Rezension

Utopien für Realisten

Aus dem Untertitel: Die Zeit ist reif für die 15-Stunden-Woche, Offene Grenzen und das Bedingungslose Grundeinkommen. Letzteres wird zuerst abgehandelt, und zwar grandios gut, schlagend. 260 Seiten plus über 400 Anmerkungen/Quellen, die sich absolut zur Erweiterung des eigenen Horizonts und genau deshalb auch als politische Handlungsmaxime lohnen!

Ich bin so Einiges gewohnt von Büchern – die mich von Anfang an begeistern oder abschrecken. Letzteres war hier zunächst der Fall: Der Einstieg ist eher fade, spielt mit Versatzstücken und Klischees (uns geht's so gut, besser als je zuvor; der Kapitalismus als Garant für Fortschritt und Wohlergehen; daneben ein paar dystopische Randerscheinungen). Ich wollte es schon beiseitelegen. Aber:

Es ist ein "Trugschluss, ein Leben ohne Armut sei kein Recht, auf das alle Menschen Anspruch hätten, sondern ein Privileg, für das man arbeiten müsse." (S.100)

Bedingungsloses Grundeinkommen

Aber dann geht es los mit Berichten über Versuche, das Bedingungslose Grundeinkommen (BGE) in Kanada, USA, und anderswo einzuführen, die allesamt einen positiven Ausgang hätten haben können, wären sie nicht allesamt aus lediglich politischen Gründen verhindert oder beendet worden. Wieder einmal ein Augenöffner für mich, hatte ich doch nie zuvor davon gehört, dass L.B. Johnson oder R. Nixon (!) vorhatten, ein BGE in den USA einzuführen (geschenkt, hatte ich doch damals in den 1960-70ern andere Interessen…).

Bregman gelingt es spielend und extrem leicht les- und belegbar, die Hintergründe des Scheiterns aufzudecken und für ein BGE zu plädieren. (Nach 261 S. Text folgen über 400 Anmerkungen und Belege (auch für kleinste Zitate); nur leider als End- und nicht als Fußnoten, was das nervende Vor- und Rückblättern nötig macht.)

"Wenn wir weiter die Segnungen der Technologie genießen wollen, bleibt uns letzten Endes nur eine Wahl: die massive Umverteilung."

15-Stunden-Woche

Die Hinführung auf das Thema ist wiederum etwas mit Versatzstücken gespickt, denen ein roter Faden zu fehlen scheint, aber das summarische Fazit ist klar: "Wer weiterhin die Früchte des Fortschritts ernten will, der wird eine radikalere Lösung wählen müssen. […] Dazu zählen eine kürzere Arbeitswoche und ein universelles Grundeinkommen. […] Wenn wir weiter die Segnungen der Technologie genießen wollen, bleibt uns letzten Endes nur eine Wahl: die massive Umverteilung […] eine Umverteilung der Einkommen (Grundeinkommen), der Zeit (Arbeitszeitverkürzung), der Steuern (Besteuerung des Kapitals statt der Arbeit) […]." (S. 195 f)

Offene Grenzen

Die Verve, mit der Bregman hier argumentiert, könnte vermuten lassen, dass dem Autor dieses Thema am wichtigsten ist; er hängt Esther Duflo ('einer zarten Professorin mit starkem französischen Akzent, die mit dem Poverty Action Lab am MIT die Entwicklungshilfewelt auf den Kopf gestellt hat'; sinngem. zit. S. 202 ff) förmlich am Mund. Es lägen nicht nur 100-Dollar-Scheine auf dem Bürgersteig (nach Duflo), sondern vermutlich Milliarden-Dollar-Scheine (die in Endnote 341, S. 296, zitierte Originalquelle spricht sogar von "Trillion-Dollar Bills", dt. also Billionen-Dollar-Scheine). Vieles liegt nicht auf der Straße, sondern in wenigen Händen – nach ein paar weiteren, ähnlichen Vergleichen folgt dieser: "[…] die zweiundsechzig reichsten Personen auf der Erde besitzen mehr als die ärmste Hälfte der Menschheit […], [sind; d. Verf]. reicher als 3,5 Milliarden Menschen zusammen" (S. 216; Oxfam-Quelle zit. in Endnote 353, S. 297).

"Grenzen diskriminieren." (S. 214)

In "noch größerem Maßstab" denkt der Autor: "Angenommen, es gäbe eine Maßnahme, mit der die Armut überall auf der Welt beseitigt werden könnte. Alle Menschen in Afrika würden dadurch über die in den westlichen Ländern geltende Armutsgrenze gehoben, und nebenbei würden auch noch einige zusätzliche Monatsgehälter in unsere Taschen fließen. Stellen wir es uns nur einmal vor. Würden wir diese Maßnahme ergreifen? Nein, natürlich würden wir es nicht tun. Schließlich gibt es diese Möglichkeit bereits seit vielen Jahren. Sie ist der beste Plan, der nie in die Tat umgesetzt wurde. Die Rede ist von offenen Grenzen" (S. 211 f). Und:

"Vielleicht werden wir in hundert Jahren so auf diese Grenzen [der nationalen Abschottung; d. Verf.] zurückblicken, wie wir uns heute an die Sklaverei und die Apartheid erinnern. Aber eines ist sicher: Wenn wir die Welt zu einem besseren Ort machen wollen, führt kein Weg daran vorbei, die Grenzen für die Migration zu beseitigen. Es würde schon helfen, die Tür einen Spaltbreit zu öffnen. Würden alle entwickelten Länder nur 3 Prozent mehr Einwanderer aufnehmen, so hätten die Armen der Welt 305 Milliarden Dollar mehr zur Verfügung, erklärten Experten der [...], [Weltbank-Quelle zit. in Endnote 380, S. 300; d. Verf.] Das ist mehr als das Doppelte der gesamten gegenwärtigen Entwicklungshilfe" (S. 228).

"Neid-Debatte" – höre ich jetzt schon; und "Migrantenflutung". Sieben solcher Trugschlüsse nimmt der Autor auf sieben Seiten ab S. 219 auseinander; allesamt Vorurteile wie "Sie sind alle Terroristen, Verbrecher, arbeitsscheu" etc.; das Übliche halt von einschlägiger Seite.

Nein, das ist keine Neid-, sondern eine Ungerechtigkeits-Debatte, die bitter nötig ist.

Es folgen ab S. 231 noch ein Kap. "10. Wie Ideen die Welt verändern" (mit Festingers 'kognitiver Dissonanz', einer bemerkenswerten Selbstkritik sowie dem Sinn des Baus von Luftschlössern und einer ziemlichen Abrechnung mit dem durchdrehenden Turbokapitalismus und Neoliberalismus; nur der Satz mit der Religionsfreiheit – wozu dient sie, "wenn wir an nichts mehr glauben?", S. 246 – scheint mir überflüssig, weil grundlos) sowie ab S. 249 ein "Nachwort" über die politische Arena (Stichwort: "Overton-Fenster") und zwei Anregungen (1. Organisiert euch, ihr seid nicht allein; 2. Legt euch eine "dickere Haut" zu, S. 259) und Danksagungen. Aber kein Index, sondern die erwähnten Anmerkungen.

Fazit

Uneingeschränkt empfehlenswert, wenn der Einstieg gekürzt werden würde auf: "Kapitalismus ist nicht per se der Grund für unseren Wohlstand gewesen, sondern 'lediglich Anstupser', hat uns jedoch diverse Probleme beschert" – gepaart mit wenigen beispielhaften Erläuterungen. Aber vielleicht bin ich da zu überkritisch? Kritisch bin ich ja bekanntlich bzgl. Lektorat; hier gab es keine Eselsohren für Schreibfehler. Mir fiel nur ein Druckfehler auf: "weiterehen" statt vermutlich "weitergehen" (S.247).

Der gut lesbare Schreibstil Bregmans führt die Leserschaft mitunter auf ironisch-sarkastische Weise aufs Glatteis bzw. in Denkfallen, was aber recht umgehend aufgeklärt und mehrfach mit Floskeln wie: "damit wir uns nicht falsch verstehen" unterstützt wird.

Es wäre einmal an der Zeit, dass sich eine Partei auch in Deutschland (die wirtschaftswissenschaftlich nicht "gedeckelt", sondern offen ist – und sich von profunder Seite, z.B. Chr. Butterwegge oder eben R. Bregman, unterstützen / beraten lässt) des Themas des Buches ernsthaft annimmt.

Das Ganze ist natürlich "weltfremd und blauäugig", höre ich jetzt schon posaunen; und "Gutmensch: Wie soll das funktionieren – willst du eine Revolution?" (wie es auch mehrfach im Nachwort anklingt). Und läuft das nicht geradezu auf einen programmierten politischen Suizid hinaus?

Aber so sind Utopien nun einmal – immer ambitioniert und schwer umzusetzen. Die im Nachwort angerissenen aktuellen Umsetzungen (Finnland, Kanada, Kalifornien, NGO GiveDirectly) machen jedoch Mut zur Durchsetzung von Ideen, deren Zeit gekommen ist.

Nur zur Erinnerung – wie viele Demokratien gab es vor gerade einmal 100 Jahren? Und wie (ja, genau: wie) wurden sie schließlich umgesetzt?

Rutger Bregman (2017) "Utopien für Realisten", 303 S., Rowohlt, 18,00 Euro 
(Das Buch gehört zu meinen Top 20; es hat im Internet fast durchweg sehr gute Rezensionen bekommen.)