Philosophie: Sieben beliebte und weitverbreitete Irrglauben

Philosophische Gedankengebäude werden interessanter, je komplexer sie ausfallen, doch das birgt auch Gefahrenpotenziale. Ein kleines Missverständnis im Fundament und so ein Haus kann über einem zusammenbrechen. Viele dieser Fehlinterpretationen sind derart geläufig, dass sie ihrer korrekten Lesart den Rang ablaufen, manchmal sogar im Schulunterricht gelehrt oder von Populärphilosophen verbreitet werden. Eine Auswahl der sieben klassischsten und beliebtesten Falschdeutungen.

Der Utilitarismus erlaubt unmenschliche Taten

Neben den deontologischen Ethiken ist der Utilitarismus ein Standard-Archetyp der Moralphilosophie, welcher oftmals auch vollkommen philosophiefremden Personen ein vager Begriff ist. Eine Handlung ist dann ethisch, wenn sie dem größtmöglichen Glück der größtmöglichen Anzahl an Menschen dient. Dieser Appell wird nur zu gern in radikaler Naivität interpretiert und mit allerlei überwältigenden Abschreckungsbeispielen illustriert: Darf man dann einen gesunden Menschen töten, um mit seinen Organen fünf andere Patienten zu retten? Und darf eine Minderheit diskriminiert werden, wenn es den Zusammenhalt der Mehrheit stärkt?

Doch so kurzdenkerisch ist kaum ein Utilitarist. Wenn Ärzte beispielsweise Patienten ermorden dürften, um Leben zu retten, würde sich niemand mehr trauen, einen Arzt aufzusuchen. Das hätte fatale Konsequenzen! Und wer dieses Ethikmodell als Vorwand gebrauchen will, Diskriminierung zu rechtfertigen, sollte sich daran erinnern, dass eine legitimierte Verfolgung von Minderheiten in der Geschichte die größten aller Katastrophen hervorgebracht hat – für alle.
Im Gegensatz zu seinem Ruf beachtet der Utilitarismus vordergründig die Folgen von Entscheidungen für die Gesamtgesellschaft – insbesondere dann, wenn diese Entscheidungen zur gesellschaftlichen Norm werden. Den Einzelfall zu betrachten, als gäbe es kein Drumherum, ist keine utilitaristische Hausmarke.

Kant und die goldene Regel

Jeder kennt ihn zumindest der Bezeichnung nach: Den kategorischen Imperativ. In der Kurzform: "Handle so, dass die Maxime deiner Handlung zum allgemeinen Gesetz werden könne." Verdächtig ähnlich klingt da die ethische Königsdisziplin jeder Vorschulgruppe, die sogenannte goldene Regel: "Was du nicht willst, dass man dir tu', das füg auch keinem andern zu!" Doch zwischen diesen Aussagen liegen Welten.

Die goldene Regel empfiehlt zu antizipieren, ob es einem gefiele, wenn andere einen so behandelten, wie man selbst mit ihnen umgeht. Man wird also ermutigt, über die Konsequenzen nachzudenken, wenn "alle das so täten". Doch die Konsequenzen sind in Kants Moralphilosophie wohl die zentrale Sache, welche vollkommen egal ist. Und wie man die Dinge gefühlsmäßig so empfindet oder wünscht ist in der gesamten kantianischen Philosophie ohne Belang.

Im Kategorischen Imperativ geht es darum, ob eine Maxime (also der Handlungsgrundsatz) verallgemeinert werden kann. Egal, ob man es gut oder schlecht fände, wenn dies tatsächlich passieren würde. Es soll überprüft werden, ob eine Verallgemeinerung logisch denkbar ist oder ob dies in formale Widersprüche führt. Diebstahl ist bei Kant nicht erlaubt, weil man den Begriff des Eigentums einmal voraussetzt, denn das Diebesgut soll ja eigener Besitz werden, und gleichzeitig widerruft, weil die Sache dem anderen unfreiwillig verloren geht. Dies ist logisch kontradiktorisch. Ob man es aber gutheißen würde, selbst bestohlen zu werden, interessiert Kant nicht die Bohne.

Epikur und der Hedonismus

Erinnern Sie sich noch daran, als Ihr Philosophielehrer Epikur als Urvater des Hedonismus vorgestellt hatte? Nun, Sie wurden belogen! Epikur war mitnichten Hedonist. Im klassischen Hedonismus geht es darum, so zu handeln, dass einem möglichst viel Sinnesfreude zuteilwird. Dies mag gutes Essen, Alkohol oder Sex sein: Was unmittelbares Glück hervorruft, ist gut. Natürlich wissen sich aber auch die hedonistischen Philosophen zu beschränken: Dass dies nicht alles im Leben ist, und Maßlosigkeit schnell in unsagbares Unheil ausarten mag, ist auch ihnen nicht fremd.

Epikur jedoch hatte so gar nichts mit den Hedonisten am Hut. Ihm ging es nicht darum, das rauschvolle Glück zu suchen, sondern darum, das Leid zu meiden. Das richtige Leben bestand für Epikur in der Leidfreiheit, insbesondere in der Angstlosigkeit. Das Ziel des Lebens sollte daher ihm zufolge nicht die Ektase sein, sondern die innere Ruhe. Wohl das genaue Gegenteil des hedonistischen Ideals! Die Abwesenheit von Leid und die Anwesenheit von Sinnesfreude sind bestenfalls entfernte Verwandte!

Hold my beer: Es gibt kein richtiges Leben im Falschen

Die wohl bekannteste Adorno-Floskel scheint zugleich die missverständlichste zu sein, wenn einem der Kontext nicht geläufig ist. Wer eine Dummheit mit den Worten "Es gibt kein richtiges Leben im Falschen" einleitet, sollte seine Lektüre auffrischen! Die naheliegende Deutung, dass "richtiges Leben" unter gegebenen falschen Rahmenbedingungen ohnehin unmöglich sei, und man deshalb genauso gut auf den Putz hauen könne, ist ziemlich genau das Gegenteil der intendierten Aussage. In der Tat attestiert Adorno die Unmöglichkeit davon, in einer amoralischen, dystopischen Gesellschaft einen Rückzug in die Privatwelt zu tätigen, um dort unbescholten der äußeren Gegebenheiten eine moralisch richtige Sphäre zu schaffen. Die Ungerechtigkeit der Außenwelt wirkt immer massiv auf die private Ebene ein. Aber das befreit niemanden von der Gültigkeit der Kategorien "richtig" und "falsch", diese bleiben bestehen. Was falsch ist bleibt falsch, auch angesichts der Unmöglichkeit, sich vollständig richtig zu verhalten. Die Sentenz ist kein Aufruf, sondern eine Diagnose: Ein Arzt, der einem eine unheilbare Krankheit bescheinigt, möchte damit auch nicht suggerieren, dass diese Erkrankung in irgendeinem Sinne etwas Wünschenswertes sei. Wer sich durch die Aussichtslosigkeit auf ein "richtiges" Leben von seiner Pflicht dazu entbunden fühlt, hat Adorno nicht verstanden.

Sokrates weiß, dass er nichts weiß

Vorneweg: Das hat Sokrates (vermutlich) nie gesagt! Zumindest nicht buchstäblich. Dennoch ist dieser Ausspruch anscheinend der alternativlose Einstiegspunkt in das weite Feld der philosophischen Epistemologie, die Frage nach dem Erkennen- und Wissen-Können. Doch würde Sokrates, vom Orakel zu Delphi vermeintlich als weisester Mann der Welt ausgerufen, wirklich so weit gehen? Dem aufmerksamen Leser mag zudem der Gedanke gekommen sein: Wenn man weiß, dass man nichts weiß, weiß man dann nicht eben doch etwas? Wie so oft ist der Kontext entscheidend, wenn man herausfinden möchte, was es mit einem solchen Slogan auf sich hat.

Sokrates zog es in vielerlei Hinsicht ins Metaphysische. Ihn interessierten die großen Worte: Gerechtigkeit, Mut, Stolz, das Gute höchstselbst. Außerdem liebte Sokrates den Dialog, der bekanntermaßen immer in einer Aporie endete, also in der Erkenntnis, zu keiner befriedigenden Antwort zu gelangen. Sein Nicht-Wissen bezieht sich auf diese "höchsten Dinge", wie Platon es später formulierte. Nicht aber auf die kleinen Dinge des Alltags. Wenn man Sokrates also schon Worte in den Mund legen möchte, wäre eine fairere Formulierung also: "Ich weiß, dass ich über die abstrakten großen Dinge nichts weiß."

Die Position, dass grundsätzlich nichts – also auch keine trivialen Dinge – mit Gewissheit zu Wissen sei, findet erst viel später durch Descartes seinen Eingang in die Philosophiegeschichte.

Peter Singer ist ein Psychokiller

Das schwere Los, der wohl missverstandenste aller Philosophen zu sein, gebührt vermutlich Singer. Was wird der arme Mann als Menschenfeind geschimpft!
Die Betätigungsgebiete Singers sind zwar vielseitig, aber prominent ist wohl seine Position in Fragen der Sterbehilfe. Für ihn ist klar: Es gibt lebenswertes und nicht-lebenswertes Leben, und ein Leben ohne Wert kann beendet werden. Wer einen allerersten Blick auf diese These wirft, wird wohl einen augenblicklichen inneren Widerstand spüren, womöglich an die Euthanasieprogramme der Nazis denken oder sich darum sorgen, dass Singer einem demnächst die Oma zerhackt. Behindertenverbände aller Welt haben sich gegen Singer positioniert, weil sie sich von ihm im Leben bedroht fühlten. Doch es lohnt sich ein zweiter Blick, denn hinter der plakativen Glosse steckt etwas gänzlich anderes.

Wer sich durch Singer angegriffen fühlt, möchte offenbar leben. Wer leben möchte, ist nicht Adressat seiner Position. Niemand soll gegen seinen Willen sterben müssen, eher soll jeder sterben dürfen, wenn es dem Willen dieser Person entspricht. In der Tat befürwortet Singer auch das Sterbenlassen von Menschen, die derart großem Leid ausgesetzt sind, dass ihnen die Möglichkeiten fehlen, den eigenen Sterbenswunsch zu artikulieren. Etwas Ähnliches gilt auch für ungeborene Babys oder hirntote Menschen; doch für all jene, die willens und imstande sind, ein Leben (welcher Art auch immer) zu führen, besteht kein Grund zur Sorge.

Niemals hat Singer gefordert, dass irgendjemand sterben soll oder gar muss. Es geht ihm darum, dass das Sterben nicht immer um jeden Preis hinausgezögert werden darf, wenn diese Lebensverlängerung unsägliches Leid für den Patienten bedeutet oder ohne dessen Zustimmung geschieht.

Das befreit jedoch nicht von der Pflicht, Singers Philosophie kritisch zu betrachten: Insbesondere in den letzten Jahren hat Singer vereinzelt plumpe bis behindertenfeindliche Sprüche geklopft, etwa die Behauptung aufgestellt, Suizid sei als kranke Person die vernünftige Entscheidung, um der Gesellschaft nicht zur Last zu fallen.

Voltaire ist der Vater der Aufklärung

Vergessen Sie alles, was Sie über Voltaire zu wissen glauben. Ganz im Ernst: 90 Prozent aller populären Voltaire-Zitate sind frei erfunden (ja, auch diese "Ich verachte Ihre Meinung, aber ..."-Chose), und seinem Image als Wegbereiter der Aufklärung wird er auch nicht gerecht. Eher sprechen wir über einen Rassisten, einen Advokaten der Sklaverei, einem Antisemiten oberster Liga, darüber hinaus verdammte er kranke Menschen und verabscheute die Armen, deren Armut er nicht nur für unveränderbar, sondern auch für wünschenswert erachtete. Seine Lieblingsstaatsform war explizit die Monarchie, und wenn er jetzt noch Freund der Kirche gewesen wäre, hätte der Graben zwischen ihm und den Kerngedanken der Aufklärung nicht mehr breiter sein können. Glücklicherweise sind uns die meisten seiner Ideen erspart geblieben.

Darüber hinaus: Selbst wenn Voltaire aufklärerische Positionen vertreten hätte, wäre er nie und nimmer ein zentraler Protagonist dieser Bewegung gewesen. Sein Denken war unsystematisch, sein Schreiben populär-publizistisch, und neuartige philosophische Gedanken sucht man bei ihm vergebens.