissen" oder die "Beleidigung des türkischen Staates" und ihnen harte Strafen auferlegt. In der Folge wurden Zeitungen, Fernsehsender oder Radiostationen geschlossen und ihre Chefredakteure festgenommen. Es gab Razzien und körperliche Angriffe. Mehrere Medien wurden von der Regierung beschlagnahmt und unter Zwangsverwaltung gestellt. Es wurde beschlossen, dass jene Zeitungen, gegen die ein Verfahren eingeleitet wurde, keine staatlichen Inserate mehr erhielten. So wurde der politische Druck ökonomisch verstärkt. All diese Repressionen waren eine Abschreckung für jene Journalisten, die sich trauten, Kritik zu äußern. Zur Zensur kam die Selbstzensur.
Es wurde veranlasst, dass der Regierung nahestehende Geschäftsleute wichtige Medienorgane kaufen. Im Gegenzug erhielten sie große staatliche Aufträge. Diese Zeitungen und Fernsehsender wurden unmittelbar den Weisungen der Regierung unterstellt.
Sie wurden zu einem Propaganda-Apparat der Regierung umfunktioniert, der auch dazu diente, Oppositionelle zu diskreditieren, sie zu bedrohen und einzuschüchtern. Erdoğan wurde zu einem der größten Medienmogule Europas.
Die sozialen Netzwerke
Es fast unmöglich geworden ist, ungefilterte Nachrichten aus der türkischen Presse zu bekommen, haben sich viele Leser und Zuschauer den sozialen Netzwerken zugewendet. Also begann der Staatsapparat, seine Zensur auch auf die sozialen Netzwerke auszudehnen. Erdoğan sagte: "Twitter, Mwitter, wir werden all das ausrotten". Und machte sich an die Tat.
In kritischen Momenten legte er das Internet lahm. Er verlangsamte die Übertragungsgeschwindigkeit von Facebook und Twitter. War es nicht möglich, eine Nachricht zu stoppen, machte er jene zur Zielscheibe, die sie verbreitet hatten. Menschen, die kritische Nachrichten sendeten und manchmal sogar jene, die diese Nachrichten geteilt oder geliked hatten, wurden verhaftet.
Gleichzeitig stellte die Regierung eine Armee von Trollen auf, die all jene, die oppositionelle Meinungen äußerten, mit Drohungen und Einschüchterungen überzog. So waren bald auch die sozialen Netzwerke kein freier Raum mehr. Am Ende dieser Angstwelle blieben nur einige Zeitungen und ein einziger Fernsehsender übrig, die den Mut hatten, die Regierung zu kritisieren.
Das sind die Bedingungen, unter denen die Türkei auf den wichtigsten Volksentscheid ihrer Geschichte zugeht. Das Land steht vor einem Regimewechsel, bei dem die Kontrolle über das Parlament und die Justiz komplett an Erdoğan übergeben und er zum Alleinherrscher des Landes werden soll.
Wir sind da – und wir sind frei
Gestern wurden auch wir festgenommen. Gestern wurden wir ins Gefängnis geworfen. Gestern versuchte man, uns zum Schweigen zu bringen.
Aber wir haben selbst im Gefängnis nicht geschwiegen. Wir haben uns Gehör verschafft und das, was wir für richtig hielten, geschrieben, gesagt, geschrien.
Jetzt, während unsere Kollegen in der Türkei im Gefängnis sitzen, unter Druck stehen, arbeitslos sind, zum Schweigen gebracht werden, sind wir uns unserer Verantwortung bewusst.
Während die Türkei kurz vor einem historischen Regimewechsel steht, während die türkische Armee in Syrien kämpft, überall in der Türkei Bomben explodieren, die Wirtschaft einbricht, während eine 15-jährige Herrschaft in ihre letzte, repressive Phase eintritt, sind wir uns der Pflicht bewusst, den Lesern und Zuschauern ehrliche Nachrichten zu liefern.
Während die Demokratie, die Pressefreiheit, der Laizismus, die Menschenrechte, der Frieden, die Herrschaft des Rechts, die Gleichberechtigung bedroht sind, während die Regierung Vorbereitungen für ein Regime ohne Opposition trifft, für eine expansionistische Politik, die Abkopplung vom Westen, die Wiedereinführung der Todesstrafe und die Zerstörung all dessen, was das Volk erreicht hat - sind wir uns der Verantwortung für jene bewusst, die rechtstaatliche Prinzipien verteidigen.
Wenn nun die Presse in der Türkei unter Druck steht. Wenn nun die Medien in der Türkei zum Schweigen gebracht werden. Wenn nun die Regierung ihre eigenen Medien als Propaganda-Apparate einsetzt. Wenn nun Erdoğan – indem er alle zum Schweigen bringt - von einem Durchmarsch beim Volksentscheid und von einem autoritär regierten Land träumt. Dann ist es unsere Pflicht, den mit Füßen getretenen Prinzipien des Journalismus wieder zu ihrem Recht zu verhelfen und laut zu sagen: Wir sind da. Und wir sind frei.
Deshalb rufen wir "özgürüz" ins Leben.
Auf Türkisch heißt özgürüz: Wir sind frei – und das ist der Name, unter dem wir künftig berichten werden.
(gekürzt übernommen von correctiv.org / ozguruz.org)
4 Kommentare
Kommentare
Hans Trutnau am Permanenter Link
Viel Glück, Can Dündar!
Doğum günün kutlu olsun, özgürüz!
Dieter Bauer am Permanenter Link
Glückwunsch zur Gründung der türkischen Exilredaktion ÖZGÜRÜZ.
"Die Gedanken sind frei, wer kann sie erraten ........ verbieten kann sie weder Pulver noch Blei. DIE GEDANKEN SIND FREI !!!!!!"
Kay Krause am Permanenter Link
Danke für Ihren Artikel, lieber Can Dündar! Ich wünsche Ihnen und Ihren Mitkämpfern, dass die deutschen Medien Ihnen reichlich Platz einräumen für Ihre zukünftigen Berichterstattungen!
Wolfgang am Permanenter Link
Zuerst stirbt die Wahrheit, dann stirbt der Mensch.
Inschrift am Knochenhaueramtshaus, Hildesheim