Schweiz

Warum gibt es keine Kirchenrebellen mehr?

MOOSSEEDORF/CH. (hpd) Gegen den Willen seines Bistums hat ein Schweizer Pfarrer ein gleichgeschlechtliches Paar gesegnet. Statt sich weiter für seine Überzeugung einzusetzen und damit eine Versetzung zu riskieren, missachtet er die Solidarität von fast 44.000 Schweizerinnen und Schweizern, lenkt ein und waltet seines Amtes künftig mit einem Maulkorb. Kein Einzelfall: Die Gattung "Kirchenrebell" ist schon seit der Reformation in Europa vom Aussterben bedroht.

Keine andere Institution auf der Welt wird so oft, so scharf und so leidenschaftlich kritisiert wie die katholische Kirche. Forderungen nach Reformen und Wünsche nach einer liberaleren Kirche erreichen den Vatikan und die Außenstellen des Heiligen Stuhls im Stundentakt. Angebracht werden die Beanstandungen dieser Tage primär von Konfessionslosen und Laien. Kircheninterne Kritik wird kaum noch wahrgenommen oder prallt spätestens an der theologisch geleiteten Erinnerung im Dienste des religiösen Gedächtnisses ab.

Fehlendes Verantwortungsgefühl

Aufgeschlossener Aktionismus ist dem starrem Folgen von angeblich zementierten Lehren des Patriarchats gewichen. Nicht nur bei Kardinal Gerhard Ludwig Müller, der Anfang Mai als Präfekt der Glaubenskongregation vor einer Anpassung der katholischen Lehre zur Ehe an den Zeitgeist in Europa gewarnt hat: "Die Kirche kann ihre Lehre über die Sakramentalität der Ehe nicht ändern." Sollte das effektiv die Mentalität der katholischen Obrigkeit widerspiegeln, stellt sich die Frage: Wer sonst, wenn nicht sie? Die Kirche wird seit jeher von Menschen gefestigt, geformt, verändert und weiterentwickelt.

Kuschende Kleriker

Ein Auswuchs dieser starren Lethargie zeigte sich jüngst in der Gemeinde Bürglen im Schweizer Kanton Uri. Der langjährige Pfarrer des 4000-Seelen-Dorfes, Wendelin Bucheli, erteilte im Oktober 2014 einem homosexuellen Paar den Segen. Als das zuständige Bistum Chur Wind davon bekam, legten sie dem Pfarrer einen Rücktritt nahe und drohten ihm gar mit einer Zwangsversetzung. Die Schweizer Bischofskonferenz bekräftigte im März dieses Jahres, dass die Segnung gleichgeschlechtlicher Paare abzulehnen sei. Die Segnung widerspreche der Lehre, und die Bischöfe könnten diese nicht ändern.

Aufgrund des immer frostiger werdenden, dogmatischen Winds aus dem Bistum Chur gab der Pfarrer klein bei und schoss die Solidaritätsbekundungen von fast 44.000 Laien, Konfessionslosen sowie einigen Kolleginnen und Kollegen, die für ihn in einer Onlinepetition Position bezogen haben, in ebendiesen Wind. Wendelin Bucheli entschied sich im Angesicht einer drohenden Versetzung für den Weg des geringsten Widerstands: die aufgezwungene kuriale Politik der ruhigen Hand anzunehmen. Maulkorb inklusive.

Beginn bei der Menschlichkeit

Der Aktionsradius der kirchlichen Spitze hängt stets von der Kooperationsbereitschaft der Ortskirchen ab. Trotzdem ist die gescheiterte Revolution nicht auf das schuldhafte Versagen eines Einzelnen zurückzuführen, der das Nagen an den Pfeilern noch vor der ersten Erschütterung einstellte. Es scheint sich eine immer offenkundigere und dramatischere Auslegungsverschiedenheit zwischen den überlieferten religiösen Deutungen und den Wahrnehmungen und Bedürfnissen der Öffentlichkeit und den unmittelbar Betroffenen eingestellt zu haben.

Solange sich Kleriker bei der angemessenen Entfaltung von der kirchlichen Hierarchie einschränken lassen, klemmen sie ihren menschlichen Eigeneinsatz für Versöhnung, Gemeinschaft und Frieden ab. Die zögernde Haltung wird zum Grunddilemma, das den aufgenommenen Kompromisscharakter des Zweiten Vatikanischen Konzils im Keim erstickt. Dadurch erleuchtet am Horizont nicht der dringend notwendige Paradigmenwechsel, sondern erlischt das Erinnerungsbild an eine obsolete Denktradition.