Afrika

Verstümmelungen an Kindern als Form von "Entwicklungshilfe" und "HIV-Prävention"

Seit über zehn Jahren spülen westliche staatliche und nichtstaatliche Hilfsorganisationen enorme Gelder in afrikanische Länder, die explizit dafür vorgesehen sind, möglichst viele männliche Afrikaner einer Vorhautamputation ("Beschneidung") zu unterziehen.

"Als sie das Krankenhaus erreichten, wollten einige weglaufen, da sie ihre Mitschüler weinen hörten. Sie hatten keine Wahl, wie sehr sie sich auch wehrten: sie mussten beschnitten werden, weil ihre Eltern bereits ihre schriftliche Zustimmung gegeben hatten. Einige der Schüler klagten nachher über anhaltende Schmerzen und Schwellungen. Bei auftretenden Komplikationen gibt es aber weder Nachbetreuung und noch die Möglichkeit eines Transportes zurück ins Krankenhaus. Transporte sind nur für die eigentliche Operation vorgesehen. Die meisten Schüler dieser Gruppe bezeugten, dass sie mit dem jetzigen Wissen nicht hätten beschnitten werden wollen."

Dies berichtet Antony O. aus Kenia. Der Lehrer hat in verschiedenen Schulen und Universitäten Befragungen zu Aspekten sexueller Gesundheit und Familienplanung durchgeführt und dabei auch die tatsächlichen Auswirkungen der sogenannten "Beschneidungs­programme" beobachtet. Seit über zehn Jahren spülen westliche staatliche und nichtstaatliche Hilfsorganisationen wie USAID und die Bill-and-Melinda-Gates-Stiftung enorme Gelder in afrikanische Länder, die explizit dafür vorgesehen sind, möglichst viele männliche Afrikaner einer Vorhautamputation ("Beschneidung") zu unterziehen. In Radiosendungen und auf Plakaten wird für diese Maßnahme geworben. Dort heißt es: "Stand proud. Get circumcised!" Taxifahrer verteilen Flyer und erhalten Prämien bei erfolgreicher Vermittlung. Da die anvisierten Quoten mit der bloßen Anwerbung von erwachsenen Männern nicht erfüllt werden, wenden sich die Programme zunehmend an Eltern von Jungen und männlichen Säuglingen und holen mit falschen Versprechungen deren Unterschrift ein. UNICEF nimmt in Informationsmaterialien werdende Mütter ins Visier: EIMC (Early infant male circumcision) sei ein kleiner unkomplizierter Eingriff und biete für neugeborene Jungen viele lebenslange Vorteile. Oftmals, wie uns berichtet wird, fällt aber auch der "Umweg" über die Eltern gleich ganz weg: in Schulen werden nur die Schulleiter informiert, die Kinder mit Süßigkeiten und Softdrinks angelockt. Es wird ihnen erzählt, sie seien "anschließend" sicher vor HIV. Ganz besonders gefährdet sind Waisen. Alle diese Informationen sind kein Ergebnis geheimer Undercover-Recherchen für diesen Artikel. Sie sind unzähligen afrikanischen Medienberichten und alltäglichen Postings in sozialen Netzwerken zu entnehmen.

Was steckt hinter diesen unfassbaren Vorgängen, einer völlig entfesselt scheinenden Dynamik? 2007 erklärte die WHO nach dem Erscheinen mehrerer Studien, Männer ohne Vorhaut infizierten sich seltener mit HIV. Seitdem geistert ein angeblicher "60 % Schutz durch Beschneidung" durch die Öffentlichkeit. Die Studien wurden und werden immer wieder in wissenschaftlichen Untersuchungen ob ihrer methodischen Fehler angegriffen. Und niemand konnte je begründen, warum die Gefahr der Übertragung sexuell übertragbarer Krankheiten eine Rechtfertigung sein könnte, sexuell nicht aktive Jungen zwangszubeschneiden. Auch wurde nie das Geheimnis gelüftet, warum ausschließlich männliche Genitalschleimhäute Übertragungswege für Viren bieten sollten und es ethisch akzeptabel sein könne, vollständige männliche Genitalien als krankheitsauslösende Gefahr, Männer und Eltern, die sich der Propaganda widersetzen, als geradezu verantwortungslos zu diskriminieren.

Seit einiger Zeit sind nun Berichte betroffener Afrikaner verfügbar: Das VMMC-Experience-Project zeigt auf seiner Internetseite zahlreiche Videos, die Antony O.s Aussagen bestätigen. GEO veröffentlichte 2015 einen umfangreichen Referenz-Artikel, der allerdings wenig Resonanz bei verantwortlichen Stellen fand: Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) unterstützt schließlich laut einem Bericht der taz (2017) selbst diese Programme. UNICEF Deutschland räumt im selben taz-Artikel ein, dass ihnen die menschenrechtlichen Bedenken bekannt seien – aber eben nicht vorrangig erschienen. In direkten Antworten auf Zuschriften behauptet UNICEF, nur in Gegenden tätig zu werden, wo sowieso nach afrikanischem Brauch, also traditionell mit einer Initiationszeremonie ohne medizinische Versorgung, "beschnitten" würde – sie also nur Schlimmeres verhüteten durch die Bereitstellung steriler Bedingungen. Dass UNICEF in allen Veröffentlichungen kein Wort über die umstrittene wissenschaftliche Grundlage der Programme und die irreversiblen Folgen einer Vorhaut­amputation verliert, entlarvt diese Be­hauptungen als Farce. UNICEF ist somit Teil der Dynamik, die zu den beschriebenen Zuständen führt.

Laut GEO stoßen Journalisten überall auf Schweigen, sei es in Behörden oder auch bei der WHO in Genf. Die Programme haben sich offensichtlich zu einer Maschinerie verselbständigt, so dass niemand mehr ein Interesse an Kritik oder auch an der Frage hat, ob tatsächlich ein Rückgang von HIV-Neuansteckungen eingetroffen ist. So ist meist schon vom "Erfolg im Kampf gegen HIV" die Rede, wenn möglichst viele Jungen und Männer unterm Messer landeten. Denn dann ist die Mission erfüllt: die Quoten sind erreicht, die Dollars fließen weiter. Ein Aspekt, den man in ärmsten Ländern sehr gut nachvollziehen kann.

2017 waren auf Einladung von MOGiS e. V. – Eine Stimme für Betroffene Owino Kennedy von Intact Kenya und Prince Hillary Maloba vom benannten VMMC-Experience-Project in Berlin im Haus der Bundespressekonferenz zu Gast. Ihre Zeugnisse sind als Videos festgehalten und stehen der Öffentlichkeit zur Verfügung. Die Aussagen wurden durch die Ärztin Jutta Reisinger bekräftigt. Sie arbeitet für Aktion Regen Wien in Aufklärungsprojekten in Kenia zu sexueller und reproduktiver Gesundheit, Familienplanung, FGM (weibliche Ge­nitalverstümmelung) und HIV/AIDS-Prävention und stieß dabei zufällig auf weinende und verängstigte Jungen, die aus der Schule zur "Beschneidung" rekrutiert worden waren. Reisinger bestätigte ebenfalls, dass die Programme zu einer geringeren Bereitschaft führen, Kondome zu benutzen. In Vorträgen und Diskussionen über sexuelle Gesundheit berichten Männer, man habe sie über die angebliche Notwendigkeit der Beschneidung informiert und dass sie dann zu 100 % vor HIV geschützt seien. Wo früher überall in Medien und im öffentlichen Raum, z. B. in Universitäten, mit Plakaten für Kondome geworben wurde, sähe und höre man heute nichts mehr davon. Deutsche Leitmedien zeigten daraufhin Interesse und ließen 3sat in Kenia einen Kurzbericht drehen. Die jüdisch-US-amerikanische Journalistin Max Fish, Mitbegründerin des VVMC-Experience-Projects konstatierte in Berlin: "Die heutigen Beschneidungskampagnen sind zutiefst rassistisch: die Vorstellung, Verhaltensinterventionen wie Kondomnutzung und Treue reichten nicht aus für die Menschen in Afrika, die Vor­stellung, afrikanische Sexualität brauche eine 'endgültigere' Lösung."

Über die wirklichen Gründe, warum westliche Hilfskonzerne und -aktionen wie USAID, UNICEF und PEPFAR derartiges initiieren und daran festhalten, lässt sich nur spekulieren. Die USA sind das einzige Land in der westlichen Welt, in dem Zwangsbeschneidungen an männlichen Neugeborenen aus angeblich medizinischen und hygienischen Gründen als Massenphänomen etabliert sind, und stehen damit unter immensem Rechtfertigungsdruck. Auch heute noch werden dort mehr als 50 % der Jungen beschnitten. Der Geist, in dem Ende des 19. Jahrhunderts der amerikanische Kinderarzt Harvey Kellogg Vorhautamputation an Jungen und das Teilverätzen der weiblichen Klitoris mit Karbolsäure bei vollem Bewusstsein der Heranwachsenden zur Eindämmung der Masturbation als vermeintliche Ursache fast aller nur denkbaren Krankheiten empfahl, setzte sich in den Bescheidungskampagnen gegen Afrika fort. Die Genitalien männlicher Afrikaner wurden nun eine "Spielwiese der westlichen Entwicklungshilfe" (GEO 2015). Mit tödlichen Folgen für die Menschen, die sich vermeintlich sicher vor HIV-Ansteckung fühlen. Eine – wenn sie denn stattfindet – gleichzeitige Bewerbung von Kondomen hat wenig Sinn, ist doch der ungeschützte Geschlechtsverkehr die einzige Situation, wo der angebliche Schutz überhaupt zum Tragen kommt. Zumal stellen die Programme eine große Gefahr für einen erfolgreichen weltweiten Einsatz gegen alle Formen weiblicher Genitalverstümmelung dar: Schließlich stehen sie in unauflösbarem Widerspruch zu den Argumenten und ethischen Grundhaltungen, auf denen die – ebenfalls größtenteils aus der westlichen Welt finanzierten – Schutzmaßnahmen für Mädchen und Frauen basieren.

Prince Hillary Maloba hielt im vergangenen Winter einen Vortrag vor Healthworker*innen in Kampala, in dem er für den Gebrauch von Kondomen zum Schutz vor HIV warb und als Beschneidungsbetroffener gleichzeitig den Schutz von Jungen vor Verstümmelungen einforderte. Die Empfänger*innen der Botschaft, Angestellte im Gesundheitswesen wie Geburts­helferinnen und Pfleger*innen, hörten mit Interesse zu. Nur wie sollte das Gehörte konkrete Konsequenzen für ihr Handeln auslösen, wenn sie von Stellen bezahlt werden, die im Auftrag der zuständigen Ministerien die Massenverstümmelungskampagnen ausführen müssen?

Ein breit angelegter Spendenaufruf für das VMMC-Experience-Project wäre sehr hilfreich, damit zumindest ein Informationsfluss entsteht. Letztend­lich braucht es zum notwendigen sofortigen Stopp der Kampagnen aber auch breit angelegten Protest und Anfragen an die Bundesregierung. Ein effizienter Druck von außen wäre sicher der Wegfall von Spenden bei beteiligten NGOs und ein Aufbegehren prominenter Botschafter*innen. Nichtbeteiligte NGOs, die angeblich jeglichen Rassismus verurteilen und für Menschenrechte kämpfen, sind an der Reihe, ihren eigenen Grundsätzen auch hier gerecht zu werden und ihren Einfluss geltend zu machen. Es ist schließlich nicht einzusehen, warum Verletzungen der körperlichen Unversehrtheit und sexuellen Selbstbestimmung afrikanischer Jungen weiterhin mit bundesdeutschen Steuergeldern und durch den UNICEF-Weihnachtskartenverkauf für angebliche Kinder in Not finanziert werden. Hier ist Gegensteuern angesagt: Für medizinische Aufklärung nach aktuellem wissenschaftlichen Kenntnisstand, für unteilbare Kinderrechte, für Respekt vor einem jeden Menschen. Gerade auch in Afrika. Die Menschen dort bezahlen nämlich allein den Preis für das bisherige Vorgehen und das allgemeine Wegschauen, mit ihrem eigenen Körper. An ihrer intimsten Stelle. Und immer wieder auch mit ihrem Leben.

Der Text erschien ursprünglich in MIZ: Materialien und Informationen zur Zeit, Ausgabe 2/18. Übernahme mit freundlicher Genehmigung des Alibri Verlags.