Ein Artikel im Berliner Tagesspiegel stellt die Rechtslage in Sachen Berliner Neutralitätsgesetz nicht nur schief und verzerrt dar, sondern fällt auch durch einen Mangel an Kenntnis der Schulpraxis auf. Zudem beleidigt er die Mitglieder der Initiative "Pro Berliner Neutralitätsgesetz" und unterstellt ihnen, ihr eigenes Wertesystem über das der freiheitlich-demokratischen Grundordnung zu stellen.
Den Artikel von Lehming hat hpd-Autor Jürgen Roth für die Initiative "Pro Berliner Neutralitätsgesetz" kommentiert:
Der Frontalangriff auf die überparteiliche Initiative "Pro Neutralitätsgesetz" überrascht, da die Berichterstattung des Tagesspiegel bis heute gut recherchiert und fair war. Das wird hoffentlich so bleiben.
Anscheinend betrachtet der Autor die Stadt Berlin als Missionsgebiet, dem die abrahamitischen Religionen Christentum und Islam wieder Gottesfurcht beibringen sollen. Da irrt er. Nicht die säkularen Mitglieder der Initiative "Pro Neutralitätsgesetz" proben die Parallelgesellschaft, sondern jene, die ohne Rücksicht auf andere sogar in den Kernbereichen staatlichen Handelns ihre religiösen Überzeugungen hervorheben.
In Berlin leben Menschen aus über 190 Nationen und vielen unterschiedlichen Sozialisationen und Kulturen zusammen. Das ist eine Bereicherung und sollte auch so bleiben. Gedeihliches Zusammenleben wächst nicht von allein; Vielfalt gestalten gelingt nur dann, wenn der Staat darauf verzichtet, sich mit einer bestimmten Religion zu identifizieren. Religiöse Symbole haben – ebenso wie politische – in Klassenräumen und Gerichten nichts zu suchen. Das gilt für das Kruzifix an der Wand ebenso wie für die Halskette mit christlichen Symbolen und die religiöse Tracht, die von einigen islamischen Lehren (eben nicht von allen!) verlangt wird. Nicht nur das pädagogische Personal hat Rechte, sondern auch Schulkinder, die ungefragt religiös beeinflusst werden. Im juristischen Fachchinesisch heißt das "negative Religionsfreiheit"!
Apropos Rechtsprechung: Das Bundesverfassungsgericht besteht aus zwei Senaten. Die haben – was höchst selten passiert – unterschiedlich entschieden. Der zweite Senat lässt eine "abstrakte" Gefahr für den Schulfrieden für ein Verbot religiöser Bekleidung ausreichen. Der erste Senat ist strenger; er verlangt die "konkrete" Gefahr – also einen ordentlichen Krach in der Schule. Beide Senate erkennen damit trotz dieser Differenz an, dass religiöse Symbole keineswegs ohne Rücksicht auf Verluste zulässig sind.
Dennoch ist die Rechtsprechung so widersprüchlich, dass eines Tages eine allseits verbindliche höchstrichterliche Entscheidung fallen muss. Um Klarheit zu schaffen, sollte der Berliner Senat in den anstehenden Streitfällen auf ein solches Urteil über das Berliner Neutralitätsgesetz hinwirken, statt wie bisher durch Zahlung von Entschädigungen auch noch nach Canossa zu gehen. Die Richtigkeit dieser Konsequenz kann Malte Lehming nicht durch die persönliche Diffamierung des Verwaltungsjuristen Dr. Czermak verschleiern, der darauf hingewiesen hat, dass sich aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts eben nicht die Verfassungswidrigkeit des Berliner Neutralitätsgesetzes ableiten lässt.
Falsch ist auch die Behauptung, religiöse Symbole dienten der Integration; welch ein Fehlschluss! Ist es etwa der Integration von Kindern dienlich, wenn sie nicht nur von zu Hause und aus Ihrer Glaubensgemeinschaft heraus, sondern auch noch von SchulpädagogInnen – ob beabsichtigt oder nicht – gedrängt werden, "züchtige" Bekleidung zu tragen.
Soll etwa die Geschichtslehrerin mit islamischem Kopftuch künftig Kindern aus jüdischen Familien in Berlin die historischen Wurzeln des Palästina-Konflikts erläutern? Soll ein in der Verhandlung als evangelikal erkennbarer Richter über die Strafbarkeit der Auseinandersetzung mit seiner oder einer anderen Religion urteilen? Nein! Je vielgestaltiger die Gesellschaft, umso mehr müssen sich die einzelnen Mitglieder darauf verlassen können, sich keiner aufgenötigten religiösen Betätigung der Staatsdiener aussetzen zur müssen.
Das Berliner Neutralitätsgesetz garantiert Neutralität dort, wo Menschen der Staatsgewalt nicht ausweichen können, sei es vor Gericht, bei der Polizei, im Justizvollzug oder an allgemeinbildenden Schulen. Von RichterInnen, PolizistInnen und PädagogInnen an allgemeinbildenden Schulen kann verlangt werden, am Dienstort politisch oder religiös geprägte Symbole abzulegen.
Erstveröffentlichung: Webseite der Initiative "Pro Neutralitätsgesetz"
11 Kommentare
Kommentare
Bernd Kammermeier am Permanenter Link
Ich weiß gar nicht, was am Verständnis des Wortes "Neutralität" so schwer ist.
Ein Neutralitätsgesetz achtet darauf, dass sich jeder, der unter das Gesetz fällt, neutral verhalten MUSS. Damit eben jeder die Chance auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit behält. Nicht von ungefähr verlangt das Gesetz nicht, dass JEDER betroffen ist, sondern nur die Personen, denen jeder Bürger per Staatsmacht quasi ausgeliefert ist.
Oder können sich christliche Schüler äußerlich christliche Lehrer aussuchen? Oder muslimische Falschparker eine äußerlich muslimische Politesse? Oder buddhistische Angeklagte äußerlich buddhistische Richter? Etc. Sicher nicht. Also muss ein Staat für strikte äußerliche Neutralität seiner Bediensteten sorgen. Es geht eben - bei Lehrern - um die Integration der Schüler in den Staat, nicht in die (z.B.) islamische Community. Oder um kulturneutrale Bedienung bei Behörden etc.
Wenn allerdings Journalisten in ihrem Weltbild verankert haben, dass die Schule den expliziten Auftrag hat, bei Schülern für kultische Linientreue zu sorgen, dann mögen solche Kommentare, wie im Tagesspiegel, zustande kommen...
Klaus Bernd am Permanenter Link
„Im juristischen Fachchinesisch heißt das "negative Religionsfreiheit"!“
Man sollte die Wirkung dieser Sprachspielereien nicht unterschätzen. Da wird bewusst mit der negativen, Konnotation gearbeitet, will heißen, dass diese Religionsfreiheit eigentlich nicht wünschenswert sei. Nicht umsonst wurde bei der Diskussion um die „Homoehe“ mit dem Titel „Ehe für alle“ gearbeitet. Von Kreisen, die in jeder Humanisierung der Gesetzgebung einen „Dammbruch“ sehen, der über eine schiefe Ebene unrettbar ins Verderben führe. Es sollte also suggeriert werden, dass es dabei auch um die Ehe unter Geschwistern, unter Tieren … ginge. So manche öffentlich Äußerung von Politikern und Klerikern belegt das.
Sprachspielereien sind das Kerngeschäft von Religionen, mit ihnen bauen sie ihre Pokemon-Welten.
Sabine Lorenz am Permanenter Link
Ich möchte in diesem Zusammenhang eine Empfehlung - weiterempfehlen H.M.Broder "Hurra, wir kapitulieren..." (von 2006!).
MfG
S. Lorenz
Rudi Knoth am Permanenter Link
Der gute Malte Lehming schon wieder.
Für ihn ist also das Wertebekenntnis "totalitär". Die Idee, dass "Gottes Wort" über den weltlichen Gesetzen und Werten steht, ist für ihn akzeptabel.
Jürgen Roth am Permanenter Link
Begriffe und Politik: immer eine komplizierte Gemengelage.
Karl-Heinz Büchner am Permanenter Link
Zitat: "Gleichbehandlung könnte unter diesen Voraussetzungen nämlich auch bedeuten, das der Staat alles was sich selbst als "Religion" bezeichnet, mit den Privilegien der Großkirchen ausstatten müsste.
Was vor allem aus säkularer Sicht nicht hinnehmbar ist, sind die Privilegien der Großkirchen an und für sich! Ansonsten hätte der Staat schon auf mittlere Sicht keine Handhabe gegen eine sunnitische Kirche, eine schiitische Kirche, eine alawitische Kirche und 100 andere Religionsströmungen, die er nach dem Gleichbehandlungsgesetz den beiden christlichen Kirchzen gleichstellen müsste. Um das zu verhindern gibt es nur eine Lösung: Abschaffung aller religiösen Privilegien und Sonderrechte, Abschaffung des Staatskirchenrechtes im Arbeitsrecht.
Muriel am Permanenter Link
Ich seh das anders. Finde das Gesetzt auch überzogen und nicht zielführend, und diesen Artikel hier nicht wesentlich weniger beleidigend als den ursprünglichen im Tagesspiegel.
Und wer bitte würde denn nicht sein eigenes Wertesystem über das der freiheitlich-demokratischen Grundordnung stellen? Doch nur jemand, der blinden Gehorsam für eine Tugend hält.
Karl-Heinz Büchner am Permanenter Link
Wenn Ihr eigenes Wertesystem mit dem unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung kollidiert, sind Sie hier fehl am Platz.
Muriel am Permanenter Link
Finden Sie es generell in Ordnung, Leute über solche Anspielungen auf Intelligenz und Bildung herabzuwürdigen, wenn sie andeuten, anderer Meinung zu sein?
Oder ist das speziell für mich?
Karl-Heinz Büchner am Permanenter Link
Sie scheinen die Flöhe husten zu hören.
Muriel am Permanenter Link
Weil ich keine Lust habe, mich mit Leuten zu unterhalten, die mich in jedem ihrer Beiträge beschimpfen. Wenn das Ihr Diskussionsstil ist, viel Spaß damit, aber mein Ding ist es nicht.