Bundesverfassungsgericht: Ja zu Lehrerinnen-Kopftuch

Wie einfach eine Änderung der Rechtsprechung ist…

BERLIN. (hpd) Im Oktober letzten Jahres hat das Bundesverfassungsgericht seine ständige kirchenfreundliche Rechtsprechung zum Kirchlichen Arbeitsrecht erneut bekräftigt. Ende Januar dieses Jahres hat es seine Rechtsprechung zu kopftuchtragenden Lehrerinnen komplett geändert. Die Interpretation des Grundgesetzes und der Grundrechte, ihre Wechselwirkung untereinander kann somit durchaus geändert werden, wenn das höchste deutsche Gericht dies für erforderlich hält.

Josef Isensee, einer der renommiertesten deutschen Staats- und Verfassungsrechtler, hat vor gut fünfzehn Jahren darauf hingewiesen, dass das Religionsverfassungsrecht in Deutschland im wesentlichen Werk der Interpretation sei und deshalb mit seinen Interpreten stehe und falle. Er hat diesen Gedanken pointiert so formuliert: "Zugespitzt: die bestehende Ordnung des Staatskirchenrechts könnte gewendet werden ohne einen Federstrich des Verfassungstextes, durch bloße Änderung der Geschäftsverteilung zwischen dem ersten und dem zweiten Senat des Bundesverfassungsgerichts." Wer diese Äußerung für maßlos übertrieben gehalten haben sollte, wird dieser Tage eines Besseren belehrt:

Der 1. Senat des Bundesverfassungsgerichts hat in einer soeben veröffentlichten Entscheidung von Ende Januar ein generelles Kopftuchverbot in landesrechtlichen Regelungen für Lehrerinnen an öffentlichen Schulen für mit der Verfassung nicht vereinbar erklärt. Im Jahr 2003 hingegen hatte der 2. Senat desselben Gerichts ein generelles Kopftuchverbot für Lehrerinnen für verfassungsrechtlich zulässig erklärt, sofern die Bundesländer entsprechende landesgesetzliche Regelungen schaffen würden.

Fazit: Wenn ein entsprechender politischer Wille vorhanden ist, kann auch die Verfassungsinterpretation geändert werden.

Das gilt selbstredend für alle Rechtsbereiche, somit auch für das Religionsverfassungsrecht im Allgemeinen. Der 1. Senat des Bundesverfassungsgerichts hat der Öffentlichkeit deutlich gezeigt: die Entscheidungen des höchsten deutschen Gerichts sind nicht in Stein gemeißelt, sie müssen nicht ewig gelten, sie sind änderbar.

Dies sollten sich durchaus alle diejenigen merken, die nach der Veröffentlichung des Urteils des 2. Senats des Bundesverfassungsgerichts zum Kirchlichen Arbeitsrecht im Oktober 2014 jubilierten. Kirchenleitungen und Verbandsführungen von Caritas und Diakonie konnten sich – zu Recht – in ihren Positionen gestärkt sehen.

Mit der damaligen Entscheidung hatte das Gericht seine frühere Rechtsprechung zur Berechtigung eines kirchlichen Sonderarbeitsrechts für Beschäftigte bei den Kirchen und bei Unternehmungen in kirchlicher Trägerschaft ausdrücklich bestätigt. Diese Rechtsprechung behauptet aufgrund einer politisch-einseitigen Interpretation von Grundgesetzvorschriften einen generellen Vorrang kirchlicher Rechte vor den Grundrechten von deren ArbeitnehmerInnen und steht seit Jahren immer stärker in der öffentlichen Kritik- Bekannte skandalösen Fälle: Entlassungen langjährig Beschäftigter allein aufgrund Kirchenaustritts, gleichgeschlechtlicher Orientierung, Ehescheidung bzw. Neuverheiratung, Ausschluss der üblichen kollektiven Rechte zur Gestaltung von Arbeits- und Lohnregelungen.

Das Bundesverfassungsgericht trat mit der Oktober-Entscheidung bereits zum zweiten Mal innerhalb weniger Jahrzehnte Entwicklungen bei den Arbeitsgerichten (bis hin zum Bundesarbeitsgericht) entgegen, die Positionen der betroffenen ArbeitnehmerInnen zu stärken.

Es ist nicht übertrieben, die Reaktion innerhalb der säkularen Szene in Deutschland mit fassungslosem Entsetzen nach Bekanntwerden dieses Urteils zu beschreiben. Mit einer derartigen Zementierung der alten Positionen hatte nun - angesichts der erneuten Entwicklung bei den Arbeitsgerichten und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes - niemand gerechnet. Blieb jetzt nur noch der Weg einer – auf lange Sicht nicht realistischen – Änderung des Grundgesetzes? Wäre politisch überhaupt noch etwas zu machen?

Die jetzige Entscheidung des 1. Senats, auch wenn sie in der Sache Spaltungstendenzen in der Gesellschaft Vorschub leistet, gibt immerhin dieses Signal in die Öffentlichkeit: Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts können geändert werden, wenn der politische Wille dazu da ist.

Für alle diejenigen, die sich für eine Abschaffung des kirchlichen Sonderarbeitsrechts einsetzen, gilt nun: aus der seit dem Urteil vom Oktober eingetretenen Schockstarre herauszukommen und energisch weiterzumachen, in der Gesellschaft, in den kirchlichen Betrieben, in der Politik. Die Kirchen sitzen langfristig aufgrund der gesellschaftlichen Veränderungen ohnehin am kürzeren Hebel.