Missbrauchsskandal in der katholischen Kirche

Systemisches Versagen von Kirche und Justiz

Im September enthüllte eine Studie das Ausmaß des Missbrauchs in der deutschen katholischen Kirche. Doch von den Staatsanwaltschaften blieb die Kirche bislang trotzdem weitgehend unbehelligt. Eine unangemessene Sonderbehandlung, finden Strafrechtsexperten.  

Als in diesem Jahr in Chile das Ausmaß des dortigen Missbrauchsskandals in der katholischen Kirche und dessen Vertuschung durch kirchliche Würdenträger ans Tageslicht kam, machten die Behörden Nägel mit Köpfen. Im August durchsuchten sie die Räume der Chilenischen Bischofskonferenz und beschlagnahmten Akten.

Als einen Monat später in Deutschland eine Studie das Ausmaß des Missbrauchs in der deutschen katholischen Kirche offenbarte, geschah nichts. Sexueller Missbrauch ist ein sogenanntes Offizialdelikt, das heißt eine Straftat, die von der Staatsanwaltschaft von Amts wegen verfolgt werden muss. Nach Veröffentlichung der Missbrauchsstudie blieben die deutschen Staatsanwaltschaften jedoch weitgehend untätig.

Da die Justiz nicht von sich aus aktiv wurde, verfassten Ende Oktober sechs renommierte Strafrechtprofessoren in Verbindung mit dem Institut für Weltanschauungsrecht (ifw) eine Strafanzeige, die sie allen, für die 27 katholischen Diözesen in Deutschland zuständigen Staatsanwaltschaften zukommen ließen. Sie stellten hierin im Zusammenhang mit der zuvor veröffentlichten Missbrauchsstudie Anzeige gegen Unbekannt wegen Verdachts des sexuellen und schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern. Da den Wissenschaftlern für ihre Studie von der Kirche nur anonymisierte Informationen zur Verfügung gestellt worden waren, müsse vermutet werden, dass sich unter den Missbrauchsfällen auch nicht-verjährte Fälle befinden – "ein zwingender Anlass für Ermittlungen von Polizei und Staatsanwaltschaft", zumal "die inzwischen vorliegenden tatsächlichen Anhaltspunkte für eine Straftat (…) bei weitem die Schwelle für die Annahme eines Anfangsverdachts" überschritten, so die Strafrechtler. Aus ihrem Unmut, dass die Strafverfolgungsbehörden bislang nicht von sich aus in Aktion getreten waren, machten sie keinen Hehl:

"Es überrascht, wie zurückhaltend Staat und Öffentlichkeit (bislang) mit dem alarmierenden Anfangsverdacht schwerer Verbrechen umgehen. Das hat seinen Grund möglicherweise in einer vielfach herrschenden intuitiven Vorstellung von der sakrosankten Eigenständigkeit der Kirche. (…) Dabei ist die Rechtslage in Deutschland eindeutig: Es gibt für die Kirche und ihre Priester keine grundsätzlichen Ausnahmen von der Strafverfolgung wie etwa bei der Immunität von Parlamentariern oder Diplomaten. Es gibt auch kein Recht der Kirche (etwa unter Hinweis auf das Kirchenrecht und die eigene Strafgewalt), ihre Institution von strafrechtlichen Eingriffen freizuhalten."

Was ist seitdem geschehen? Nicht viel. Laut der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) haben seit Ende Oktober vier Staatsanwaltschaften Ermittlungen gegen unbekannt aufgenommen und 20 Staatsanwaltschaften prüfen derzeit Anzeigen. Durchsuchungen oder Beschlagnahmungen hat es laut FAZ bisher nicht gegeben. Bemerkenswert auch die Art und Weise, in der zumindest einige Staatsanwaltschaften mit der Materie umgehen. Die Staatsanwaltschaft Münster beispielsweise traf sich laut WDR mit dem Generalvikar des Bistums, "um die weiteren Schritte zu besprechen".

Ein erstaunliches Vorgehen. Man stelle sich vor, namentlich noch unbekannte Mitarbeiter einer Firma stünden unter Verdacht, eine schwere Straftat begangen zu haben, und die Firma selbst unter Verdacht, diese Straftaten in großem Ausmaß vertuscht zu haben. Es ist zu bezweifeln, dass die Staatsanwaltschaft in diesem Fall mit dem Geschäftsführer beim Kaffee das weitere Vorgehen besprechen würde. Eine sofortige Razzia zur Sicherung von Beweismitteln wäre hier wohl das übliche Mittel der Wahl. Bei jeder normalen Firma. Offenbar jedoch nicht bei der Kirche.

Doch die sechs Strafrechtsprofessoren und das Institut für Weltanschauungsrecht (ifw) lassen nicht locker. Am 5. Dezember haben sie nun bei der Staatsanwaltschaft Tübingen ihre ursprüngliche Strafanzeige vom 26. Oktober ergänzt.

Auf eine frühere Presseanfrage hatte die Staatsanwaltschaft laut SWR erklärt, dass die Missbrauchsstudie nicht ausreichend sei, um Ermittlungen einzuleiten. In der SWR-Fernsehsendung "Zur Sache Baden-Württemberg. Missbrauch in der Katholischen Kirche" vom 29. November 2018 hatten sich jedoch neue Tatverdachtsgründe ergeben. In die Sendung war Matthäus Karrer in seiner Funktion als Weihbischof und damit als hochrangiger Vertreter der Diözese Rottenburg-Stuttgart als Studiogast interviewt worden. "SWR-Moderator Clemens Bratzler zeigte live im Studio, dass sogar mehr als zwei Monate nach Veröffentlichung der Missbrauchsstudie und über einen Monat nach Einreichung der Strafanzeige schon allein mit den Mitteln einer journalistischen Interviewtechnik mit klaren und konkreten Nachfragen Hinweise auf neue Tatverdachtsgründe zu erlangen sind", heißt es auf der Webseite des Instituts für Weltanschauungsrecht (ifw). Unter anderem sagte Karrer in dem Interview, dass ihm bekannt sei, dass Täter intern versetzt  wurden, dass die Diözese die "Institution geschützt und die Opfer geschädigt" habe und sie "systemisches Versagen" festgestellt hätten.

Die relevanten Aussagen Karrers in der Fernsehsendung sowie weitere Aussagen von Bischof Gebhard Fürst im Schwäbischen Tagblatt führen die Strafrechtsprofessoren in der Ergänzung ihrer Anzeige auf. Für sie steht nach diesen Aussagen fest, "dass 'eine ganze Reihe' von Fällen des sexuellen Missbrauchs nach § 176 ff. StGB in der Diözese Rottenburg-Stuttgart bewusst nicht der staatlichen Strafverfolgung zugeführt worden sind". "Die dafür notwendigen Beweismittel", heißt es in der Ergänzung der Anzeige weiter, "sind aufgrund der Angaben der Leitung der Diözese offenkundig und können entsprechend beschafft werden".

Ob die zum Jagen getragenen Staatsanwaltschaften nun endlich aktiv werden, bleibt fraglich. Das Institut für Weltanschauungsrecht (ifw) stellt "mit Blick auf das Gesamtbild" derzeit jedenfalls fest:

"So wie sich die jüngste Entwicklung in Baden-Württemberg darstellt, dürfte sich das Wort vom 'systemischen Versagen' (Weihbischof im SWR) bei den Missbrauchsfällen nicht nur auf die Kirche beziehen, sondern die Justiz einschließen. Es ist überfällig, dass der Staat mit den gebotenen Mitteln der Strafverfolgung auch bei der katholischen Kirche handelt."