"Lebensschützer"-Sexualkunde in der Grundschule

Ein neuer, katholischer Aufklärungsworkshop für Grundschüler überrascht mit seiner Körperfreundlichkeit. Das sollte Lehrer und Eltern aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass es verhüllt auch um die Tabuisierung von Schwangerschaftsabbrüchen geht.

Mein jüngerer Sohn brachte letztes Jahr einen Zettel aus seiner bayerischen Grundschule mit, dass der Sexualkunde-Unterricht der 4. Jahrgangssstufe diesmal von einem Projekt der Diözese Eichstätt ergänzt und unterstützt würde: der "KörperWunderWerkstatt". Der Workshop sollte als Teil des Aufklärungsunterrichts für alle Kinder stattfinden, nicht nur der Kinder, die in den katholischen Religionsunterricht gehen.

Als ich auf dem Weg zum dazugehörigen Elternvortrag der "KörperWunderWerkstatt" war, drehten sich meine Sorgen um Körperfeindlichkeit, Verklemmtheit und Homophobie. Doch in all diesen Feldern wurde ich positiv überrascht. Womit ich nicht gerechnet hatte: Dass die problematische Hauptbotschaft ein Baustein für Erhalt und Ausbau des Abtreibungstabus sein würde.

So viel Offenheit

Wie die Sexualpädagogin beim Elternvortrag erklärte, würden die Schülerinnen und Schüler in dem geschlechtsgetrennt durchgeführten Workshop zum einen über die körperlichen Veränderungen informiert, die ihnen in der Pubertät bevorstehen, zum anderen würde detailliert über Geschlechtsanatomie und Fortpflanzungsbiologie gesprochen. Die dafür verwendeten Materialien lagen vor ihr auf dem Boden.

Sowohl männliche wie weibliche Geschlechtsorgane sind für den Workshop in Plüsch modelliert und werden bis zur letzten Sekret-Drüse in ihrer Funktion für die Fortpflanzung beschrieben. Worauf die Ur-Großeltern also höchstens als "untenrum" verwiesen hätten, wird den Grundschülern drei Generationen später ganz locker und ohne erkennbare Scham gezeigt. Von Katholiken!

So viel Wertschätzung

Die Sexualpädagogin erklärt den verlegen dreinschauenden Eltern zudem, wie ausgesprochen wichtig es sei, den Kindern Wertschätzung für ihre Körper mitzugeben. Wie kostbar alles daran sei.

Sogar auf die Körper der Eltern dehnt sich diese demonstrative Wertschätzung aus. So wurden die Väter im Raum dazu aufgefordert zu schätzen, wie viele Spermien sie pro Tag produzieren. Als einer der Männer eine zu kleine Zahl nannte, nutzte die Sexualpädagogin die Gelegenheit, alle anwesenden Männer enthusiastisch dafür zu loben, wie viele Samenzellen ihr Wunderwerk Körper tatsächlich täglich hervorbringt.

Der Mann, der die Antwort gegeben hatte, grinste dazu schief und meinte: "Und meine Frau denkt, ich sitze nur faul auf dem Sofa ..." Sein Kommentar erheiterte den Saal natürlich. Mich eingeschlossen. Und meine Befürchtung, im Unterricht könnte humorlose Körperfeindlichkeit gepredigt werden, verflog.

LGBT-freundlich?

Doch eine Sorge hatte ich ja noch: Wie ist eigentlich der Umgang mit Homosexualität in der "KörperWunderWerkstatt"? In einer katholischen Sexualkunde ist ja nicht zu erwarten, dass diesem Thema ebenfalls mit Lockerheit und Wertschätzung begegnet wird. Würden sie meinem Sohn versuchen beizubringen, dass gleichgeschlechtliche Sexualität diese Wertschätzung nicht verdiene?

Aber die Sexualpädagogin, mit der ich am Rande des Elternvortrags deswegen das Gespräch suchte, zerstreute auch diese Zweifel. Bei diesem Grundschulworkshop ginge es vor allem darum zu erklären, wie ein Kind entstehe, erklärte sie mir. Beziehungen seien erst ein Thema späterer Jahrgangsstufen. Aber auch in den Angeboten für ältere Kinder würden gleichgeschlechtliche Beziehungen nicht abgewertet, sondern als eine mögliche Form des Zusammenlebens behandelt.

Ich hätte natürlich monieren können, dass eine Konzentration auf die Fortpflanzungsaspekte der Sexualität immer gleichzeitig eine Konzentration auf Heterosexualität bedeutet, aber ich dachte: "Immerhin, keine Abwertung."

Krönende Befruchtung

Doch so runtergedimmt die üblichen Tabus der katholischen Sexualmoral in der Veranstaltung auch sein mögen, in einem wichtigen Punkt könnte der Workshop dennoch kaum katholischer sein.

Das zeigt sich vor allem in einem Spiel, das die Kinder gegen Ende des Workshops spielen und das auch beim Elternvortrag ausführlich vorgestellt wurde. Dabei bekommt jedes Kind eine große symbolisierte Samenzelle und wetteifert mit den anderen darum, welche davon zuerst bei der Eizelle ist. Die große goldene Kugel als Eizelle öffnet sich dann für die schnellste Samenzelle und lässt sie hinein.

Das Kind mit dem Gewinner-Spermium wird anschließend die besondere Ehre zuteil, dem – durch die Verschmelzung entstandenen – neuen Leben einen Namen geben zu dürfen. Die goldene Zelle wird also z. B. – je nach Namensvorlieben des jeweiligen Kindes – zu einem "Tim" oder einer "Sophie". Gefeiert und begrüßt wird dieser einzellige Tim oder diese einzellige Sophie mit dem begeisterten Einstreuen von Bonbons in die Plüsch-Gebärmutter – als Symbol für die Vorbereitung der Uteruswand für das künftige Ernähren des kleinen, neuen Menschen.

Ein unrealistischer Zeitpunkt

Mir drängte sich dabei die Frage auf: Ist es nicht schräg, einer einzelnen Zelle direkt nach der Befruchtung einen Namen zu geben? Schon Kinder, die jüngere Geschwisterkinder haben, wissen doch: Werdenden Eltern benennen ihren Nachwuchs doch erst viel später. Und wer erwachsen ist, weiß auch, warum. Zum einen kennen wir den Zeitpunkt der Befruchtung nie. Wir können erst viele Tage nach der Einnistung anhand des hCG-Hormons in Blut oder Urin feststellen, dass eine Befruchtung stattgefunden haben muss.

Und da wir in der Regel geschlechtsspezifische Namen vergeben, wird die Frage der Benennung erst konkreter, wenn die Knospe zwischen den Beinen des Embryos im Ultraschall anfängt einigermaßen zuverlässig nach dem einen oder anderen Geschlechtsteil auszusehen. Das ist etwa ab der 13. Schwangerschaftswoche der Fall. Der reguläre Termin, bei dem die meisten Eltern vom Arzt das Geschlecht erfahren, ist sogar erst nach der 19. Woche. Und bis man sich schließlich auf einen Namen festlegt, dauerte es ja oft bis kurz vor oder sogar nach der Geburt.

Einzeller mit Namen

Warum also diese rituelle Benennung Monate davor? Direkt nach der Befruchtung? Warum diese feierliche Namensgebung einer einzelnen Zelle, die für die Kinder zudem besonders eindrücklich und als Höhepunkt gestaltet ist? Hätte man die Namensgebung in realitätsnaher Weise in den Workshop einbauen wollen, wäre ja eine Art Zeitraffer möglich gewesen, in der die Schwangerschaft verkürzt gespielt wird und an dessen Ende ein Säugling da ist, der getauft werden kann. Aber das wird nicht gemacht. Stattdessen wählte man die Verschmelzung von Ei- und Samenzelle als den Zeitpunkt der Namensgebung.

Sollte mit dem Namen markiert werden, dass durch die Verschmelzung von Ei- und Samenzelle plötzlich ein "Jemand" entstanden ist? Denn deutlicher kann man das nicht machen. Vorher war nur von Zellen die Rede, von Keimzellen, aber die neue Zelle, die aus ihnen entsteht, soll plötzlich mehr sein als das. Sie ist durch die Namensgebung kein "Etwas" mehr. Sie soll – ohne Übergang und Entwicklung – gleich ein so vollgültiger "Jemand" sein, dass er oder sie einen Namen braucht.

Die Sache mit der Beseelung

Verständlich wird dieses schräge Ritual, dieses Vorziehen auf einen Ein-Zell-Zeitpunkt, nur vor dem Hintergrund der katholischen Vorstellung, dass Gott einem neuen Menschen seine Seele im Moment der Befruchtung einhaucht. Diese Idee der sogenannten Simultanbeseelung wird im Workshop durch die Namensgebung in scheinbar nicht-theologischer Form erzählt, also so, dass die Begriffe "Gott" und "Seele" gar nicht vorkommen.

Auf Uneingeweihte könnte es daher so wirken als würden dabei nur biologische Fakten pädagogisch besonders eindrücklich aufbereitet. Aber das täuscht. Und von katholischer Seite ist man sich sehr bewusst, dass diese Botschaft keine biologische, sondern eine religiöse ist.

Wertschätzung – auch für die Seele

Das zeigt etwa der Artikel "Sexualerziehung: Wie sagen es Katholiken ihren Kindern?", der letzten Sommer bei katholisch.de erschien. "My Fertility Matters" erfährt dort lobende Erwähnung. Das Programm verstehe die Sexualerziehung nicht nur als biologische Aufklärung, sondern setze sie auch in einen christlichen Kontext, heißt es in dem Artikel.

Als Beispiel dafür wird explizit genannt: "So wird den Jungen und Mädchen etwa vermittelt, dass das Leben in dem Augenblick beginnt, in dem Ei und Samenzelle verschmelzen." Annette Wermuth von der katholischen Fakultät der LMU in München wird dazu mit der Aussage zitiert, dies sei ein interdisziplinärer Ansatz, der den Menschen als bio-psycho-soziale Einheit sehe. Für die Wissenschaftlerin, die selbst Sexualpädagogik-Seminare für Religionslehrer anbietet, geht es dabei darum, auch die Seele als wertvoll zu erachten.

Ein Konzept für alle? Schon immer?

Um es noch einmal zu betonen: Dass eine einzelne Zelle schon ein "Jemand" sein soll, ergibt sich auch aus katholischer Sicht keineswegs aus der Biologie. Es wird offen als ein religiöses Konzept gesehen und bezeichnet. Doch warum ist der ganze Zinnober dann nicht Teil des katholischen Religionsunterrichts? Warum wird es allen Kindern einer Klasse vermittelt? Auch den konfessionslosen?

Wer jetzt meint, das Konzept der Simultanbeseelung sei vielleicht ein ganz altes und gehöre damit ganz unabhängig von der Religion schon zum geistigen Fundament des Abendlandes, irrt. Tatsächlich handelt es sich um ein noch relativ junges und spezifisch katholisches Konzept, das erst durch eine Entscheidung von Papst Pius im Jahr 1869 in den Status der Glaubenswahrheit erhoben wurde.

Vorher glaubten Katholiken an eine Sukzessivbeseelung, also daran, dass der heranwachsende Embryo erst nach und nach eine Seele bekommt, sprich: dass er nicht gleich von Anfang an ein "Jemand" ist, sondern es erst langsam und im Laufe seiner Entwicklung wird.

Politisch hochbrisant

In einer rational und pragmatisch geprägten Welt würde ich vielleicht darüber schmunzeln, wie die katholische Kirche versucht, ein päpstliches Konzept des 19. Jahrhunderts hier im Gewand der Biologie in die Köpfe der nächsten Generation zu schmuggeln. Aber wir leben nicht in einer rational und pragmatisch geprägten Welt. Zumindest nicht, was die Frage angeht, wann und ab wie vielen Zellen Embryonen genau anfangen "Jemand" zu sein. Die Antwort auf diese Frage ist leider immer noch hochemotional und politisch, mit Konsequenzen vor allem für den Umgang mit ungewollten Schwangerschaften.

Und wo die katholische Kirche in dieser Frage steht, ist klar: Sie lehnt Schwangerschaftsabbrüche fundamental ab, und zwar unabhängig von Zeitpunkt des Abbruchs sowie den Rahmenbedingungen der Schwangerschaft. Und zwar genau aus dem Grund, weil Embryonen für sie zu jeder Zeit schon eine Seele haben. Auch im Ein-Zell-Stadium. Das heißt, das im Workshop vermittelte Konzept dient als Begründung für diese Fundamental-Ablehnung.

Christliche Moral mit an Bord

So begrüßenswert es also ist, dass nun auch Katholiken die Wertschätzung von Körper und Sexualität für sich entdeckt haben und Kindern Informationen darüber vermitteln wollen, darf diese neue Freizügigkeit nicht darüber hinwegtäuschen, dass bei der "KörperWunderWerkstatt" ein religiöses Konzept mit-vermittelt wird, das politisch hochbrisant ist, weil es der katholischen Kirche als Begründung für die absolut verstandene Ablehnung des Schwangerschaftsabbruchs dient.

Es ist zu bezweifeln, ob denen, die in staatlichen Grundschulen über eine mögliche Einladung der katholischen "KörperWunderWerkstatt" für den Sexualkunde-Unterricht entscheiden, in jedem Fall klar ist, wie christlich und moralbeladen der Workshop dadurch trotz allem ist.

Die Transparenz des Anbieters lässt in dieser Hinsicht auch zu wünschen übrig. Es ist aus dem Infomaterial im Netz jedenfalls nicht ersichtlich, welches politisch wirkmächtige, religiöse Konzept den Schülerinnen und Schülern dabei vermittelt wird.

Für Lehrer und Eltern transparent genug?

Der Verein My Fertility Matters (MFM) und die mit ihm kooperierenden katholischen Bistümer nennen ihr Angebot zwar explizit "werteorientiert", aber von Seele, Gott oder gar Simultanbeseelung ist in den Informationen nirgendwo die Rede. Und so entsteht fälschlicherweise in der Lehrer- und Elternschaft der Eindruck, hier würden rein biologische Informationen vermittelt, nur eben irgendwie christlich-familienorientiert abgesegnet, was für viele gleichbedeutend ist mit: altersgerecht und sanft.

Bleibt es dadurch unter dem Radar vieler, dass der Workshop auch dem Zweck dient, die persönliche und politische Meinungsbildung heutiger Grundschulkinder im katholischen Sinne zu beeinflussen? Etwa ihre späteren Bewertungen und Entscheidungen im Falle einer ungewollten Schwangerschaft? Oder bei welcher Partei sie ihr Kreuz machen, wenn es in der Politik um Schwangerschaftsabbruch geht oder auch um die Stammzellforschung?

Nur Lob und Erfolg

Dieser Aspekt scheint bisher erstaunlich wenig Aufmerksamkeit erregt zu haben. Im Gegenteil, die "neue, wertschätzende Sexualpädagogik" scheint überall nur Lob einzuheimsen. Dr. med. Elisabeth Raith-Paula, die das Konzept entwickelte, erhielt dafür 2010 sogar das Bundesverdienstkreuz. Der von ihr gegründete Verein My Fertility Matters (MFM Deutschland e. V.) hat nach eigenen Angaben seit 1999 über 500 Referentinnen und Referenten ausgebildet.

Laut Informationen auf der Webseite des Vereins richteten sich bisherige Workshops vor allem an Jugendliche und werden an vielen Orten bundesweit angeboten. Seit Gründung seien in 50.789 Veranstaltungen 724.099 Teilnehmern erreicht worden, heißt es unter Zahlen und Fakten auf der Website.

Neues Ziel: Grundschule

Die "KörperWunderWerkstatt" für Viertklässler ist ein neu entwickelter Baustein im Programm von MFM und befindet sich noch im Aufbau. Angeboten wird sie erst seit 2017 und beschränkt sich momentan noch auf München, Eichstätt, Regensburg, Bamberg und Leipzig. Wie bei den Angebote von MFM für Jugendliche auch, werden die Referentinnen und Referenten von den regionalen MFM-Zentralen koordiniert, die meist in der Trägerschaft von (Erz-)Bistümern sind.

Für den Workshop zahlen mussten übrigens weder die Eltern noch die Schule. Woher die Referentinnen und Referenten ihr Geld bekommen ist unterschiedlich. Laut Infoblatt wurden die Kosten bei unserer Grundschule vom (CSU-regierten) Ort und dem Fachbereich MFM der Diözese Eichstätt übernommen. Die Kosten des Elternvortrags übernahm die Katholische Erwachsenenbildung e. V.