Zum Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust

"Wir standen im KZ-Auschwitz. Was wir sahen, konnten wir nicht glauben."

Hanka Weingarten wurde 1929 in Zaim-Zmolny (Süd-Mähren) als Kind jüdischer Eltern geboren. Die Stadt liegt im heutigen Tschechien an der viel befahrenen und gut ausgebauten Strecke auf dem Weg vom Prag nach Wien. Für den hpd berichtet sie aus ihrem Leben.

1938 flüchtete Hanka Weingarten an der Hand ihrer Mutter vor deutschen Truppen, 1941 wird jüdischen Kindern die Erlaubnis zum Schulbesuch entzogen, so endete ihre Schulzeit mit dem Abschluss der 6. Klasse. 1942 stirbt der Vater im KZ Dachau. 1943 kommt sie per Transportbefehl nach Terezin (Theresienstadt). Mit 14 Jahren steht sie neben ihrer Mutter und Großmutter auf dem Appellplatz im Konzentrationslager-Auschwitz. Als "arbeitsfähige Juden" führt die Selektion nicht in die Gaskammer sondern Hanka und ihre Mutter in das KZ Hamburg-Neuengamme, 1945 weiter in das KZ Bergen-Belsen.

Hanka Weingarten, geborene Wertheimer – eine Zeitzeugin in Tel Aviv spricht

"Der Grund, dass ich aus meinem Leben erzähle, ist die Shoah, die Zeit im Zweiten Weltkrieg. Ihr sollt davon wissen. Ihr sollt darüber Filme drehen und Bücher lesen. Ihr sollt erzählen, den Kindern, den Enkelkindern, das ihr noch mit jemanden gesprochen habt, der das durchgemacht hat. Und Fragen sollt ihre beantworten. Deshalb erzähle ich fremden Menschen von meinem Leben.

Geboren bin ich 1929 in Znaim - Znojna, das ist eine kleine Stadt an der österreichischen Grenze, heute ist es Tschechien. Wir haben es sehr gut gehabt. "Znaimer Gurken" sind ja bekannt. Meinem Großvater und meiner Großmutter gehörte diese Fabrik, sie war so groß, dass exportiert wurde und zwar damals nach Palästina. Ja, da hat man die "Znaimer-Gurken" gegessen!

Hanka Weingarten, Foto: © Evelin Frerk

Hanka Weingarten, Foto: © Evelin Frerk

Ich war gerade in die 3. Klasse gekommen, als einmal in der Nacht, es war 10 Uhr am Abend, das war für mich als kleines Kind schon Nacht, meine Mutter ins Zimmer gekommen ist, in dem ich mit meiner Schwester, sie ist vier Jahre älter als ich, geschlafen haben. Meine Mutter hat gesagt: An der Grenze gibt es keine Ruhe. Wir werden zu einem Onkel fahren, jetzt. Wir nehmen einen kleinen Koffer, ihr nehmt etwas zum Anziehen und Spielsachen mit und wenn es an der Grenze ruhig wird, vielleicht in 10 Tagen oder einer Woche, kommen wir zurück.

So haben wir es getan. Meine Großmutter, mein Vater, meine Mutter, meine Schwester, mein Bruder und ich. Selbst hatten wir kein Auto, aber in der Fabrik von meinem Großvater waren sehr viele Autos und Chauffeure. Einer hat uns nach Iglau gebracht.

Wir haben gewartet. Eine Woche, zwei Wochen, drei Wochen, aber es wurde immer ärger. Meine Mutter war sehr gelehrt und optimistisch. Sie hat verstanden, dass wir nicht zurückgehen können. Wir sind von einem Verwandten zum anderen gefahren, wie lang kann man bei einem Onkel bleiben? Auch hatten wir kein Geld. Wir konnten zu keiner Bank gehen. Alles war beschlagnahmt.

Meine Mutter musste arbeiten. Sie sprach französisch, hatte an der Sorbonne Philologie und Philosophie studiert und abgeschlossen. Sie hat in Brünn an der Jüdischen Hochschule einen Posten bekommen, währenddem meine Schwester und ich bei meiner Großmutter in Proßnitz geblieben sind. Später sind wir mit meiner Mutter nach Prag übersiedelt. Ja, wir wanderten von einem zum anderen.

Zwei Klassen war ich in Znaim, die dritte Klasse in Proßnitz, die vierte auf einer normalen Schule in Prag. Und dann ist das Gesetz gekommen, alle jüdischen Kinder durften nicht mehr auf eine normale sondern mussten auf eine jüdische Schule gehen. Fünfte und sechste Klasse war ich auf einer jüdischen Schule. Es war schwer hineinzukommen, weil auf einmal alle jüdischen Kinder in einer jüdischen Schule sein mussten. Aber, da meine Mutter auf der Hochschule gearbeitet hatte, wurden wir angenommen, bis dann auf einmal das Gesetz gekommen ist, Juden dürfen nicht in die Schule gehen. Wir haben jüdische Studenten gefunden und die haben uns zu Hause unterrichtet.

1941 haben die Transporte begonnen, die ersten fünf sind nach Lodz gegangen. Theresienstadt hat noch nicht existiert. Aber dann, Ende 1941 hat man schon Juden von der Tschechoslowakei nach Terezin geschickt.

Hanka Weingarten, Foto: © Evelin Frerk
Hanka Weingarten, Foto: © Evelin Frerk

Theresienstadt war ein Ghetto, 60 Kilometer von Prag entfernt. Das Ghetto war nicht dafür angelegt, dort zu bleiben. Die meisten Leute, die nach Theresienstadt geschickt wurden, kamen aus Deutschland, aus Österreich, Dänemark, aus der Slowakei, die meisten, über 50 Prozent aber waren aus Böhmen und Mähren. Manche Leute waren in Theresienstadt nur einen, andere drei Tage oder eine Woche, manche einen Monat und andere ein Jahr, je nach dem. Die Transporte sind in den Osten gegangen. Wir haben nicht gewusst, wohin man fährt, aber wir haben gewusst, es geht in den Osten, so hat man es genannt.

Auch Leute aus Dänemark waren in Theresienstadt eingeschlossen und die Dänische Regierung wollte wissen, was mit den dänischen Juden passiert und hat bei den Deutschen, den Nazis nachgefragt. Ja, ein Besuch sei möglich, haben die Deutschen geantwortet. Es dauere etwa ein halbes Jahr bis sie willkommen sind. In dieser Zeit haben die Deutschen Theresienstadt "schön" gemacht mit Blumen, mit Geschäften. Dann haben sie gesehen, dass zu viele Juden in Theresienstadt sind, das ist nicht gut.

So wurden 5.000 Juden von Theresienstadt nach Auschwitz geschickt. Unter denen waren auch meine Mutter, meine Großmutter und ich.

Mein Vater hat man schon 1942 in Dachau getötet. Damals haben wir noch einen Brief bekommen, mein Vater sei durch Krankheit gestorben. Wir haben gewusst, dass es nicht eine Krankheit war. Ich habe erst später von seinem Tod erfahren, meine Mutter dachte, ich würde sehr traurig sein.

Wir sind im Mai 1944 in das KZ-Auschwitz gekommen. Es war ein Moment, den ich nie vergessen werde: Gefahren wurden wir in Viehwaggons, die Türen wurden aufgemacht, es war Mitternacht geworden. Wir haben die Hunde gesehen, den Stacheldraht, die SS-Uniformen.

Ich gehe jetzt ich in der Erzählung etwas zurück: Meine Mutter hat einen Freund gehabt, er war ledig und hatte eine nicht jüdische Freundin in Prag. Wir haben viel von einander gehalten. Er war gleich mit dem ersten Transport nach Lodz gekommen. Er hatte wohl gleich begriffen, dort kann man nicht lange leben. Ich weiß nicht wie, er hat jedenfalls zu zu einem Deutschen gesagt: Du musst mich hier heraus bringen und dafür wirst Du sehr viel Geld bekommen. Die Absprache war, erst das Geld, dann sollte er herauskommen. Jedenfalls kam sein Brief bei einem Freund in Prag an, er müsse sein Leben retten, man möge dieses Geld geben. So ist es geschehen. Der Mann ging mit dem Geld zurück in des Lager, ob es Lodz war oder ein Lager in der Nähe, weiß ich nicht mehr.

Man musste warten, bis ein bestimmter Wachmann auf seinem Posten war, unser Freund durfte dessen zweite SS-Uniform anziehen und ist zurück nach Prag gekommen. Das war noch, bevor wir nach Theresienstadt deportiert wurden. Seine Freunde, unsere Freunde hatten plötzlich Angst bekommen. Er hatte gesagt, wenn die Deutschen uns drei finden, wenn die Flucht aus dem Lager also herauskommt, werden sie uns töten. Das Haus, in dem er dann versteckt wurde, lag nahe dem Haus, in dem wir wohnten. Es hatte einen (doppelten) Boden in dem Sachen hinterlassen waren.

Darin hatte die Freundin ihm eine Ecke gegeben. Auflage war, er müsse dort Tag und Nacht zu bleiben. Ich werde kommen, Dir Essen bringen und wir können sprechen, hatte die Freundin gesagt und er hatte sie gebeten, meiner Mutter auszurichten, sie alles, alles tun, um nicht in ein Konzentrationslager zu kommen. Er hat beschrieben, was Konzentrationslager heißt.

Hanka Weingarten, Foto: © Evelin Frerk
Hanka Weingarten, Foto: © Evelin Frerk

Meine Mutter, eine intelligente Frau, hat geglaubt, seine Beschreibung sei unmöglich. Sie hat eher an seinem Geisteszustand gezweifelt. Aber, wie wir nach Auschwitz gekommen sind und meine Mutter die SS, Stacheldraht, die Hunde und alles gesehen hat, erinnerte sie sich an des Freundes Stimme. Meine Mutter aber war eine Optimistin. Als wir aus dem Waggon heraus kamen hat sie zu mir und meiner Großmutter gesagt: Das ist ein Konzentrationslager aber, es ist nicht für uns. Wahrscheinlich ist dahinter etwas anderes und das ist für uns. Wir waren in der Mitte, mittendrin und haben nicht geglaubt, das dieses für uns sei! Wir haben das nicht fassen können. Das war auch für Optimisten eine schwere Zeit. In dem KZ-Auschwitz waren wir circa sechs Wochen. Ich will nicht beschreiben was es war. Es war etwas, das man nie beschreiben kann…."

Selektion

"In Auschwitz sollte eine Selektion stattfinden, uns hat man gesagt, alle Leute zwischen 16 bis 40 Jahren müssen sich anmelden. Man hat den Grund der Selektion nicht gewusst. Ein Teil der Häftlinge, so hat man gesagt, habe künftig zu arbeiten. Ein anderer Teil der Menschen in dem Lager hat gesagt, die Russen sind sehr nahe und die Nazis wollen nicht, dass die fähigen Juden eine Revolution machen und darum werden sie erst die jungen Leute verbrennen und dann die älteren.

Das waren zwei Versionen. Meine Mutter hat mir gesagt, wir wissen nicht wie es ist. Wir können mit der Großmutter bleiben. Wir können gehen und hoffen, dass es eine Arbeit ist., die auf uns wartet. Meine Mutter war ein bisschen mehr als 40-jährig, ich war 14 einhalb. Die Deutschen hatten keine Dokumente. Wir haben mit dem Alter gelogen. Ich habe gesagt, ich sei 16 und meine Mutter hat gesagt, sie sei 40. Dann sind wir in fünf Reihen aufgestellt worden und standen den Deutschen gegenüber: 16 Jahre, Landwirtschaft, habe ich gesagt - dann ist man den gewiesenen Weg gegangen, andere sind den anderen Weg gegangen.

Wenn wir mit dem Rücken zu den Nazis waren, haben wir den Leuten, die noch gewartet haben, sagen können, was wir gesagt haben und was Links oder Rechts bedeutet.

Glücklicherweise sind wir, meine Mutter und ich auf die rechte Seite gekommen. Damit sind wir nach ein paar Tagen Auschwitz von dort rausgekommen. Man hat uns zur Arbeit nach Hamburg geschickt. Das war auch ein Konzentrationslager, das ein Teil von Neuengamme war, Neuengamme in Hamburg, Wir sind dorthin gekommen, ich war schwach, auch von der Reise. Ich kann mich nicht richtig erinnern, dass wir gegessen haben und solche Sachen. Aber, interessant war, wenn wir in dem Zug gefahren sind, es war wieder ein Transport, ein Viehwaggon aber, es war im Juli, man hat die Tür offen gehabt, weil es sehr heiß war, und auf einmal haben wir gesehen, dass die Leute draußen, außerhalb von dem Waggon sehr normal leben. Ich habe aus dem Waggon heraus Kinder gesehen, die spielten, einen Park, Menschen auf Fahrrädern, Geschäfte. Alles das hatte ich schon vergessen. Kommt ein Mensch in eine schlechte Situation, ist er nur auf diese Situation fixiert. Er träumt nicht und anderes erreicht ihn nicht mehr.

Hanka Weingarten, Foto: © Evelin Frerk
Hanka Weingarten, Foto: © Evelin Frerk

Meine Mutter und ich sind also nach Hamburg gekommen. Hamburg ist eine Hafenstadt und war im Krieg. Alles war leer. Von der SS bewacht schliefen wir in Stockbetten. Bombardiert wurde Tag und Nacht. Dennoch, ich war optimistisch. Ich dachte, wenn die Stadt bombardiert wird, will man den Krieg rasch beenden. Ich habe nicht gewusst, wie lange wir leiden werden.

Wir haben von Soldaten bewacht gearbeitet, haben mit ihnen Strassen gebaut, waren in Fabriken. Wir haben sehr viel gearbeitet. Ich kann aus der Zeit erinnern, dass ich immer hungrig und immer müde war. Ich war mit meiner Mutter zusammen, das war sehr wichtig für mich. In Hamburg haben wir an drei verschiedenen Plätze gewohnt, immer war es in dem Konzentrationslager, das zu Neuengamme gehörte. Wir alle haben darauf gewartet, dass der Krieg zu Ende ist. Es war ein sehr langer Krieg. Wenn die Nazis doch gewusst haben, dass der Krieg für sie verloren ist, trotzdem waren sie zu uns so schlecht. Ich kann nicht verstehen, wie ein Mensch, welcher weiß, er hat verloren, dennoch die Energie aufbringt, schlecht zu anderen Leuten zu sein. Das ist …" ,Hankas Hände greifen in die Luft, ins Nichts. Sie fährt fort: "bis heute kann ich das nicht verstehen."

Befreiung

"Im März 1945 haben die Nazis gewusst, der Krieg ist beendet. Arbeit gibt es für uns nicht mehr. Da hat man uns wieder in Viehwagen verfrachtet und jetzt nach Bergen-Belsen geschickt. Ich glaube, von Hamburg nach Bergen-Belsen zu fahren hat eine Woche gedauert. Bei der Ankunft schon haben wir so viele Züge gesehen und so viele Menschen mit den gestreiften Anzügen. Es war ganz schrecklich. Wir haben tausende von toten Leuten gesehen. Es war schrecklich. Ein Beispiel kann ich geben. Jemand hat geschrien: Hanka, Hanka, Hanka, meinen Namen in tschechischer Sprache, ich habe mich umgesehen, nichts, Hanka, Hanka, ging es weiter. Es war dort ein Gebäude, das einen Keller gehabt hat. Die Fenster von dem Keller waren auf der Höhe des Trottoirs und von dort sind die Rufe gekommen. Ich habe eine Freundin gesehen, mit der ich in die 5. Klasse gegangen bin. Ich habe auch geschrien, die anderen Leute haben mir Platz gelassen, ich konnte zu ihr. Sie hat mir schreckliche Sachen gesagt zu ihrer Mutter, zu ihrer Schwester. Ich habe gesagt, ich komme Dich besuchen. Das waren die ersten Tage in Bergen-Belsen. Dann bin ich sehr krank geworden und auch meine Mutter.

Sie ist am 16. Mai 1945 noch im KZ Bergen-Belsen gestorben, das war einen Monat nach der Befreiung durch englische Truppen und das war am 15. April 1945. Die Engländer wussten auch nicht, wie sie das Lager vorfinden würden. Der Zustand hat auch sie erschreckt. Sie hatten nicht genug Essen für uns und keine Medikamente. Bei so vielen Menschen, wie sollte das auch gehen. Ich bin dort noch circa zwei Monate geblieben, bis ich ein bisschen gesund war.

Die Engländer haben gesagt, sie werden uns dort hinbringen, wohin wir wollen. Ich wollte nach Prag. Die Tschechoslowakei war zu dem Zeitpunkt von den Amerikanern besetzt, die Engländer waren bis Pilsen und in Prag waren die Russen. Die Engländer konnten uns nicht in die russische Zone bringen. Also brachten sie mich nach Pilsen.

Ich hatte nur meine Tasche. Ich bin einfach gegangen und in den Zug gestiegen. Alle Leute haben gewusst, woher ich komme. Niemand hat mich gefragt oder aufgehalten. Im Zug haben mir die Menschen zu Essen gegeben. Die Bevölkerung war sehr nett. Dann war ich in Prag.

Reise nach Israel

Hier muss ich wieder in der Geschichte zurück gehen. Als meine Mutter geheiratet hat, ist eine nicht-jüdische Frau zu uns in den Haushalt gekommen, sie wurde unser Kinderfräulein. Sie hatte mich zuletzt auf meinem Weg ins Konzentrationslager gesehen. Zuvor war vereinbart, sollten wir uns auf der Strasse begegnen, werden wir einander nicht erkennen. Ich habe gewusst, sie ist in Prag und bin direkt zu ihr gegangen. Sie war da und war wunderbar zu mir, sie war wie eine Mutter und ich war bei ihr.

Weil ich krank war, bin ich alleine in die Schweiz gekommen. Gut drei Jahre lang war ich dort im Sanatorium." Die Stimme von Hanka Weingarten wird unbeschwerter, höher, fröhlich spricht sie ihr nächstes Ziel ausspricht: "Ich bin nach Prag gefahren, war dort ein Jahr und habe alles vorbereitet, um nach Israel kommen. Meine Schwester war inzwischen schon zehn Jahren dort. ebenfalls mein Onkel, der Bruder meiner Mutter. Ich hatte ihnen geschrieben, aber…" die Bewegung ihrer Hände beenden diesen Satz, sie gehen wieder ins Leere, "… als das Schiff im Hafen angekommen war, es war ein Freitag Abend, hat mich niemand erwartet.

Später habe ich erfahren, der Brief ist erst später angekommen. In Israel war es dieselbe Sache, wieder haben die Menschen mir geholfen. Ich habe gewusst, ich gehe in der Nähe von Haifa in einen Kibuzz. Am nächsten Tag konnte ich mit meiner Schwester telefonieren. Sie ist mit dem Onkel gekommen.

Damit ist ein Kapitel meines Lebens beendet. Ich habe dann wirklich ein gutes Leben gehabt. Ich habe in dem Kibuzz geheiratet. Mein Mann wollte studieren. Neben der Arbeit war in Israel dieser Weg nicht möglich. Er hat dann auf einem Schiff gearbeitet und ist so nach Amerika gefahren. Für Tschechen war es nicht so einfach, man brauchte ein Visum, deshalb sind wir nicht zusammen gefahren. Meinem Mann ist es gelungen. Geld hatte er nicht, deshalb hat er dort gearbeitet. Nach einem Jahr bin ich nachgekommen und nun sagte er, ich solle studieren. Wie soll das gehen, ich habe nur sechs Klassen und war damals schon 20 Jahre alt. Aber, ja, dort in Amerika habe ich noch eine Highschool besucht, den Abschluss bekommen und studiert. Alles war in Ordnung."

Hanka Weingarten, Foto: © Evelin Frerk
Hanka Weingarten, Foto: © Evelin Frerk

Evelin Frerk traf Hanka Weingarten 2016 in Tel Aviv. Sie hat das Gespräch transkribiert.


Anmerkung
Die Befreiung des Konzentrationslagers Bergen-Belsen wurde in der Nacht vom 12. auf den 13. April 1945 in einem bis dahin einmaligen Vorgang mit einem lokalen Waffenstillstandsabkommen zwischen der Wehrmacht und den vorstoßenden britischen Truppen ausgehandelt. Himmler hatte einer kampflosen Übergabe des Lagers zugestimmt. Bergen-Belsen liegt in Niedersachen, 82 km südlich von Hamburg entfernt. 2017 beträgt die Fahrzeit 1 Stunde. 1945 hat der Transport "… wohl eine Woche" gebraucht.

Zeitleiste - Vita – Wendepunkte
Hanka Weingarten geborene Wertheimer
1929 geboren am (12. Dezember) in Znaim, Sudetenland/Süd-Mähren, heute Tschechien
1938 Hanka besucht die 3. Klasse: Wegen Unruhe an der Grenze verließ die Mutter fluchtartig das Haus mit ihren Kindern an der Hand.
1938 Hanka beendet die 3. Klasse in Proßnitz, dort ist sie mit ihrer Großmutter bei Verwandten
1939 4.Klasse, Hanka lebt mit Mutter, Großmutter und Geschwistern in Prag und besuchte eine öffentliche Schule
1939 Ausreise der vier Jahre älteren Schwester Miriam nach Palästina
1940 5. Klasse – per Gesetz durften jüdische Kinder nur in jüdische Schulen gehen
1941 die Transporte beginnen
1941 Hankas 6. und letzte Schulklasse, danach war jüdischen Kindern der Schulbesuch verboten.
1942 Aus dem Lager Dachau kommt die Meldung: Tod des Vaters durch Krankheit 1943 im März –Transport-Befehl für Hanka, ihre Mutter und Großmutter nach Terezin (Theresienstadt) Hanka Wertheimer kommt dort in das Zimmer 28., ein Mädchen-Zimmer, aus denen die Zeitzeugen heute über ihr Leben berichten.
1944 im Mai – ihr Transport nach Auschwitz, Hanka ist 14 ½ ist Jahre alt, 6 Wochen später die Selektion. Arbeitsfähige werden transportiert, Hanka und ihre Mutter Lili Wertheimer in das KZ Hamburg-Neuengamme.
1945 März – für uns gibt es dort keine Arbeit, Weitertransport in das KZ-Bergen-Belsen.
1945 vom 12. zum 13. April schließen deutsche Wehrmacht und britische Truppen für das Lager Bergen-Belsen ein lokales Waffenstillstands-Abkommen.
1945 – 15. April – Das Lager Bergen-Belsen in Niedersachsen ist befreit. Es ist überfüllt von Menschen. Erst einmal weiß keiner wohin.
1945 - 16.Mai Hankas Mutter, Lili Wertheimer, stirbt an Typus im Lager Bergen-Belsen. Sie wurde 43 Jahre alt,
1945 - Hanka, 15 ½ Jahre alt, erreicht das von Russen besetzte Prag, sie findet Freunde, auch Mädchen aus Terezin wieder und geht ins Gymnasium. Eine Tuberkulose wird diagnostiziert, mehr als 3 Jahre bleibt sie in der Schweiz in einem Lungen-Sanatorium. Nach Prag zurückgekehrt, bleibt Hanka Wertheimer dort ein weiteres Jahr und bereitet das vor, was sie immer und klar wollte: Ihre Ausreise nach Israel.
1949 Hanka Wertheimer kommt mit einem Schiff in Israel an und geht in den Kibuzz Hachotrim. Dort lernt sie Abraham Weingarten kennen.
1951 - am 10. Juli heiraten Hanka Wertheimer und Abraham Weingarten,
1952 - Abraham Weingarten erreicht Amerika mit dem Ziel zu studieren.
1953 Hanka folgt ihrem Mann nach Amerika, beide studieren. Hanka Weingarten wird examinierte Ernährungsberaterin, Abraham Weingarten Spezialist im Bereich Landwirtschaft und Hühnerzucht und setzt sein Wissen für die UN als Food- and Drug-Wissenschaftler ein.
1959 Rückkehr von Hanka und Abraham Weingarten nach Israel.
1961 das Paar arbeitet in ihren Berufen in Italien, Bulgarien, in Singapur,
1973 und kehrt mit drei Söhnen zurück nach Tel Aviv.
2008 23. Januar – im Deutschen Bundestag wird die Ausstellung "Mädchen von Zimmer 28" eröffnet
2016 - 27. Januar in Hamburg wird ein weiterer Stolperstein enthüllt: "Lili Wertheimer, geb. Reich, geb. am 21. 6. 1901 in Neu Bidschow, deportiert von Prag nach Theresienstadt, Auschwitz und ins KZ Neuengamme, umgekommen im KZ Bergen-Belsen am 16. 5. 1945."

Hanka Weingarten lebt heute in Tel Aviv in der Wohnung, die sie 1973 bezogen hat und in der Nähe ihrer Söhne, Schwiegertöchter und Enkel. Abraham Weingarten ist gestorben.

Literatur
"Die Mädchen von Zimmer 28" Hannelore Brenner-Wonschick. Droemer Verlag 2004, Aufbau Verlag 2008 – deutsche Ausgaben vergriffen (Edition Room 28 erhältlich).
Seit 2004 dokumentiert die internationale Wander-Ausstellung "Die Mädchen von Zimmer 28".

"Die Mädchen von Zimmer 28 - Freundschaft, Hoffnung und Überleben in Theresienstadt", Hannelore Brenner-Wonschick, Aufbau Verlagsgruppe ISBN 978-3-351-02663-9