Am Rande des evangelischen Kirchentags in Berlin gab es auch eine Podiumsdiskussion zum Thema "Offene Gesellschaft: Wo sind die Grenzen der Toleranz?". Einer der Gäste auf dem Podium war der Vorstandssprecher der Giordano Bruno Stiftung (GBS), Dr. Michael Schmidt-Salomon. Der hpd dokumentiert sein Impulsreferat.
Wer für alles offen ist, ist nicht ganz dicht; wer für nichts mehr offen ist, dogmatisch erstarrt. Die offene Gesellschaft muss sich vor beiden Gefahren schützen. Sie muss die Kunst beherrschen, sich weiterzuentwickeln, ohne ihren Wesenskern zu verlieren, offen für Veränderungen zu bleiben, ohne ihre Prinzipien aufs Spiel zu setzen, größtmögliche Freiheit zu gewähren, ohne jenen Kräften Tür und Tor zu öffnen, die darauf hinarbeiten, die Fundamente aller Freiheit zu zerstören.
Als Karl Popper sein epochales Werk über die offene Gesellschaft verfasste, war Letzteres gerade geschehen, denn die Nationalsozialisten hatten die Freiheiten der Weimarer Republik genutzt, um die Demokratie von innen her zu untergraben und durch eine Diktatur zu ersetzen. Popper suchte daher nach den Prinzipien, die für eine offene Gesellschaft konstitutiv sind und daher unter keinen Umständen aufgegeben werden dürfen.
Dabei geht es vor allem um vier Kernprinzipien, nämlich erstens das Prinzip der Liberalität (also die Orientierung am Ideal der Freiheit), zweitens das Prinzip der Egalität (die Orientierung am Ideal der Gleichheit), drittens das Prinzip der Individualität (die Orientierung am Einzelnen statt am Kollektiv) sowie viertens das Prinzip der Säkularität (die Orientierung an weltlichen Formen der Normbegründung).
Jedes dieser Prinzipien ist für sich genommen spannend genug, um darüber zu diskutieren. Da wir uns hier aber am Rande eines Kirchentags befinden, möchte ich mich auf das Prinzip der Säkularität konzentrieren. Was ist damit gemeint? Nun, ein moderner Rechtsstaat muss selbstverständlich die Freiheit der Religionsausübung garantieren, er selbst aber bedarf keiner religiösen Legitimation. Derartige Legitimationen stehen sogar im Widerspruch zu der für den Rechtsstaat zentralen Idee des Gesellschaftsvertrags. Diese besagt nämlich, dass die Werte des Zusammenlebens nicht durch "höhere" (religiöse) Instanzen vorgegeben sind, sondern unter den Gesellschaftsmitgliedern ausgehandelt werden müssen – und zwar in einer möglichst rationalen, fairen, demokratischen Weise.
Dabei ist der Rechtsstaat zur strikten Einhaltung des Gebots der weltanschaulichen Neutralität verpflichtet, was nicht zuletzt auch pragmatische Gründe hat: Denn wenn die staatlichen Normen für alle Bürgerinnen und Bürger gleichermaßen gelten müssen, dann sollten sie für auch für alle gleichermaßen einsichtig sein, weshalb sie eben nicht auf religiösen Überzeugungen gründen dürfen, die von weiten Teilen der Bevölkerung nicht akzeptiert werden.
Weltanschauliche Neutralität bedeutet auch, dass der Staat religiöse wie nichtreligiöse Weltanschauungsgemeinschaften gleich behandeln muss. Allerdings darf weltanschauliche Neutralität nicht mit Wertneutralität verwechselt werden. Selbstverständlich muss der Staat seine Normen im Notfall auch gegen die Interessen von Weltanschauungsgemeinschaften durchsetzen. Daher darf er unter keinen Umständen den Eindruck erwecken, dass die Religionen in irgendeiner Weise über dem Gesetz stünden. Wenn Rechte verletzt werden, sind für den Rechtsstaat die Grenzen der Toleranz erreicht, wobei es völlig gleichgültig ist, ob diese Rechtsverletzungen mit Jahrtausenden alten, "heiligen" Traditionen begründet werden oder nicht.
Wenn wir nun diese theoretischen Prinzipien mit der gesellschaftlichen Praxis vergleichen, so fallen erhebliche Mängel auf. Dies betrifft keineswegs bloß die offenkundige Privilegierung der christlichen Kirchen gegenüber anderen Weltanschauungsgemeinschaften. Tatsächlich müssen wir feststellen, dass die Freiheiten der Bürgerinnen und Bürger aus religiösen Gründen sehr viel weitreichender beschnitten werden – und zwar von der Wiege bis zur Bahre, ja sogar darüber hinaus, nämlich vom Embryonenschutz bis hin zur Bestattungspflicht. Denn noch immer beruhen viele Rechtsnormen in Deutschland auf christlichen Prämissen, sind also weltanschaulich nicht neutral gehalten.
Diese Schieflage hat mitunter tragische Folgen. Denken Sie nur an das verheerende "Sterbehilfeverhinderungsgesetz", das im Jahr 2015 vom Deutschen Bundestag auf Druck der Kirchen und gegen das einhellige Votum der Bevölkerung beschlossen wurde. Dennoch müssen wir festhalten, dass das eigentliche Problem hierzulande weniger bei den christlichen Kirchen selbst liegt, die im internationalen Vergleich geradezu humanistische Positionen vertreten, sondern sehr viel eher bei den hier ansässigen Islamverbänden, die mit ihrer oftmals erzreaktionären Agenda ungestört im Windschatten der Kirchenprivilegien mitsegeln.
Eben hier rächt sich in besonderem Maße, dass das Prinzip der Säkularität so wenig geachtet wird. Denn es sollte klar sein, dass nur ein säkularer, weltanschaulich neutraler Staat Freiheit und Gleichheit für alle Bürgerinnen und Bürger garantieren kann. Nur er besitzt die Glaubwürdigkeit, in Konfliktfällen als unparteiischer Schiedsrichter aufzutreten und für die Einhaltung allgemein verbindlicher Regeln zu sorgen. Aus diesem Grund sollten wir heute sehr viel mehr Säkularität wagen – denn auf Dauer wird die offene Gesellschaft nur so gegen ihre Feinde zu verteidigen sein.
18 Kommentare
Kommentare
Sebastian Olbrich am Permanenter Link
Ein sehr lesenswerter und ausgewogener Text. Danke!
Klaus Bernd am Permanenter Link
Leider scheint die Anspielung auf das "Mehr Demokratie wagen" bei der SPD auf taube Ohren zu stoßen.
Mark Keller am Permanenter Link
Das stößt nicht unbedingt auf taube Ohren. Es erreicht nur nicht die entscheidenden Ohrenpaare, bzw.
In dieser speziellen Frage dürfte aber der Widerspruch kleiner sein, als man denkt, weil die kirchliche Beeinflussung über Mitgliedschaften, Posten und Pöstchen größer ist, als man denkt.
Jann Wübbenhorst am Permanenter Link
Interessant ist, dass Schmidt-Salomons Kernargument ganz ähnlich schon 2006 in einer Rede von Barack Obama verwendet wurde - leider hat es der Ex-Präsident auf dem Kirchentag so nicht wiederholt.
https://www.youtube.com/watch?v=pCZOyGIKp_E&feature=youtu.be
http://www.nytimes.com/2006/06/28/us/politics/2006obamaspeech.html
Frank Spade am Permanenter Link
Danke für die Links. Ja, so spricht ein christlicher Humanist.
Stefan Wagner am Permanenter Link
Leider haben ich keinen Audiomitschnitt der ganzen Veranstaltung gefunden.
"Wenn beispielsweise eine Muslima hierzulande mit ihrer Tochter zum Frauenarzt komme, um aus religiöser Tradition heraus deren Schamlippen zu beschneiden, sei das gegen die Menschenrechte. Doch weigerte sich der Arzt, das zu tun, würden sie möglicherweise zu einem „Kurpfuscher“ gehen, der die Gesundheit der jungen Frau gefährde. Deshalb könnte der Arzt den Eingriff gegen seine eigentliche Überzeugung vornehmen und dann gemeinsam mit Betroffenen etwas gegen diese religiöse Praxis unternehmen."
Was wir aus der Jungenbeschneidungsdebatte schon kennen: Die Amputation der Schamlippen, die zweifelsfrei eine Gesundheitsschädigung ist wird hier kleingelogen zur Gesundheitsgefährdung, auf nicht-steriles Operationsbesteck quasi reduziert. Dass fehlende Anästhesie gemeint sein könnte schließt die verniedlichende Phrase von der Gefährdung auch aus.
Offenbar redet sie einem Vorrang religiöser Moral über das Strafrecht das Wort, denn noch ist die Mädchenbeschneidung ja verboten und hält es für eine gute Idee, dass der Täter nach der Tat gegen seine eigene Körperverletzung agitativ mobil macht, also eine Art Superheuchler, der vorab weiß, dass er das falsche tut und will, dass er diese bizarre Moral bewussten Auges realisiert.
Diese faule Ausrede mit Hinterhofbeschneidung und die Bagatellisierung der Verstümmelung als Gesundheitsgefährdung lese ich als Vorstoss, jetzt auch die Mädchenbeschnedung zur Disposition zu stellen, nach dem es bei Jungs so gut geklappt hat, und bis dahin die religiöse Moral als über den Gesetzen der bürgerlichen Gesellschaft stehend zu behaupten.
Die angebliche Fähigkeit der Religion in Fragen der Moral Kompass zu sein erweist sich mal wieder als Selbstbetrug. Auf ganzer Linie versagt diese Moral, deren Hauptzweck sich entlarvt als Konfliktvermeidung der Starken auf Kosten der Schwachen, hier des Mädchens, welches auf dem Altar des Kulturappeasements seine Sexualität zu Grabe tragen darf.
Vielleicht suche ich falsch, aber in der Presse finde ich zu diesen skandalösen, menschenverachtenden Aussagen Aus der Aus nichts!
Ulf am Permanenter Link
Vielen Dank, dass sie auf diesen Skandal aufmerksam machen, in der Tat, sie haben die fragwürdigen Punkte dieser unsäglichen, ja unwürdigen Argumentierung gut zusammengefasst.
Frank Nicolai am Permanenter Link
Der hpd hat die Veranstaltung auf Video festgehalten. Allerdings ist der Ton nicht sonderlich gut. Die Passage, um die es hier geht, wird aber sicherlich von uns noch ausgewertet.
Stefan Wagner am Permanenter Link
Vielen Dank. Das würde mich sehr freuen.
Die Maßstabe von "Ton nicht sonderlich gut" gehen ja teilweise sehr auseinander. Wenn ich einen guten Podcast gehört habe ärgere ich mich auch über andere, bei denen die Stimmen recht verzerrt sind oder wenn man dauernd die Lautstärke regeln muss, weil der eine lauter rüberkommt als ein anderer bei einer Podiumsaufzeichnung.
Wenn der Text bei allen Abstrichen verständlich ist würde mich die Aufnahme sehr interessieren, auch als Mail oder so, da ich mich inzwischen mit einem Blogpost gleichen Tenors wie mein Kommentar hier hervorgewagt habe.
Dass Sie eine eher betrübliche Qualität unter Ihrem Label nicht veröffentlichen wollen verstehe ich gut.
Sollte sich die Darstellung von pro-M. nicht halten lassen würde ich den Beitrag lieber selbst rasch ändern. Sollte ich deswegen angegriffen werden würde ich mich gerne verteidigen können.
Mein Blogbeitrag: https://demystifikation.wordpress.com/2017/05/31/aus-der-aus-amputationsambitionen/
Björn Müller am Permanenter Link
Dass der elterliche Wunsch "die Schamlippen der Tochter beschneiden zu lassen" das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit der Tochter verletzt, scheint der Frau aus der Au nicht einzuleuchten.
Aber scheinbar macht es vielen Menschen nichts aus menschenverletzende Bräuche und Sitten weiterhin auszuüben, anstatt Menschen mit ihrer Biologie/Körperlichkeit zu achten.
Wer mehr auf Menschenrechte achtet, als dass er Menschen achtet - handelt mitunter rechtswidrig.
Martin Weidner am Permanenter Link
Ich widerspreche der Kirchentagspräsidentin auch entschieden. Aber ist Ihre Argumentation nicht exakt parallel zur Diskussion um die Abtreibung vor einigen Jahrzehnten?
Eberhard Kox am Permanenter Link
Es ist alles so klar, einleuchtend und eindeutig. Ließe sich doch alles schneller und einfacher verwirklichen! Bestehende Einfluss- und Machtgefüge sind leider nicht so einfach zu verändern.
Björn Müller am Permanenter Link
Eberhard Kox,
dass die Gedanken und Ideen der gbs sowie der PdH noch mehr in das Bewusstsein der Allgemeinheit rücken, dafür bin ich Mitglied der PdH geworden. Dass sich aber das "Bewusstsein der Allgemeinheit" allein durch ebensolche Gedanken und Ideen "zum Besseren" verändert bleibt abzuwarten. Ein Bsp.: Das Umweltbewusstsein der Allgemeinheit hat sich ja auch mithilfe von Ideen der Umweltparteien im Laufe der letzten Jahrzehnte gewandelt bzw. auch weil Volksparteien Umweltpolitik in ihre Programme aufgenommen haben. Ein "Mehr an Bewusstsein" führt aber nicht zwangsläufig zu einem "Mehr an Bewusstheit" oder gar zu "mehr Einsicht".
Ulrike am Permanenter Link
Ich versuche, mir das auf Dorfverein-Ebene runterzubrechen. Dort hat man es auch oft satzungsgemäss mit u.a. konfessionellen Neutralität zu tun. Aber wie ist das konkret zu definieren?
Skydaddy am Permanenter Link
Sehr guter Beitrag von MSS! Sicher einer der brillantesten Beiträge, die der Kirchentag hervorgebracht hat.
Mein einziger Kritikpunkt: Von den hiesigen Kirchen würde ich allenfalls der EKD bescheinigen, dass sie "im internationalen Vergleich geradezu humanistische Positionen" vertritt. Die katholische Kirche widersetzt sich nach wie vor der Gleichberechtigung von Frauen und geht aktiv gegen die Gleichstellung von Homosexuellen vor. Leid wird glorifiziert – Mutter Teresa hat in dieser Hinsicht lediglich die offizielle katholische Lehre veranschaulicht. Das kann keinesfalls als "humanistisch" bezeichnet werden.
Sim am Permanenter Link
"im internationalen Vergleich" ist ja bereits eine Einschränkung. Es sagt ja keiner, dass die absolut gesehen humanistisch handeln.
Björn Müller am Permanenter Link
Skydaddy, deinen Kritikpunkt finde ich berechtigt.
Martin Weidner am Permanenter Link
Wieso heißt es "am Rande des Kirchentages"? Es war doch im Veranstaltungskalender drin. Oder ist Frau aus der Au eine Randperson des Kirchentages?
Und: Gibt es auch ähnliche Veranstaltungen, die von Humanistischen Gesellschaften organisiert werden, d. h. dass da Kirchenvertreter zu Wort kommen? Schmidt-Salomon und andere namhafte Humanisten erlebe ich immer wieder bei kirchlichen Veranstaltungen, nicht nur auf dem Kirchentag.