Artikelreihe zum 200. Geburtstag (Teil 4)

"Mythos Marx"?

Vor 15 Jahren veranstaltete die Thomas-Dehler-Stiftung ein öffentliches Streitgespräch zu "Karl Marx und den Folgen" zwischen dem konservativen Politologen Konrad Löw und dem humanistischen Philosophen Michael Schmidt-Salomon. Zum 200. Geburtstag von Karl Marx dokumentiert der Humanistische Pressedienst einen der Vorträge, die Schmidt-Salomon 2003 in Nürnberg gehalten hat. Teil 1 der Artikelserie schildert Marxens Leben und Wirken in einer Zeit des Umbruchs, Teil 2 die Bedeutung der Hegelschen und Feuerbachschen Philosophie für das Marxsche Denken und Teil 3 die ambivalente Logik des marxistischen Weltbildes. Im abschließenden vierten Teil der Serie geht es darum, den Menschen Marx und sein Werk jenseits aller Mythenbildungen fair zu beurteilen.

4. "Mythos Marx"? Versuch eines fairen Urteils

In den Augen seiner fanatischsten Anhänger galt Marx nicht nur als das Universalgenie der Menschheit und Gottvater der Arbeiterklasse, sondern auch als vorbildlich treuer Gatte und Freund, als liebender Familienvater usw. Er wurde in jeglicher Hinsicht idealisiert, nicht nur als Philosoph und Ökonom, sondern auch als Mensch. Mit diesem Säulenheiligen hatte der reale Marx freilich wenig zu tun: Das Universalgenie beging theoretische Fehler, der Gottvater der Arbeiterklasse bewegte sich lieber in großbürgerlichen und aristokratischen Kreisen, der treue Gatte beging zahlreiche Seitensprünge, der treue Freund interessierte sich nur wenig für die Nöte seiner Gefährten, der liebende Familienvater spielte allzu oft den Haustyrann usw. All dies ist richtig und muss gesagt werden. Insofern ist gegen die von Konrad Löw versuchte Entzauberung des Mythos Marx nichts einzuwenden.

Aber: Die Entzauberung des Mythos, die rationale Aufhellung geglaubter Illusionen, muss unter fairen Kriterien erfolgen, d.h. sie muss sich bemühen, den realen historischen Verhältnissen zu entsprechen. Es sollte keinesfalls an die Stelle des Positiv-Mythos ein Negativ-Mythos gesetzt werden, denn auch ein solcher würde der geschichtlichen Gestalt "Karl Marx" wie auch seinem Werk nicht gerecht werden. Ich möchte dies nachfolgend in drei Schritten demonstrieren:

4.1 Löws (falsche) Entzauberung des Humanisten Marx: Ein Antisemit und Antihumanist?

Um den Humanisten Marx zu entzaubern, zitiert Konrad Löw in seinem Buch "Der Mythos Marx und seine Macher" eine der umstrittensten Stellen im Marxschen Werk, eine Stelle, die im ersten Moment in etwa so klingt, als wäre sie für den "Stürmer" geschrieben worden: "Suchen wir das Geheimnis des Juden nicht in seiner Religion, sondern suchen wir das Geheimnis im wirklichen Juden.Welches ist der weltliche Grund des Judentums? Das praktische Bedürfnis, der Eigennutz. Welches ist der weltliche Kult des Juden? Der Schacher. Welches ist sein weltlicher Gott? Das Geld. Nun wohl! Die Emanzipation vom Schacher und vom Geld, also vom praktischen, realen Judentum wäre die Selbstemanzipation unserer Zeit... Die Judenemanzipation in ihrer letzten Bedeutung ist die Emanzipation der Menschheit vom Judentum."18

Löw kommentiert: "Das hindert manche nicht, Marx insofern total zu exkulpieren. Alles nur Missdeutung. Auch derlei unglaubliche Nachsicht dient dem Schutz der Ikone."19 Löw zufolge wäre es also ein grober Fehler, Marx vom Vorwurf des Antisemitismus reinwaschen zu wollen. Was ist davon zu halten?

Zugegeben: Die Formulierungen, die Marx in seiner Schrift "Über die Judenfrage" wählt, erscheinen gerade vor dem Hinter- grund dessen, was später im 20. Jahrhun- dert geschehen sollte, als höchst unglück- lich, ja verwerflich. Aber: Lässt sich aus dieser oder auch ähnlichen Stellen im Marxschen Werk schließen, dass Marx ein Antisemit war? Und falls ja, um welche Form des Antisemitismus handelt es sich hier? 

Dass der aus jüdischem Hause stammende Marx kein Antisemit im völkisch-rassistischen Sinne sein konnte, wird auch Konrad Löw (hoffentlich) nicht bestreiten wollen. Dass er als scharfer Religionskritiker auch nicht in den Denkkategorien des christlich-religiösen Antijudaismus dachte (Jude = Christusmörder), ist ebenso evident. Was man Marx vorhalten kann, ist, dass er eine Art kulturellen Antijudaismus verinnerlicht hatte, der sich in der, aus religiöser Wurzel gespeisten, aber säkular gewendeten Rede vom "Schacherjuden" widerspiegelt. Mit diesem pauschalisierenden Begriffsgebrauch, d.h. der Assoziation des Judentums mit dem weltlichen Egoismus, stand Marx jedoch nicht alleine, wie beispielsweise folgendes Zitat von Feuerbach belegt: "Das Christentum nennt sich die Religion der Liebe, ist aber nicht die Religion der Liebe, sondern die Religion des supranaturalistischen, geistlichen Egoismus, gleichwie das Judentum die Religion des weltlichen, irdischen Egoismus ist."20

So unglücklich und unreflektiert dieser Sprachgebrauch auch ist, es wäre grundverkehrt, Marx oder Feuerbach in einen Topf mit den religiösen oder völkischen Antisemiten zu werfen. Wenn Marx schreibt, dass die Emanzipation des Judentums letztlich in der Emanzipation der Menschheit vom Judentum liegt, so bedeutet dies, dass alle wirkliche Emanzipation am Ende auch die Emanzipation vom Diktat des Geldes einschließen muss. Dass es sich bei der militant klingenden Schlussformel nicht um einen antisemitischen Hetzaufruf handelt, wird deutlich, wenn man statt des Judentums einen anderen Adressaten einfügt: Marx hätte innerhalb seiner Theorie ebenso schlüssig formulieren können: "Die Emanzipation des Christentums ist die Emanzipation der Menschheit vom Christentum". Oder auch: "Die Emanzipation des Kapitalismus ist die Emanzipation der Menschheit vom Kapitalismus". Entscheidend ist hierbei, dass die Kritisierten nicht von der Emanzipation ausgeschlossen sind, sondern als wesentlicher Teil der befürworteten Emanzipationsbewegung begriffen werden. Ihre Existenz soll nicht im physischen Sinne ausgelöscht, sondern im ethischen Sinne auf einer höheren Ebene aufgehoben werden.

Mit anderen Worten: Der Marxschen Perspektive fehlt genau jene Vernichtungslogik, die sowohl den völkischen als auch einen Großteil des religiösen Antisemitismus kennzeichnet (vgl. hierzu beispielsweise Martin Luther, bei dem es u.a. heißt: "Darum wisse Du, lieber Christ, und zweifel nichts daran, dass Du, nähest nach dem Teufel, keinen bittern, giftigern, heftigern Feind habest, denn einen echten Juden... Ich will meinen treuen Rat geben: Erstlich, dass man ihre Synagoge oder Schule mit Feuer anstecke, und was nicht brennen will, mit Erde überhäufe und beschütte, dass kein Mensch einen Stein oder Schlacke davon sehe ewiglich... Zum anderen, dass man auch ihre Häuser dergleichen zerbreche und zerstöre...")21 Halten wir fest: Trotz des unreflektierten Sprachgebrauchs, der von einem dumpfen kulturellen Antijudaismus gespeist ist, ist der Antisemitismus-Vorwurf gegenüber Marx nicht haltbar.

Nun ist der Beleg, dass Marx kein klassischer Antisemit war, selbstverständlich nicht zugleich auch ein Beleg dafür, dass Marx humanistisch dachte. Wie ich schon andeutete, war Marx’ Verhältnis zum Humanismus ambivalent. Einerseits war er ein Verfechter humanistischer Ideale, andererseits drängte ihn sein geschichtsdeterministisches Weltbild dazu, moralische Appelle nicht nur zu unterlassen, sondern Appelle dieser Art auch in Grund und Boden zu kritisieren. In diesem Zusammenhang heißt es unmissverständlich im Kommunistischen Manifest: "Die Kommunisten predigen überhaupt keine Moral... sie stellen nicht die moralische Forderung an die Menschen: Liebet Euch untereinander, seid keine Egoisten pp.; sie wissen im Gegenteil sehr gut, dass der Egoismus ebenso wie die Aufopferung eine unter bestimmten Verhältnissen notwendige Form der Durchsetzung der Individuen ist."22

Löw interpretiert diese Aussage als eine Absage an den Humanismus.23 Doch stimmt das? Die Antwort hierauf lautet: Jain. Zwar handelt es sich hier um eine deutlichen Absage an den alten, idealistischen Humanismusbegriff, aber die Passage entspricht in ganz hervorragender Weise jenem neuen, "evolutionären Humanismus", der, seit Julian Huxley den Begriff prägte24, von Vielen als die einzig zeitgemäße Variante der humanistischen Idee verstanden wird. Warum "einzig zeitgemäß"? Weil das Menschenbild des evolutionären Humanismus nicht auf hehren Idealen und metaphysischen Überzeugungen basiert, sondern auf harten empirischen Fakten.25 Geht man von einem von einem evolutionär-humanistischen, d.h. naturalistischen, wissenschaftlich untermauerten Menschenbild aus, so kann man dem "Kommunistischen Manifest" in diesem Punkt nur zustimmen. In der Tat sind Egoismus und Aufopferung nur Ausdruck des Durchsetzungswillens des Individuums (bzw. seiner Gene), das je nach historischer Situation unterschiedliche Handlungsstrategien entwerfen muss, um seine Ziele zu erreichen!

4.2 Löws (falsche) Entzauberung des Menschen Marx: Ein unverbesserlicher Egoist?

Konrad Löw gibt sich die denkbar größte Mühe, ein Negativbild von Marx’ Persön- lichkeit zu zeichnen. Auch hier hat er in einigen Punkten durchaus Recht. Marx konnte sich äußerst rücksichtslos verhalten, wenn es galt, potentielle Gegner auszuschalten. Er war auch nicht der ewig treue, liebevolle Gatte, als der er von Amtsmarxisten gerne dargestellt wurde. Seine Briefe sind häufig gezeichnet von bitterem Hohn und maßloser Arroganz, die Formulierungen oftmals im höchsten Maße beleidigend, die Urteile ungerecht und bar jeder Empathie.26

Aber auch hier stimmt das Bild, das Löw zeichnet, nicht ganz: Marx war eben nicht nur der selbstherrliche Egomane, Diktator und Haustyrann. Er war auch ein geistreicher Gesprächspartner, ein toller Geschichtenerzähler, ein sensibler, liebevoller Vater, ein Mensch, an den man sich in der Not wenden konnte.

Löw wählt die biographischen Zeugnisse über Marx sehr selektiv aus. Man erfährt bei ihm zwar, dass Marx den Tod eines Kindes bei der Geburt mit den Worten wegsteckte: "Meine Frau ist endlich niedergekommen. Das child jedoch nicht lebensfähig, starb gleich. Dies an und für sich kein Unglück."27 Man erfährt aber nicht, wie sehr Marx beispielsweise litt, als sein achtjähriger Sohn Edgar erkrankte und schließlich starb. Marx ließ all seine Arbeiten liegen, wachte wochenlang Tag und Nacht am Bett des Kindes. Nachdem Edgar in den Armen seines Vaters gestorben war, bekam Marx über Nacht weiße Haare und konnte viele Monate über nichts anderes sprechen und schreiben als über den Verlust des Kindes28: "Bacon sagt, dass wirklich bedeutende Menschen so viel Relationen zur Natur und der Welt haben, so viel Gegenstände des Interesses, dass sie jeden Verlust leicht verschmerzen. Ich gehöre nicht zu diesen bedeutenden Menschen. Der Tod meines Kindes hat mir Herz und Hirn erschüttert, und ich fühle den Verlust noch so frisch wie am ersten Tag."

So etwas liest man nicht bei Löw. Der Grund ist offensichtlich: Briefe wie dieser hätten das Bild des kaltherzigen Egomanen Marx erschüttert. Ähnliche Auslassungen finden sich zuhauf bei Löw. So ignoriert er weitestgehend die Belege, die zeigen, dass Marx einen beachtlichen Teil seines Vermögens dafür eingesetzt hatte, Kampfgefährten zu unterstützen. Stattdessen behauptet Löw, dass Marx mit den Geldern nicht auskam, weil er sich erstens an der Börse verspekulierte und zweitens seine Ansprüche an den Lebensstandard zu hoch geschraubt waren. Da Marx’ angebliche Verschwendungssucht eines der Lieblingsthemen von Löw ist, sei auch dazu kurz Stellung genommen.

Es ist wahr, dass Marx schon zu Studienzeiten immer wieder von seinem Vater ermahnt wurde, nicht so verschwenderisch mit dem Geld umzugehen. Unbestreitbar war Marx, sofern er nicht von depressiven Stimmungen heimgesucht wurde, ein hedonistischer Mensch, der, wenn das Geld da war, den Champagner sprudeln ließ und den großzügigen Gastgeber spielte. Na und?, mag man da fragen. Ist es denn für einen Kommunisten ein "Sakrileg", zu feiern und das Leben zu genießen? Löw scheint das zu glauben.

Marx hätte dem mit Sicherheit entschie- den widersprochen. Sein Humanismus war nicht asketisch, sondern epikureisch geprägt. Er gab offen zu, dass ihm der Adel und das Großbürgertum kulturell (nicht politisch!) näher stand als die (aufgrund struktureller Gewalt) ungebildeten Arbeitermassen, mit denen er sich nicht über Shakespeare oder Dante unterhalten konnte. Steht das im Widerspruch zu seiner Theorie? Nein. Ich bin sicher, dass Marx in diesem Punkt unumwunden dem russischen Kommunisten Lunacarskij zugestimmt hätte, der einmal gesagt hat, dass es im Kommunismus nicht darum gehen sollte, die Aristokratie zu beseitigen, sondern vielmehr darum, das Proletariat zur Aristokratie zu erheben.29

4.3 Löws (falsche) Entzauberung des Denkers Marx: Alles nur geklaut?

Konrad Löw reicht es nicht aus, auf die geschilderte Weise Marx nur als Humanisten und Menschen zu "entzaubern", er will auch beweisen, dass Marx kein origineller Denker gewesen sei, der in nennenswerter Weise zum Erkenntnis-Projekt der Aufklärung beigetragen hätte. Dies ist vielleicht der fundamentalste Angriff, den Löw auf den "Mythos Marx" gestartet hat, schließlich kann man – siehe das Beispiel Schopenhauer – selbst dann noch mit gutem Recht zu den "großen Denkern" gezählt werden, wenn man weder ein klassischer Humanist ist noch zur Sorte der besonders angenehmen Menschen gehört. Was ist also von Löws Einwand zu halten, dass Marx weder in philosophischer noch in historischer oder ökonomischer Hinsicht Nennenswertes zum Erkenntnisgewinn der Menschheit beigetragen hat? Zunächst einmal muss man eingestehen, dass es natürlich schon vor Marx materialistische Denker wie La Mettrie, Feuerbach oder Stirner gegeben hat, ebenso gab es von sog. bürgerlichen Autoren verfasste, brillante historische und ökonomische Untersuchungen, auf die Marx in seinen Schriften ausgiebig zurückgriff. Dies gab Marx im Übrigen selbst freimütig zu: "Was mich betrifft, so gebührt mir nicht das Verdienst, weder die Existenz der Klassen in der modernen Gesellschaft noch ihren Kampf unter sich entdeckt zu haben."30

Stimmt demnach Löws Vorwurf der fehlenden Originalität?
Nun "Originalität" ist bei genauerer Betrachtung ein höchst problematisches Konzept. In den letzten 2500 Jahren ist soviel gedacht, soviel geschrieben worden, dass sich mittlerweile schon die Wiederholungen der Wiederholungen wiederholen. Newton, zweifellos einer der großen, originellen Denker der Wissenschaftsgeschichte, schrieb in diesem Zusammenhang den berühmten und seither viel zitierten Satz: "Wenn ich weiter gesehen habe, so deshalb, weil ich auf den Schultern von Riesen stehe." (Interessanterweise war selbst diese berühmte Newtonsche Abwehr von Originalität wenig originell. Merton, der ein ganzes Buch über die Entwicklung und Ausdeutung dieser rhetorischen Figur schrieb, konnte aufzeigen, dass der Aphorismus mindestens 27 mal zuvor von anderen Autoren benutzt wurde, bevor Newton ihn 1676 in seinen berühmten Brief an Hooke einfügte.31 )

So originell und revolutionär die Wissenschaft als Ganzes auch sein mag – der einzelne Wissenschaftler/die einzelne Wissenschaftlerin ist bei genauerer Betrachtung doch weitgehend unoriginell, denn er/ sie ist hochgradig abhängig von dem, was andere zuvor geleistet haben. Das gilt zweifellos auch für Marx. Auch er stand auf den Schultern von Riesen bzw. auf den Schultern von Zwergen, die ihrerseits auf den Schultern von Zwergen standen. Wenn wir dennoch sog. "Geistesgrößen" wie Kant, Darwin, Freud oder Einstein besondere Originalität zusprechen, so nicht, weil sie ihre Erkenntnisse aus dem Nichts schöpften, sondern weil sie in der Lage waren, die bereits entwickelten Mosaiksteine der Erkenntnis zu einem neuen Bild zusammensetzten, das die Sichtweise der Menschen revolutionierte. Genau dies ist auch Marx gelungen. Er schuf ein neues Bewusstsein für die historisch-soziale Relativität unseres Denkens und Handelns. So fehlerhaft seine Analysen im Detail auch waren (Löw verweist hier zu Recht auf das Problem der "Sklavenhaltergesellschaft"32), die von ihm in vielen Punkten meisterhaft vorgetragene These, dass das Denken, Handeln und Empfinden der Menschen durch ihr gesellschaftliches Sein und hierbei vor allem durch die historisch gewachsenen Produktivkräfte geprägt wird, hat unser Bild des Menschen entscheidend geprägt und ist über weite Teile auch heute noch stimmig.

Wie fruchtbar diese These war, konnte Marx selbst auf vielen Gebieten demonstrieren; ich erinnere hier nur an seine fulminante, auf wenige präzise Sätze begrenzte Religionskritik, seine Entfremdungstheorie, seine vielfältigen, wenn auch verstreuten Anmerkungen zu Bildung, Kultur und Erziehung, sowie seine Theorie des Warenfetischismus33 ("Mystizismus der Ware"), die heute m.E. aktueller ist als je zuvor. Aufgrund der Fruchtbarkeit dieses neuen Denkansatzes war es kein Wunder, dass sich Generationen von Forschern (aber auch von Künstlern) die Marxsche Perspektive zu eigen gemacht haben. Dies (wie Konrad Löw) allein darauf zurückzuführen, dass Marx-Kenntnisse durch die Erfolge von Sozialdemokratie und Bolschewismus in intellektuellen Kreisen quasi verpflichtend wurden, ist schon eine arg verkürzte Sichtweise.

Schon allein aufgrund dieses neuen philosophischen wie sozialwissenschaftlichen Denkansatzes hätte es Marx verdient, unter die bedeutendsten Figuren der Geistesgeschichte eingeordnet zu werden. Aber Marx beließ es bekanntlich nicht bei Philosophie und Sozialwissenschaft. Er betrieb ausgedehnte politisch-ökonomische Studien, mit deren Hilfe er die Gesetzmäßigkeiten und Entwicklungsmöglichkeiten seiner Zeit zu ergründen versuchte. Für Marx selbst entwickelte sich dieses Projekt zum Alptraum, er verrannte sich in Details und verfing sich in Widersprüchen. Dennoch: So problematisch einige seiner Analysen und Prognosen auch waren, auch auf diesem Gebiet ermöglichte Marx neue Perspektiven – vor allem die Erkenntnis, dass die gravierende Ungleichverteilung von Reichtum und Macht kein Naturgesetz ist, sondern eine soziale Konstruktion, die unter veränderten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen aufgehoben werden kann.

In der Analyse des kapitalistischen Systems spürte er zahlreiche systemimma- nente Probleme auf, die bis heute aktuell geblieben sind34. Darunter u.a.: a) das Problem der Akkumulation des Kapitals mit der Folge der Ausdünnung der bürgerlichen Mittelschicht, b) das Problem der zyklischen Krisen, c) das Problem der Mehrwertabschöpfung, d) das Problem der ökologischen Zerstörung durch Überproduktion und – last but not least – e) das Problem der steigenden Arbeitslosigkeit aufgrund der Revolutionierung der Produktionstechnologie (So warf Marx den Nationalökonomen seiner Zeit vor – man könnte das Gleiche auch noch den wirtschaftswachstumsgläubigen Experten unserer Tage ins Merkbuch schreiben! –, zu vergessen, "dass die Produktion von zuviel Nützlichem zuviel unnütze Population produziert."35)

4.4 Fazit

Ich komme zum Schluss: Da Mythen elementare Bestandteile des religiösen Denkens sind, ist es alles andere als verwunderlich, dass der Mythos Marx zur Grundlage einer fundamentalistischen Politreligion werden konnte. Diesen Mythos zu entzaubern, ist zweifellos ein wichtiges aufklärerisches Anliegen. (Wobei natürlich nicht vergessen werden darf, dass nicht nur der Mythos Marx entzaubert werden muss, sondern auch der Mythos Jesus, der Mythos Mohammed, der Mythos Buddha etc. All dies sind Mythen, die erstens den Realitäten weit weniger entsprechen als der Marx-Mythos, und die sich zweitens im Laufe der geschichtlichen Entwicklung als mindestens ebenso verhängnisvoll erwiesen haben.)

Wie gesagt: Mit Konrad Löws Grundanliegen, den Marx-Mythos zu entzaubern, kann man sehr einverstanden sein. Mit seinen Ergebnissen jedoch kaum. Denn wenn man den mythischen Schleier hebt, hinter dem der reale Marx verborgen war, so tritt uns nicht ein eindimensionales, unkreatives Monster gegenüber, wie uns Konrad Löw weismachen möchte, sondern eine höchst heterogene, kreative und faszinierende Gestalt: Ein Mann, der zwischen Champagner und Pfandhaus hin und her pendelte, der das "Reich der Freiheit" anvisierte, aber (gewissermaßen als Nebenwirkung) brutalste diktatorische Regime mitverursachte, der den Satz "An allem ist zu zweifeln" zum Lebensmotto erhob, aber dennoch immer Recht behalten wollte, der die Religionen in den Erdboden kritisierte, aber in gewisser Weise selbst zum Religionsstifter wurde, der die Freigeister, Künstler und Intellektuellen der Welt ebenso inspirierte wie die Zensoren, Dogmatiker und Tyrannen, – ein ungemein gescheiter, am Ende in mancherlei Hinsicht auch gescheiterter Genius, der die Welt nicht nur neu interpretierte, sondern auch veränderte – und zwar in einem Umfang, den er sich wohl selbst in seinen kühnsten (Alp-)Träumen nicht hätte ausmalen können.

Man wird sich darüber streiten können, ob Marx ein großer Humanist oder ein in ethischer Hinsicht vorbildlicher Mensch gewesen ist. Dass er aber mit Newton, Kant, Darwin, Freud und Einstein in die Riege der größten Denker unserer Spezi- es gehört, wird man wohl getrost behaupten dürfen, ohne deshalb gleich der Mythosverehrung bezichtigt zu werden. Es gibt in der Tat nur wenige Theoretiker, die unser Weltbild auf ähnliche Weise revolutioniert und auf derart vielen Gebieten zu Erkenntnisfortschritten beigetragen haben wie Karl Marx. Selbst aus seinen Fehlern sind wir klüger geworden. Ein größeres Lob kann man einem dialektisch denkenden Philosophen eigentlich kaum aussprechen... 


Anmerkungen

18 MEW, S.373 f.
19 Löw 2001, S.263
20 Feuerbach 1950, S.168
21 So Martin Luther in seiner Hetzschrift "Von den Juden und ihren Lügen", zitiert nach Czermak, Gerhard (1997): Christen gegen Juden: Geschichte einer Verfolgung. Reinbek, S.112f.

22 MEW Bd.3, S.229f.
23 Löw 2001, S.265
24 Huxley, Julian (1964): Der evolutionäre Humanismus. München.
25 vgl. Schmidt-Salomon, Michael (2004): Hoffnung jenseits der Illusionen? Die Perspektive des evolutionären Humanismus. In: Albertz, Jörg (Hg): Humanität – Hoffnungen und Illusionen. (Schriftenreihe der Freien Akademie Bd.23). Berlin.

26 Vgl. Raddatz, Fritz J. (1986) (Hg): Mohr an General. Marx und Engels in ihren Briefen. Reinbek.

27 Löw 2001, S.97f.

28 vgl. Weisseiler, Eva (2002): Tussy Marx. Das Drama der Vatertochter. Köln, S.25f.

29 vgl. Lunacarskij, Anatolij (1985): Musik und Revolution. Leipzig.

30 MEW Bd.28, S.504

31 vgl. Merton, Robert(1989): Auf den Schultern von Riesen. Ein Leitfaden durch das Labyrinth der Gelehrsamkeit. Frankfurt/M.

32 Löw 2001, S.289ff.
33 vgl. u.a. MEW Bd.23, S.85ff.
34 vgl. hierzu u.a. Kurtz, Robert (2000): Marx lesen. Die wichtigsten Texte von Karl Marx für das 21. Jahrhundert. Frankfurt/Main; bzw. Kurtz, Robert (2003): Schwarzbuch Kapitalismus. Ein Abgesang auf die Marktwirtschaft. Berlin.

35 MEW, Bd.40, S.550