MIZ 4/18 erschienen

100 Jahre Waldorfschule

Mit der umstrittenen Waldorfpädagogik und der dahinterstehenden Anthroposophie Rudolf Steiners setzt sich das neue Heft der MIZ auseinander. Vor 100 Jahren wurde von einem Industriellen die erste Waldorfschule eingerichtet, heute gibt es alleine in Deutschland über 200. Anlass genug, einen kritischen Blick auf Steiners Weltanschauung und ihre sogenannten Praxisfelder zu werfen.

Im Editorial verweist Gunnar Schedel darauf, dass die Anthroposophie aufgrund ihrer "niedrigschwelligen" Angebote in den Bereichen Kindererziehung, Bio-Lebensmittel und Alternativmedizin eine moderne Religion ist. Lange bevor der "religiöse Supermarkt" die vorherrschende Angebotsform wurde, waren die Angebote der Anthroposophen bereits marktkompatibel (zumindest, was die anvisierte soziale Schicht anging). Inhaltlich hingegen bestehe zwischen Steiners Vorstellungswelt und dem, was heute über die Welt bekannt ist, eine große Diskrepanz, denn erste fuße auf dem Okkultismus des 19. Jahrhunderts. So seien die in der anthroposophischen Bewegung Aktiven als "moderne Reaktionäre" einzustufen.

Geisteswissenschaft und Waldorfpädagogik

Dass es sich bei Steiner lohnt, genau hinzusehen, was mit den von ihm verwendeten Begriffen gemeint ist, verdeutlichen die Beiträge von Ansgar Martins und Ann-Kathrin Hoffmann. Wenn Steiner von einer "wissenschaftlichen Erforschung der geistige Welt" oder gar "naturwissenschaftlicher Methode" spricht, hat dies nichts mit intersubjektiv nachvollziehbarer Forschung zu tun. Im Gegenteil, die anthroposophische "Geisteswissenschaft" zeichnet sich durch eine ausdrückliche Ablehnung von Intellektualität aus, was bis in die "Lehrpläne" der Waldorfschulen durchschlägt.

André Sebastiani weist auf einige Probleme der Waldorfpädagogik hin. Er stellt diese als ausgesprochene Schubladenpädagogik dar, die den Bedürfnissen heutiger Schülerinnen und Schüler nicht gerecht wird. Weder die Vorstellungen von Schicksal und Karma noch die Einteilung der Kinder in die "Temperament"-Gruppen oder die angebliche Abfolge grundlegender Lernprozesse in Siebenjahres-Schritten hielten einem kritischen Blick stand. Ein deutliches Zeichen für die in Waldorflehrerkollegien vorherrschende Realitätsferne sieht Sebastiani auch darin, dass immer wieder Berichte über extrem rechte Lehrkräfte auftauchen, die über Jahre unbemerkt an Waldorfschulen lehren.

Mistelkraft und Impfverweigerung

Ein anderes anthroposophisches "Praxisfeld" ist die Medizin. Colin Goldner erläutert die zugrunde liegenden Auffassungen und stellt einige Medikamente, am bekanntesten wohl die gegen Tumorerkrankungen eingesetzten Mistelpräparate, vor. Doch nicht nur die Arzneimittel, auch die angenommenen Krankheitsbilder ("Präkanzerose") und Diagnosemethoden erweisen sich bei genauer Betrachtung als untauglich.

Während die Einnahme anthroposophischer Medikamente meist nur Folgen für die Betreffenden hat, zieht das Engagement anthroposophisch orientierter Ärzte für eine "eigenverantwortliche Impfentscheidung" gesamtgesellschaftliche Auswirkungen nach sich. Natalie Grams setzt sich in ihrem Artikel vor allem kritisch mit der Idee auseinander, eine durchlittene Kinderkrankheit bringe für die Jungen und Mädchen einen "Entwicklungsschub".

Neutralität und Privilegien

Zwei Beiträge reflektieren die zu erwartenden Folgen jüngster Gerichtsurteile. Jacqueline Neumann kritisiert das Urteil des Berliner Landesarbeitsgerichts, das einer Lehrerin eine Entschädigung zusprach, die nicht eingestellt wurde, weil sie schon beim Einstellungsgespräch klarstellte, dass sie nur mit Schleier arbeiten würde. Durch seine Bezugnahme auf einen "Schulfrieden", der im Gesetzestext nicht vorkommt, habe sich das LAG zum "Ersatzgesetzgeber" aufgeschwungen und sich zudem in Widerspruch zum Europäischen Gerichtshof gesetzt. Grundsätzlich sieht Neumann das Berliner Neutralitätsgesetz als "vorbildliche Rechtsnorm", das durch das Urteil nicht infrage gestellt werde.

Auch beim kirchlichen Arbeitsrecht befindet sich die deutsche Regelung noch nicht in Einklang mit den europäischen Vorgaben. Hier allerdings deutet das einschlägige aktuelle Urteil des Bundesarbeitsgericht darauf hin, dass sich dies nun ändern könnte. Denn erstmals wurde eine kirchliche Einrichtung verurteilt, einer aufgrund ihrer Konfessionslosigkeit nicht eingestellten Bewerberin eine Entschädigung zu zahlen.

Islamunterricht und Kirchenfinanzen

Mit der im Sommer anstehenden Änderung des Gesetzes über den Islamischen Religionsunterricht in NRW befasst sich Vera Muth. Sie arbeitet heraus, wie der Muttersprachliche Unterricht, bei dem es den Lehrkräften freigestellt war, ob sie die Unterrichtseinheit Islam lehrten oder nicht, in einen Religionsunterricht überführt wurde – ohne dass es eine Religionsgemeinschaft gibt, der ein solcher Unterricht verfassungsgemäß zusteht. Dahinter stehen, was sich bis in die 1980er Jahre zurückverfolgen lässt, konservative islamische Gruppierungen sowie kirchennahe Politiker, die das gesamte System der Privilegierung von Religionsgemeinschaften erhalten wollen, indem es auf islamische Organisationen ausgeweitet wird.

Gerhard Rampp stellt die jüngste Entwicklung in Griechenland vor, wo die Regierung im Bereich der Finanzierung der orthodoxen Kirche durch den Staat etwas mehr Trennung durchsetzen möchten. Der jetzt vereinbarte Deal sieht jedoch nach einer Mogelpackung aus.

Pakistan und Iran

Eine Bilanz nach 40 Jahren "Islamischer Republik" zieht in einem Interview Pegah Amini, die in der Iranian Secular Democratic Party aktiv ist. Sie gelangt zu der Einschätzung, dass die Mehrheit der im Iran lebenden Menschen sich eine "säkulare und demokratische" Regierung wünscht.

Mahmudul Haque Munshi stellt in seinem Beitrag die bengalische Bloggerin Durba Zahan vor, deren Vater im Sommer aufgrund seines öffentlichen Bekenntnisses zum Atheismus auf offener Straße erschossen wurde, und die sich derzeit auf Einladung des Internationalen Bundes der Konfessionslosen und Atheisten in Deutschland aufhält.

Um Kunst und Kritik geht es schließlich im Interview mit Jacques Tilly.

Daneben gibt es noch die Rubriken Netzreport und Internationale Rundschau, die Glosse Neulich... (diesmal aus dem Whisky-Fass) und eine Buchbesprechung.

Da die Webseite der MIZ derzeit von Grund auf neu gestaltet wird, finden Sie mehr zum aktuellen Heft auf der Webseite des Alibri-Verlags.