Wissenschaftler über das "Turiner Grabtuch": "Völlig unrealistisch"

Wohl kaum ein Stück Stoff hat die Phantasie mehr angeregt als das "Turiner Grabtuch". Gläubige sehen in ihm das Leichentuch Jesu Christi, und Pseudowissenschaftler wollen in den Flecken auf dem Tuch alles Möglich entdecken. Doch die Verbindung mit Kreuzigung und Grablegung Jesu sei "völlig unrealistisch", so zwei italienische Wissenschaftler in einer aktuellen Studie. Die Forschungsarbeit, erschienen im "Journal of Forensic Sciences", bestätigt die historische Quellenlage und wissenschaftliche frühere Untersuchungen, nach denen das Tuch im Mittelalter von einem Künstler hergestellt wurde.

Das 4,36 x 1,10 Meter große Leinentuch mit dem verschwommenen Abbild eines bärtigen Mannes im mittleren Alter gilt vielen Christen als das Grabtuch Christi, dem sich durch ein Wunder bei der Auferstehung das Abbild des Gottessohns eingeprägt haben soll. Zu besonderen Anlässen im Dom von Turin ausgestellt, lockt es Scharen von Gläubigen in die Stadt. Die katholische Kirche stuft das Tuch offiziell nicht als echte Reliquie ein, sondern lediglich als "Ikone", also als künstlerische Arbeit. Dem Volksglauben tat das ebenso wenig Abbruch wie den pseudowissenschaftlichen Spekulationen über unbekannte physikalische Prozesse, die das Abbild erzeugt haben sollen.

Auf dem Boden fundierter Wissenschaft dagegen näherten sich Luigi Garlaschelli und Matteo Borrini dem sagenumwobenen Leinen. Sie interessierten sich für die Flecken an Händen, Füßen und Rumpf der abgebildeten Gestalt, die nach gläubiger Lesart vom Blut des Gekreuzigten stammen. Auf den ersten Blick spiegeln sie das Geschehen wider, wie die Bibel es schildert. Doch bildet ausfließendes Blut tatsächlich solche Muster? Um dies herauszufinden, stellten Garlaschelli und Borrini den Blutfluss mit Hilfe eines lebendigen Freiwilligen nach. An entsprechenden Stellen seines Körpers ließen sie menschliches Blut aus kleinen Fläschchen herabrinnen. Die Person wechselte dabei mehrfach ihre Lage. Die einzelnen Resultate stehen im Widerspruch zueinander und passen nicht zu den biblischen Kreuzigungsberichten. So bildeten sich die kurzen Rinnsale auf dem linken Handrücken nur bei aufrecht stehendem Körper, wenn die Arme im 45-Grad-Winkel abgespreizt waren. Um die Spuren auf dem Unterarm nachzubilden, war dagegen eine fast senkrechte Armhaltung erforderlich.

Den Stich in die Seite simulierten die Forscher mit einem Schwamm voller Kunstblut, den sie auf ein schmales Holzbrett montierten und in eine Puppe stießen. Zwar glichen die Blutspuren bei der aufrecht stehenden Puppe denen vom Tuch. Grabtuch-Fans mögen sich da auf den ersten Blick bestätigt sehen. Aber halt, so die Wissenschaftler. Geht man davon aus, dass der blutende Körper bald anschließend in eine liegende Position gebracht wurde, passt es gar nicht mehr.

Dieses Resultat reiht sich ein in die Vielzahl von Belegen, die das "Grabtuch" als künstlerische Arbeit verorten. So ist das Format völlig unüblich für eine jüdische Bestattung der fraglichen Zeit. Dagegen entspricht das Bild im Stil den Jesus-Darstellungen des 14. Jahrhunderts. Das korrespondiert mit der Dokumentenlage. So fand die erste verbürgte Ausstellung des Tuchs 1357 statt. Und 1389 wies Bischof Pierre d'Arcis auf das Geständnis eines Malers hin, der das Bild angefertigt habe. Das Dokument habe seinem Amtsvorgänger Henri de Poitiers vorgelegen.

Dazu passen wissenschaftliche Analysen der letzten Jahre: Laut einer 1988 vorgenommenen Radiokarbon-Datierung stammt das Leinen aus der Zeit zwischen 1260 und 1380. Zwar haben Vertreter der "Grabtuch"-These im Nachhinein Einwände gegen das Vorgehen bei der Datierung erhoben – obwohl die Methode zuvor unter Befürwortern und Skeptikern abgestimmt worden war.

Mit einer selbst entwickelten, in der Forschung ungebräuchliche Datierungsmethode kam 2005 ein Chemiker namens Ray Rogers auf ein geschätztes Alter von 1300 bis 3000 Jahren. Jedoch stehen Fachleute seiner Selfmade-Methode äußerst kritisch gegenüber.

Auf solidem wissenschaftlichem Fundament fußt dagegen die Untersuchung des Chemikers Walter McCrone. Er wies auf dem Leinen Pigmente roter Farbe nach, die von mittelalterlichen Malern verwendet wurde. Für die Herstellung eines Bildes im charakteristischen "Grabtuch-Stil" kennt man heute gleich mehrere Techniken. So konnte der Ermittler Joe Nickell zeigen, dass sich durch Aufspannen eines Leinentuchs auf ein Basrelief und Abreiben mit Eisenoxyd-Pigmenten ein Abbild erzeugen lässt, das dem des Turiner Leinens verblüffend ähnelt. Mit einer direkten Malmethode erzeugte der Maler Walter Sanford ebenfalls ein sehr ähnliches Abbild.

Auch Luigi Garlaschelli, Koautor der aktuellen Studie, hat 2009 eine Kopie des Tuches hergestellt – mit Materialien und Techniken, die Künstlern schon vor 800 Jahren zur Verfügung standen.

So kann das aktuelle Ergebnis kaum überraschen. "Die neue Studie wiederholt nur, was wir schon lange wissen", resümiert Amardeo Sarma, der sich als Vorsitzender der GWUP ausführlich mit der Forschung zum "Turiner Grabtuch" befasst. "Die Aussagen sind nicht neu und die überzeugendsten Belege für eine künstlerische Arbeit aus dem Mittelalter, die historische Dokumente, der Nachweis der Farbpigmente und die Radiokarbon-Datierung liegen schon lange vor."