Sterbehilfedebatte

Vorwurf der Inkonsequenz ernst nehmen

BERLIN. (hpd) Die Deutsche Situation ist paradox: Freitodhilfe (egal durch wen und mit welchen Mitteln) ist in Deutschland kein Straftatbestand - anders als z. B. in den Niederlanden (wo sie wie die Tötung auf Verlangen nur Ärzten unter bestimmten Kontrollbedingungen erlaubt ist). Wir haben also die liberalste Voraussetzung zur Zulassung von Freitodhilfe, aber keine ausgewiesene Praxis – wiederum anders als in etlichen unserer Nachbarländer.

Hauptgrund ist die bisher fortdauernde, jahrzehntelange Tabuisierung – verbunden mit Sprachlosigkeit und mangelnder Bereitschaft von Ärztinnen und Ärzten. Im Ergebnis hat die deutsche Bevölkerung keinen regulären Zugang zu entsprechenden Hilfsangeboten zum vorzeitigen Sterben, obwohl sich in repräsentativen Umfragen stetig etwa drei Viertel der Befragten für diese Möglichkeit aussprechen. Bürger/innen stellen zunehmend die Forderung, dass sich doch gesetzlich dringend etwas ändern müsse.

Auf der anderen Seite geht der politischen Klasse die wachsende Enttabuisierung der Suizidhilfe zu weit, sie will ihr einen Riegel vorschieben. Wie aber der Bevölkerung weismachen, dass sie vor sich selbst geschützt werden müsse? Die Mittel sind – medial unterstützt – neben Desinformation und Tatsachenverdrehung vor allem die Skandalisierung der inzwischen auch in Deutschland tätigen Vereine, die ihren Mitgliedern "organisierte" Hilfe zur Selbsttötung anbieten. Die allgemeine Verwirrung macht es populistisch argumentierenden Suizidhilfegegnern leicht. Deren Botschaften lauten im Wesentlichen: Es soll ärztliche Suizidassistenz bei ganz extremem Leiden und beschränkt auf eine todesnahe Situation geben – untersagt werden soll zukünftig jedoch die "organisierte" Suizidhilfe, vor allem durch den Verein SterbehilfeDeutschland. Auch von unbedingt zu verbietender "geschäftsmäßiger" Suizidhilfe ist die Rede (was nichts anderes heißt als wiederholt durchgeführte - selbst wenn sie unentgeltlich ist). V.a. von politischer und kirchlicher Seite wird die Sorge vermittelt, dass mit dem schnellen Tod Lebensmüder und Gestrandeter Geld verdient werden könnte. Dies bedient vorhandene Ressentiments und Ängste vor einer zunehmenden Kommerzialisierung, wobei eine Entsolidarisierung der Gesellschaft ja tagtäglich zu erleben ist.

Wer aber vermeintliche Missbrauchsgefahren beschwört, verwirft im Grunde den Suizid an sich und die Hilfe dazu. Dies wird an der neuesten medizin-ethischen Theorie von Roland Kipke ziemlich offensichtlich. Warum aber sein neues Argument "ethischer Inkonsequenz", welches sich auf das (doch für die Suizidhilfe-Befürworter zentrale) Selbstbestimmungsrecht zu stützen vorgibt? Hintergrund dürfte sein, dass die bisher vorgebrachten Argumentationsfiguren wie das "Leben als Gottesgeschenk" oder der angeblich vorprogrammierte "Dammbruch" sich als nicht mehr hinreichend überzeugend erwiesen haben.

Kipke führt vor, dass das bloße Selbstbestimmungsargument gar nicht konsequent durchzuhalten ist und die Sterbewilligen sich ja letztendlich für sie peinlichen Prüfverfahren zu unterwerfen hätten (wie psychiatrische Untersuchung, Zweitgutachten, Nachvollziehbarkeit des Todeswunsches u.ä.). Es wären solche Einschätzungen von außen über das "Leidensmaß" anderer Menschen, so Kipke, die in so auffälligem Kontrast zur antipaternalistischen Haltung der Befürworter stehen. Und das würde ihre Position "so eklatant widersprüchlich" machen. Kipke begibt sich damit offensiv auf das gegnerische Terrain der Suizidhilfebefürworter. Diese zeigen sich demgegenüber als schwach und unvorbereitet. Denn sie haben bisher wohl weislich vermieden, zu genau darauf zu schauen, ob wirklich jeder Erwachsene gleichermaßen ein Recht auf Freitodhilfe beanspruchen können soll.

Wer hätte gedacht, dass ein philosophischer Theoriestreit um "ethische Inkonsequenz" so weitreichende Folgen auf Politik und Gesetzgebung hat? Ich jedenfalls nicht. Ein kürzlicher Besuch einer SPD-Veranstaltung zur beabsichtigten neuen Suizidhilferegelung belehrte mich eines Besseren. Im Rathaus Berlin-Charlottenburg stellte die für einen Gruppenantrag zuständige Dr. Eva Högl (SPD) ihre Position zur Ablehnung einer "regulärer", normaler werdenden Suizidhilfe vor. Die interessierten Bürgerinnen und Bürgern schienen mit Högl weitestgehend einverstanden. Jedenfalls war von der repräsentativen Dreiviertel-Mehrheit der Bevölkerung, die doch auch eine gezielte Leidensverkürzung für sich in Anspruch nehmen möchte, keine Spur. Eingeladen hatte der Bundestagsabgeordnete Sven Schulz, ein bekennender Humanist, der das Gespräch mit dem Publikum auch moderierte. Dieses wurde zur Beteiligung ausdrücklich aufgefordert und machte davon auch stark Gebrauch. Am Schluss zeigte sich Schulz (SPD) völlig unschlüssig: Er wisse nur, dass er für Selbstbestimmung einträte, aber nicht, wie er in deren Namen denn nun im Herbst bei den verschiedenen Gruppenanträgen abstimmen solle. Was war zwischenzeitlich geschehen? Högl und ähnlich wie sie Argumentierende tragen zu einer Vernebelung und Begriffsverwirrung bei, die durchaus an Tatsachenverdrehung und Unwahrheit grenzt. Dies wird als feste, persönliche Überzeugung unaufgeregt, leutselig und sich als moderat ausgebend vorgetragen.

Högl macht zunächst ausführlich deutlich, dass es Ärzten – wie bisher – erlaubt bleiben soll, in ausgewiesenen Grenzfällen schwersten Leidens ihrem Gewissen zu folgen. Das ist doch gar nicht schlecht, denkt daraufhin (nicht nur) der Laie. Wie ist es aber möglich, dass Högls dann auch vorgestellter restriktiver Position gegen die insbesondere von SterbehilfeDeutschland angebotene Suizidhilfe nichts entgegengesetzt wird? Ist das Publikum zu verwirrt, vereinnahmt oder unkritisch, um der "tiefen Überzeugung" von Högl zu widersprechen - die besagt, dass die Hilfe zur Selbsttötung "niemals zum Geschäft" werden dürfe? Die Suizidhilfe-Gegner/innen haben ihre Rhetorik und Strategie verfälschender Behauptungen so verfeinert, dass deren Ungereimtheiten kaum durchschaubar sind. Dabei sind solche, wenn man nur einmal nachliest, eigentlich offensichtlich: Eva Högl hat gemeinsam mit ihrer Parteifreundin Kerstin Griese (kirchenpolitische Sprecherin der SPD) ein Positionspapier verfasst, in welchem sie sich als Vertreterinnen eines "dritten Weg" empfehlen. Allerdings bleibt dem Publikum verborgen, dass niemand in der Suizidhilfe-Debatte einen der beiden im Papier genannten Extrempositionen vertritt: Diese wären – wie es dort heißt – gekennzeichnet durch ein "Verbot aller Maßnahmen am Lebensende, die das Sterben erleichtern, auf der einen Seite" und durch eine "Öffnung und Ausweitung von aktiver Sterbehilfe bis zur Legalisierung der Tötung auf Verlangen auf der anderen Seite."

Doch nun endlich zum neuesten "Trick", der Argumentationsfigur der ethischen "Inkonsequenz". Bei der Berliner Veranstaltung fungierte ein Herr aus dem Publikum quasi als Stichwortgeber für Högl mit der folgenden Geschichte: Er selbst habe eine vollständig gelähmte, lebensmüde Patientin gekannt. Da diese gar keinen Suizid mehr hätte begehen können, wäre es doch eine große Ungerechtigkeit, wenn demgegenüber unheilbar Schwerkranke ärztliche Hilfe dazu in Anspruch nehmen könnten. Aha, hier hat sich doch noch ein radikaler Anhänger "aktiver Sterbehilfe" zu Wort gemeldet, konnte man zunächst vermuten. Doch weit gefehlt. Im Laufe des Dialogs mit Högl auf dem Podium kam heraus: Beide waren sich einig, dass eine geregelte ärztliche Suizidhilfe strikt abzulehnen sei – eben wegen dieses ethischen Problems der Ungerechtigkeit. Ethisch konsequent sei es doch, allen den Zugang zur Suizidhilfe zu gewähren und - und wer sich selbst nicht (mehr) töten könnte, dann eben die Tötung auf Verlangen. Deren Zulassung sei also die zwangsläufige Folge der Suizidhilfe, auch wenn diese zunächst nur für tödlich Erkrankte gelten solle. Ein "sauberer" Unterschied zwischen Assistenz zur Selbsttötung und Tötung auf Verlangen (die natürlich abzulehnen sei) existiere nicht. Offenbar hat man sich auf der von mir besuchten Veranstaltung schon den "letzten Schrei" der Medizinethik zu eigen gemacht, den diese zur Ablehnung von Suizidbeihilfe zu bieten hat: Nämlich dass eine Zulassung des ärztlich assistierten Suizids nach sehr restriktiven Kriterien (wie ihn Karl Lauterbach, Carola Reimann und Peter Hintze nur für tödlich Erkrankte vorschlagen) inkonsequent, inhuman und ungerecht wäre.