Charles Darwin: "Die Entstehung der Arten" in kommentierter Neuauflage

Das wichtigste Buch der Biologie

Ohne die alles miteinander verbindende Evolutionstheorie wären die vielen Teildisziplinen der Biologie jede für sich einsame Inseln, getrennt voneinander in einem großen Meer der Wissenschaft: Die Neurobiologen wären zwar immer noch gefesselt von zuckenden Nervenzellen, die Botaniker trotzdem fasziniert von der Vielfalt der Pflanzenwelt und die Paläontologen würden dennoch die spannenden Knochenfunde vergangener Epochen vergleichen können. Jede Disziplin würde aber irgendwann immer an die gleiche Grenze mit der gleichen Frage stoßen: Warum? Sie könnten sich nicht untereinander auf Konferenzen austauschen und ihre Befunde vergleichen, denn ihnen fehlte das Konzept, mit dem sie ihre doch so völlig verschiedenen Erkenntnisse über die Natur in Einklang bringen könnten.

Keine Disziplin hatte so ein übergreifendes Modell nötiger als die vielseitigen Lebenswissenschaften. Die (Er)-lösung schlug daher auch ein wie eine Bombe als im Jahr 1859 ein bescheidener britischer Naturforscher namens Charles Darwin, der sich auf vielen Gebieten der Naturwissenschaften (ohne Doktortitel oder Professur!) hervorgetan hatte, seine Idee einer "Evolutionstheorie" in einem 500 Seiten umfassenden Buch mit dem Titel "On the origins of species" veröffentlichte. Zur gleichen Zeit und interessanterweise durch ähnliche Reisen, gelang ein anderer britischer Naturforscher namens Alfred Russel Wallace zu der selben Erkenntnis. Sein ausführlicher Brief an Darwin (bekannt unter dem Namen "Ternate-Essay") spornte diesen an, das besagte Buch nun endlich nach fast 30 Jahren Arbeit zu publizieren.

Cover

Man kann gar nicht stark genug betonen, wie radikal die Gedanken dieser beiden Männer und deren geistiger Vorarbeiter das Weltbild ihrer Zeit und bis heute wirkend verändert haben. Trotzdem liest kaum ein Biologiestudent oder auch -professor das zugegebenermaßen grammatikalisch veraltet geschriebene und dadurch schwierig zu lesende Buch. Genau aus diesem Grund haben der Bioinformatiker Prof. Paul Wrede und die Literaturwissenschaftlerin Saskia Wrede eine kommentierte Neuauflage des Klassikers herausgegeben. Als Vorlage nahmen sie die letzte (6.) Ausgabe aus dem Jahr 1872 in seiner Übersetzung von Julius Victor Carus (1823-1903).

Das eigentliche Buch ist von mehreren Begleitessays anderer Biologen umrahmt, so stammt das Geleit von dem bekannten Evolutionsbiologen und offen-engagierten Kreationismusgegner Prof. Ulrich Kutschera. Er schreibt, dass der eingängige Begriff "Evolution" in der ersten Auflage des Buches gar nicht vorkäme. Stattdessen das umständliche: "Deszendenz mit Modifikation". Zudem würde Darwin aus Respekt vor seiner strenggläubigen Frau Emma (geb. Wedgwood, 1808–1896) und in vorauseilendem Gehorsam ob der Brisanz seiner Entdeckung für jeglichen Schöpfungsmythos auf jeder vierten Seite vom "Schöpfer" sprechen. Das änderte sich aber bis zur 6. Auflage.

Das Buch ist in vier Teile unterteilt, von dem nur der erste die eigentlichen Schriften von C. Darwin (Teil A.1, 366 Seiten) und A. R. Wallace (Teil A.2, 15 Seiten) umfassen.

Teil B enthält neun Begleitessays, u.a. von Prof. Jürgen Tautz, dem bekannten Honigbienenforscher. Darwin widmet den sozialen Insekten nämlich viel Platz und unbeantwortete Fragen zu deren speziellen Verhalten. Tautz schreibt, dass es Selektion auf mehreren Ebenen gäbe: Der Bienenstaat sei eine Art Superorganismus (der "Bien") und das besondere Verwandtschaftverhältnis unter den Bienen im Stock würde dazu führen, dass Bienenweibchen mit ihren eigenen Töchtern weniger Erbgut als mit den Vollschwestern teilten. Das würde zu völlig anderen Selektionskräften führen, die nicht am Individuum angriffen.

Ein weiterer Begleitessay ist vom Herausgeber P. Wrede zu Gen- und Genomorganisation verfasst. Es geht um die Geschichte der Genetik, bei der leider die Experimente zu Identifikation der DNA als Erbträgermolekül fehlen (die Versuche von Griffith, Avery, Hershey and Chase). Dafür schreibt er aber wie Spantanmutationen nachgewiesen wurden und über die Entdeckung der sog. "springenden Gene" durch die oft übersehene und spät geehrte Barbara McClintock.

In weitere Essays geht es um den Ursprung der Lebens und die Prinzipien der Evolution, Entwicklungsbiologie, Hügelnester der Waldameise, Evolution und Immunität, Bryozoa (Moostiere) um das Sauriersterben und um angewandte Evolutionstheorie in der Medizin. Die jüngsten Skandale um die Verbreitung multiresistenter Keime sind ein sehr anschauliches und aktuelles Beispiel für die Macht der Evolution durch Selektion des Bestangepassten. Die Auswahl der Essayisten zeigt schon, wie vielfältig die Teildisziplinen der Lebenswissenschaften sind, die von der Evolutionstheorie beeinflusst werden.

Im dritten Teil (C, 30 Seiten) werden die anderen handelnden Wissenschaftler vorgestellt und der vierte Teil (D) enthält den Nachspann mit einem Glossar, Abbildungs-, Sach- und Personenverzeichnis und einem Ausblick von Prof. Reinhold Leinfelder, Riffforscher und ehem. Direktor des Naturkundemuseums Berlin, der, anders als U. Kutschera prinzipiell eine Vereinbarkeit zwischen Religion und Naturwissenschaft sieht. Er arbeitet heraus, wie Darwin, als vielseitiger Forscher ("…im Kielwasser der HMS Beagle…") zum Begründer von so verschiedenen Forschungszweigen, wie Umweltwissenschaften, Riffforschung, Bodenkunde, Atmosphären- oder Biodiversitätsforschung wurde. Bei seiner beigesteuerten Abbildung (Abb. 29.3) fehlt leider die ausführliche Bildunterschrift um die merkwürdige Grafik über Kultur und Natur ganz zu verstehen.

Doch zurück zum ersten Teil, zu Darwins Text selbst. Die Botschaft des Buches ist eigentlich sehr einfach und kann in fünf Punkten zusammen gefasst werden:

  1. Die (biologischen) Arten sind veränderlich
  2. Alle Lebewesen gehen auf einen (oder wenige) gemeinsame Vorfahren zurück
  3. Die Veränderung verlief graduell über Mutationen
  4. Im Laufe der Zeit nahm die Anzahl an Arten zu
  5. Die Kraft hinter dem Wandel ist die natürliche Selektion

So einfach die Punkte auch sind, so ungreifbar waren sie in einer Zeit, in der man noch wenig über Gene und Entwicklungsbiologie wusste. Daher stellte Darwin sehr sorgfältig und über Jahrzehnte Beweise aus allen möglichen Teildisziplinen zusammen. Als junger Mann reiste er mit der Beagle (1831-1836) unter der Führung von Captain Robert FitzRoy (1805-1865) um die Welt und beobachtete, sammelte und verschickte seine Funde. Später, in seinem Anwesen "Down-House" nahe London widmete er sich u.a. intensiv der Taubenzucht und verglich die künstliche mit der natürlichen Selektion.

Die Originaltexte sind um viele moderne (und alte) Abbildungen (leider geht aus dem Abbildungsverzeichnis nicht hervor, welche Abb. bereits in der Originalausgabe erschienen sind) erweitert und kleine Infoboxen fügen aktuelle Erkenntnisse zu den beschriebenen Befunden hinzu, so z.B. aus der modernen Molekularbiologie, die erklären kann, warum Albinokatzen oft taub sind, was Darwin verwundert beschrieb.

Ein Farbcode erleichtert das Lesen: Wichtiges (blau), Bezüge zur Bibel (rot) und zu Galapagos (grün).

Aus guten Gründen ist dem Herausgeber Darwins Einstellung zur Religion wichtig (rote Markierungen). Tatsächlich zählt man auf den ersten 365 Seiten aber nur neun rote Markierungen und im letzten Kapitel – "Allgemeine Wiederholung und Schluss" – nochmal neun. In jeder dieser Textstellen formulierte Darwin aber, wie unzureichend ein biblischer Schöpfungsakt doch die jeweiligen Phänomene erklären würde. Ein Beispiel (um auch einmal die komplizierte Schreibweise Darwins aufzuzeigen): "Nach der Annahme einer Deszendenz mit Abänderung können wir schließen, dass das Vorkommen von Organen und einem verkümmerten, unvollkommenen und nutzlosen Zustand und deren gänzliches Fehlschlagen, statt wie bei der gewöhnlichen Theorie der Schöpfung große Schwierigkeiten zu bereiten, vielmehr nach den hier erörterten Gesichtspunkten vorauszusehen war." (Kapitel 14 über "rudimentäre Organe", S. 376)

Schließt die Evolutionstheorie Religion radikal aus? Die Position des Herausgebers scheint ein wenig ambivalent: Zum einen hält P. Wrede beides für irgendwie vereinbar solange sich jeder um seins kümmert, also ganz im Sinne von R. Leinfelder (Nachwort). Gleichzeitig müssten dann aber beide strikt voneinander getrennt werden, so wie es U. Kutschera (Vorwort) auch sieht. Darwins Aussagen sind unterschiedlich und es ist schwer zu analysieren, was er wirklich gedacht hat und was er aus Schutz seiner Familie nur als Metapher oder Floskel gemeint hat. So kann leider jeder aus seinen Aussagen exegieren, was er will. Und das wird leider auch viel gemacht. Die Kernaussagen der Evolution schließen ein alternatives religiöses Weltbild jedoch tatsächlich radikal aus.

Gehen wir aber lieber wieder zu den nicht-rot markierten Aussagen zurück und halten wir fest, wie Darwin seiner Zeit schon voraus war:

In seinem ersten Kapitel ("Abänderung im Zustand der Domestikation") nimmt Darwin schon Ideen der sogenannten "EvoDevo" Forschung vorweg: Entwicklungsbedingte Veränderungen in der Larve oder im Embryo ziehen "Monstrositäten" im reifen Tier mit sich. Auf der anderen Seite kann Darwin aber auch mal irren: Obwohl er korrekterweise annimmt, dass alle Taubenrassen auf eine Urform (Columbia livia) zurückgehen, schlussfolgert er im Fall von Hunderassen einen vielfachen Ursprung. Ein großes Rätsel stellt für ihn die Evolution des Auges dar: "Die Annahme, dass sogar das Auge nur durch natürliche Selektion zu dem geworden sei, scheint, ich will es offen gestehen, im höchsten Grade absurd zu sein." (S. 141). Doch er argumentiert, dass nervenlose und dennoch lichtempfindliche Organismen beschrieben wurden und es daher simple Vorformen des komplizierten Auges geben müsse, die durch graduelle Veränderung für ihre Besitzer immer nützlicher wurden. Auch Wallace machte sich über die Evolution des Auges ein paar schlaue Gedanken, die bei Darwin zitiert werden. Weil es ein so beliebtes Thema der Kreationisten ist, gibt es hier eine besonders große Infobox mit modernen Erkenntnissen aus der Forschung zur Evolution des Auges.

Im siebenten Kapitel ("Einwände gegen die Theorie"), geht Darwin auf die Argumente seiner Gegner ein. So z.B. das Argument von Broca, Bronn und Nägeli, dass oft ausgerechnet die Eigenschaften, anhand derer man die Arten auseinander halten könne, dem Organismus selbst gar nicht nützen würden und der Selektion daher keine Angriffsfläche böten. Darwins Gegenargumente: 1) Die Eigenschaft könnte zu einem früheren Zeitpunkt nützlich gewesen sein. 2) Wir verstehen den Nutzen einfach (noch) nicht. 3) spontane Abänderung könnten durch gemeinsame Ursachen innerhalb einer Art (z.B. während des Wachstums) auftreten. Ein anderes Gegenargument von George Mivarts ist die angeblich unzureichende Erklärungskraft der Anfangsstufen einer neuen Anpassung. Auch hier argumentiert Darwin mit den kleinen Modifikationen, die ihren Besitzern winzige Vorteile und dadurch mehr Nachfahren gebracht hätten.

Auch heute müssen Evolutionsbiologen wie U. Kutschera oder Richard Dawkins mit modernen Kreationisten (Anhängern des sogenannten "Intelligent Design") darüber streiten, dass die Welt wie sie ist mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht nach einem Plan geschaffen worden, sondern aus einer Mischung aus "Zufall und Notwendigkeit" (Jaques Monod) entstanden ist.

Evolutionäres Denken verlangt einen völlig neuen Blick auf die Welt. Wer z. B. "Den blinden Urmacher" von R. Dawkins liest, trainiert seinen Blick für das "Übrig gebliebene" anstatt für das "Herausgearbeitete". Und das ist der wichtige Unterschied: Es gibt kein Ziel, auf das die Evolution hinarbeitet, sie agiert völlig blind und ohne jegliche Intention. Ein "Hühnergott" oder ein Bernstein mit Einschluss sehen aus, als wären sie designt worden, jedoch haben an ihnen ganz einfach physikalische und chemische Naturgewalten völlig blind gewirkt und sie zum den – in unseren Augen – ästhetischen Objekten geformt, die sie sind. Diese Art des Denkens wird in unserem Bildungssystem leider wenig bis gar nicht gefördert. Bevor Kinder zum ersten Mal etwas von der Veränderlichkeit der Arten in der neunten Klasse hören, durften sie bereits in der Grundschule sämtliche Schöpfungsmythen auswendig lernen. Diese Reihenfolge ist falsch und sogar fatal. Zum Glück gibt es heute z.B. das von der Giordano-Bruno-Stiftung unterstützte Projekt "EvoKids", dass die Evolutionstheorie bereits in der Grundschule unterrichten will. Sogar die Nationale Wissenschaftsakademie Leopoldina brachte jüngst eine aktuelle Stellungnahme mit dem Titel "Evolutionsbiologische Bildung in Schule und Hochschule" heraus, in der sie u.a. empfiehlt, "…die Evolutionsbiologie curricular und fachdidaktisch als integrativen Rahmen des Biologieunterrichts zu etablieren" (S. 34).

Die kommentierte Neuauflage des Klassikers "Die Entstehung der Arten" von C. Darwin, herausgegeben von Paul und Saskia Wrede leistet einen wichtigen Beitrag zum Verständnis der gar nicht so einfachen Konzepte der Evolutionstheorie, denn, um den berühmten (und fast schon abgedroschenen aber unbestreitbar wahren) Satz von Theodosius Dobzhansky zum Abschluss auch noch einmal zu zitieren: "Nichts in der Biologie macht Sinn, außer im Licht der Evolution".

Charles Darwin: Die Entstehung der Arten, erschienen im Wiley-VCH Verlag GmbH & Co., 599 Seiten, ISBN-10: 3527332561, Gebundene Ausgabe 99,90 Euro, Taschenbuch Ausgabe 54,90 Euro