Coronavirus, Masern und die Grundrechte

Ob Quarantäne wegen Verdachts auf Infektion mit dem Coronavirus oder Impfpflicht gegen Masern – nicht allen Betroffenen gefallen solche staatlichen Eingriffe in das eigene Leben. Trotzdem sind sie notwendig und ihre gesetzliche Verankerung ist sinnvoll.

Im Allgemeinen fristet das Infektionsschutzrecht ein rechtswissenschaftliches Schattendasein. Auch im Alltag haben die meisten Menschen eher selten Berührungspunkte mit diesem Rechtsgebiet. Seit es die ersten Fälle von an Corona Erkrankten in Deutschland gibt, hat sich dies schlagartig geändert und auch die seit gestern geltende Masernimpfpflicht wird breit diskutiert. In den Medien finden sich vermehrt Artikel, die sich mit den Grundrechtseingriffen beschäftigen, zu denen die Behörden zur Eindämmung der Ausbreitung des Coronavirus berechtigt sind, und Impfgegner*innen haben eine Verfassungsbeschwerde gegen die Masernimpfpflicht auf den Weg gebracht. Alarmismus ist derzeit allerdings fehl am Platz, denn es geht bislang weder um rechtlich Neues noch um verfassungsrechtlich bedenkliches Handeln des Staates.

Gesundheitsrecht und Bevölkerungsschutz

Das Infektionsschutzrecht ist Teil des Gesundheitsrechts, auch wenn die meisten "Gesundheitsrecht" in der Rechtswissenschaft mit "Krankenversicherungsrecht" gleichsetzen. Anders als im Krankenversicherungsrecht steht im Infektionsschutzrecht nicht der Einzelne mit einer konkreten Krankheit und der individuellen Therapie im Vordergrund, sondern die Prävention übertragbarer Krankheiten (früher nannte man sie Seuchen). Schutzgut ist die öffentliche Gesundheit ("Public Health"), also die Gesundheit der Bevölkerung, früher auch "Volksgesundheit" genannt.

Das Infektionsschutzrecht als Gefahrenabwehrrecht

Am konkreten Beispiel des Coronavirus zeigt sich, was das heißt: Mit meinem Verhalten kann ich die Gesundheit meiner Mitmenschen gefährden, wenn ich etwa erkrankt mit dem ÖPNV ins Büro fahre, anstatt mich zu Hause auszukurieren. Bei einer hochansteckenden Krankheit, die noch dazu in manchen Fällen tödlich ist, ist es besonders wichtig, dass erkrankte Personen nicht auf Gesunde treffen. An dieser Stelle kommt nun das Instrumentarium ins Spiel, das das Infektionsschutzgesetz vorsieht. Es hat seine Wurzeln im Polizeirecht und ermächtigt mit (unter anderem) Meldepflichten, Tätigkeitsverboten und Quarantäneanordnungen zu gegebenenfalls weitreichenden Eingriffen in die Grundrechte der Bevölkerung. Manche Zeitungsberichte erwecken den Anschein, als sei man überrascht, dass in einem liberalen Rechtsstaat solche Eingriffe möglich sind.

Aber besteht nun tatsächlich ein "Super-GAU für Grundrechte in Zeiten des Corona" oder werden die Grundrechte "vom Coronavirus angegriffen"; ist es "bemerkenswert", dass Anordnungen auch gegenüber "Verdachtsfällen" ergehen können, die "nicht einmal Beschuldigte" sind? Ganz sicher nicht: Dass gegebenenfalls auch im Falle eines Verdachts gehandelt werden darf, ist für das Gefahrenabwehrrecht nichts Überraschendes, Beschuldigte gibt es nur im Strafrecht, und dass das Infektionsschutzgesetz die Grundrechte zitiert, die es einschränkt (dies wird hier, hier und hier hervorgehoben), ist verfassungsrechtlich vorgegeben und deswegen gerade nichts irgendwie Anstößiges. Tagtäglich greift der Staat in die Grundrechte der Bevölkerung ein; maßgeblich ist immer, zu welchem Zweck dies geschieht und ob die einzelnen Maßnahmen bezogen auf die konkrete Situation verhältnismäßig sind. Grundsätzlich sind Maßnahmen, die die Bevölkerung vor ansteckenden, gegebenenfalls tödlichen Krankheiten schützen sollen, leicht zu rechtfertigen. Weder zwei Wochen Quarantäne zu Hause bei einem konkreten Corona-Verdacht – zumal bei gesicherter Versorgung mit Nahrung, Medikamenten und W-Lan – noch das vorübergehende Schließen von Schulen und Kitas erscheint deswegen unverhältnismäßig. Kritisch würde es sicher, wenn der Staat ganze Regionen wie in China abriegelte, aber davon kann aktuell – abgesehen von sehr vagen Aussagen – keine Rede sein.

Masernimpfpflicht zum Schutz der Bevölkerung

Sobald eine Impfung gegen eine übertragbare Krankheit verfügbar ist, liegt der Fokus bei der Prävention darauf, über die Impfung großer Teile der Bevölkerung die Ausbreitung der Krankheit zu verhindern. Wird eine bestimmte Durchimpfungsrate erreicht, erhält der Bevölkerungsschutz eine neue Qualität und damit eine besondere Rechtfertigungsmöglichkeit: Es entsteht der sogenannte Herdenschutz. Durch den Herdenschutz (oder Herdenimmunität) sind auch diejenigen vor der Krankheit geschützt, die – etwa aufgrund einer Immunschwäche – nicht geimpft werden können. Impfungen gegen übertragbare Krankheiten sind deswegen nicht nur Selbstschutz für die Geimpften, sondern ein besonders bedeutsames Mittel des Bevölkerungsschutzes. Wird diese Durchimpfungsrate nicht erreicht, stellt sich für den Staat die Frage, wie er sie erhöhen kann. Wenn Aufklärung und Beratung nicht genügend Wirkung zeigen, kommt als letztes Mittel eine Impfpflicht in Betracht. Seit gestern gilt eine solche nun für die Masern – eine hochansteckende Krankheit mit potentiell tödlichem Ausgang, deren Ausrottung Ziel der WHO ist; die Durchimpfungsrate in Deutschland beträgt bei den Kindern, die im impffähigen Alter sind, statt der erforderlichen 95 Prozent nur 73,9 Prozent. Die Impfpflicht gilt für Kinder, die Gemeinschaftseinrichtungen wie Kitas und Schulen besuchen, für die Bewohner von Flüchtlingsunterkünften und das Personal in diesen Unterkünften und Einrichtungen sowie das Personal von Arztpraxen.

Auch die Impfpflicht stellt einen Eingriff in Grundrechte dar: in die körperliche Unversehrtheit der zu Impfenden, in die Berufsfreiheit des Personals und in das elterliche Erziehungsrecht jener Eltern, die die Masernimpfung ihrer Kinder verweigern. Insbesondere auf das Recht der Eltern wurde bei allen bisherigen Versuchen, die Impfpflicht für Kinder einzuführen, verwiesen; betroffene Eltern sind es nun auch, die sich gestern an das Bundesverfassungsgericht gewandt haben, weil sie den Grundrechtseingriff nicht hinnehmen wollen. Die Impfpflicht für Flüchtlinge, die in Gemeinschaftsunterkünften leben, wurde in der öffentlichen Debatte eher ignoriert.

Mit welchen Argumenten könnte man hier überhaupt den Bevölkerungsschutz aushebeln? Von der Impfpflicht betroffen sind Personengruppen, die sich auf engstem Raum aufhalten, und im Falle der Kinder in Tageseinrichtungen zum Teil auch Personen, die noch nicht geimpft werden dürfen (wenn sie jünger als elf Monate alt sind) und somit in besonderem Maße auf den Herdenschutz angewiesen sind. Der Impfstoff ist nebenwirkungsarm, die Masern sind hochansteckend und können schwere Verläufe nehmen, eine Therapie gibt es nicht. Über eine verstärkte Aufklärung und Beratung wurde die Durchimpfungsrate nicht signifikant erhöht. Natürlich kann man über einzelne Punkte diskutieren: Müssten nicht eigentlich auch die Impflücken, die in der Gruppe der nach 1970 Geborenen zum Teil bestehen, geschlossen werden? Muss nicht ein Masern-Einzelimpfstoff verfügbar sein anstelle des in Deutschland verwendeten Dreifachimpfstoffs gegen Masern/Mumps/Röteln, wenn die Impfpflicht nur für Masern gilt? (Meiner Meinung nach ja, aber da es einen solchen Impfstoff in anderen Ländern gibt, kann der Staat seine Impfpflicht aufrechterhalten, wenn er dafür sorgt, dass dieser Impfstoff auch in Deutschland verfügbar ist.) Was spricht ansonsten gegen eine Impfpflicht? Die Argumente von Impfgegner*innen – die Impfung könne Autismus verursachen, die Masern seien harmlos –, die nicht dem medizinischen Forschungsstand entsprechen, sicher nicht.

Infektionsschutz und "die Anderen"

Der Infektionsschutz gehört eigentlich zu "Old Public Health"; weil durch die Medizin nach und nach immer mehr Krankheiten geheilt werden konnten oder sie durch Impfungen ausgerottet wurden, nahm seine Bedeutung in der öffentlichen Wahrnehmung immer weiter ab. Heutzutage liegt der Fokus von "New Public Health" auf der Prävention chronischer Krankheiten wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebs und Diabetes und der Bedeutung sozialer Faktoren wie Armut, die die Gesundheit beeinflussen. Wo der Infektionsschutz in den letzten Jahrzehnten eine Rolle spielte, betraf er gesellschaftliche Randgruppen: Nach dem Zweiten Weltkrieg zum Beispiel ging es um Prostituierte und Geschlechtskrankheiten, in den 1980er und 90er Jahren um Homosexuelle, Prostituierte und AIDS. Hier zeigte sich das polizeirechtliche Instrumentarium deutlich im "bayerischen Maßnahmenkatalog" von 1987 mit verpflichtenden Bluttests und der Pflicht zur Offenlegung der Infizierung gegenüber bestimmten Dritten. Dass sich seit 2015 viele Flüchtlinge einer Röntgenreihenuntersuchung auf Tuberkulose unterziehen müssen, wurde medial fast gar nicht wahrgenommen. Die Gruppe der Prostituierten war wieder von polizeirechtlichen Maßnahmen betroffen, als 2016 eine Anmeldepflicht und eine verpflichtende Gesundheitsberatung durch das Gesundheitsamt eingeführt wurden. Die erstaunten bis empörten Berichte über Grundrechtseingriffe in Zeiten des Coronavirus sind letztlich nur Beleg dafür, dass die Mehrheitsgesellschaft das Gesundheitssystem allein von ihren Besuchen bei niedergelassenen Ärzt*innen kennt – was das Gesundheitsamt abseits von Schuleingangsuntersuchungen genau macht, weiß eigentlich keiner.

Jetzt betrifft der Infektionsschutz plötzlich zum einen die sozial besser Gestellten – Impfgegner*innen lassen sich überproportional dieser Gruppe zurechnen –, die auch über die erforderlichen Ressourcen für eine Verfassungsbeschwerde verfügen. Zum anderen betrifft er uns alle: Wer hat in den letzten Tagen nicht überlegt, ob – beziehungsweise vielleicht sogar eher: wann – er für zwei Wochen unter Quarantäne gestellt werden wird. Aus Sicht der Grundrechte birgt das Infektionsschutzrecht jedoch meiner Meinung nur wenig Diskussionsstoff. Anders als bei vielen anderen Maßnahmen der öffentlichen Gesundheit geht es beim Kontakt von Gesunden und an Coronavirus oder Masern Erkrankten nicht um das bloße Risiko einer Erkrankung, sondern um eine sehr konkrete Wahrscheinlichkeit. Natürlich handelt es sich bei Masernimpfpflicht und Quarantäneanordnungen um mittelschwere Grundrechtseingriffe – den Staat trifft andererseits aber eine Schutzpflicht, die Bevölkerung vor diesen übertragbaren Krankheiten effektiv zu schützen. Dies gilt insbesondere in dem Umfang, in dem sich bestimmte Personengruppen nicht selbst schützen können, weil sie nicht geimpft werden können oder weil die eigenen Möglichkeiten der Prävention (durch Händewaschen etc.) begrenzt sind. Im Recht der öffentlichen Gesundheit ist viel umstrittener, inwiefern der Staat dazu ermächtigt ist, gesundheitsriskantes Verhalten zu regulieren, das nur die Gesundheit der Betroffenen selbst beeinflusst – etwa das Ernährungsverhalten, den Tabak- und den Alkoholkonsum.

Der Text erschien am 2. März 2020 auf verfassungsblog.de. Übernahme mit freundlicher Genehmigung.