Ateizm Derneği – wir sind nicht allein

BERLIN. (hpd) "Ateizm Derneği" – die Vereinigung der Atheisten, die sich gegen den Niedergang des Säkularismus in der Türkei einsetzen, ist ein Beispiel für leidenschaftliches Engagement, säkulare Kräfte auf dem Weg zur Meinungsfreiheit zu sammeln.

Das aktuelle Wahlergebnis in der Türkei war nicht überraschend, allerdings die Höhe der Verluste für die bisher mit absoluter Mehrheit regierende AKP. Erdogans islamisch-konservative Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) kam nur auf 40,8 Prozent der Wählerstimmen, 2011 waren es noch 49,8 Prozent gewesen. In der Vorberichtserstattung zur Wahl in der Türkei hatte es u. a. geheißen: "Erdogans Feindes-Front wird immer länger".

Zu diesen Gegnern Erdogans zählt auch die Ateizm Derneği – die türkische Vereinigung der Atheisten.

Zehra Pala (37) und Morgan Elizabeth Romano (29), zwei führende Persönlichkeiten des Vereins, waren zu Gast in Deutschland: zur International Atheist Convention in Köln und mit zwei Vorträgen in Köln und Berlin.

Zehra, Vorsitzende und Präsidentin von Ateizm Derneği ist in Istanbul geboren, Morgan Elizabeth, die Vizepräsidentin, zuständig für internationale Verbindungen, in den USA. Mit Türkisch und amerikanischem Englisch sind sie sprachlich gut aufgestellt.

Bevor die beiden Gottlosen in Berlin den in der Türkei anerkannten Verein vorstellten, waren sie Referenten auf der Internationalen Atheist Convention in Köln, dorthin waren sie aus Istanbul angereist. In "Schlaglichtern von der IBKA-Convention" hatte Morgan Elizabeth Romano in einem Gespräch betont, wie sehr der Niedergang des Säkularismus in der Türkei in direktem Zusammenhang mit den konservativ-religiösen Ansichten Erdogans und der AKP stehen.

Informationsveranstaltung in Berlin

In Berlin, im DGB-Haus an der Keithstrasse, war der Vortrag in türkischer Sprache, um einen breiten Kreis ihrer Community anzusprechen. Für drei Deutschsprachige entstand spontan eine Simultan-Übersetzung. (Mit Dank an Attila für die Übersetzung.)

Die Präsidentin stellte Ateizm Dernegi vor: 2013 gab eine Facebook-Diskussion den Impuls, Treffen in Cafés folgten und der Verein Tuzuk Hazivliklari gründete sich mit dem inzwischen leider erblindeten Tolga Inci als Präsidenten.

Das Geheimnis des Vereins sei, so Zehra Pala: "Keine ideologische, keine politische Zuordnung." Der Verein sei nicht unpolitisch, aber unparteilich. Gemeinsamer Punkt ist, keiner Religion anzugehören. Atheismus, so Pala, ist in der Türkei zum Schimpfwort geworden. Also sagen sie "Hallo" zu den Gottlosen und zu den Atheisten, auch um zu zeigen, Angst haben wir nicht. Der Verein zählte anfangs 35 Mitglieder, jetzt sind es bereits an die 150. Rechtanwälte gehören auch dazu und, weil sie als Ungläubige keine Anstellung finden, arbeiten sie hier kostenfrei.

Ateizm Derneği ist mit akademischen und sozialen Aktivitäten in Istanbul aktiv, z.B. mit einer philosophischen Schule und ist mit dem "Picknick" besonders bekannt geworden. Einmal in der Woche organisieren sie eine kostenlose Suppenküche in Istanbul und Izmir. "Unser Sonntags-Picknick ist bekannt geworden, es findet am 1. Sonntag in Istanbul und am letzen Sonntag eines Monats in Izmir statt. Unser 12. Picknick zählte 200 bis 300 Teilnehmer, beim ersten waren wir 39. Wir erreichen Intellektuelle, zunehmend die Wissenschaft und Unterstützer. Wir gehen nach außen, die Menschen sollen von uns wissen und sich entscheiden."

Das Ateizm Derneği-Konzept fordert u. a.

  1. Befreiung der Kinder vom Zwangsteilnahme am Religionsunterricht, sofern diese der religionslosen Bevölkerungsminderheit angehören. “Religionslos” als gesetzlichen Status bestätigt zu bekommen ist komplikationslos. Dennoch sind alle schulpflichtigen Kinder in der Türkei verpflichtet, am Koran-Unterricht teilzunehmen.
  2. Aufhebung § 216 des Strafgesetz-Gesetzbuches mit dem die "Verunglimpfung religiöser Werte" unter Strafe gestellt wird. Am Beispiel 2013 wurde Fazil Say in der Türkei wegen Blasphemie zu zehn Monaten Haft auf Bewährung verurteilt.

Im Gegensatz dazu wird in der Türkei offen gesagt, der Teufel wäre besser als die Atheisten – besser, denn er würde an Gott glauben. "Wir werden oft im Fernsehen beleidigt. Dann gibt es Gegenreaktionen, eine 17-jährige junge Frau hat eine ganze TV-Show für uns organisiert", so Zehra Pala in ihrem Vortrag. Meinungsfreiheit für jeden, das ist aktuell die Forderung von Ateizm Derneği.

  1. Die Freiheit, die Form der Beerdigung selbst zu bestimmten, d. h. ein Krematorium zuzulassen.
  2. Eine offene Umfrage zur Religionszugehörigkeit. Die offizielle Behauptung, 99 Prozent der Bevölkerung der Türkei seien Muslime, wird von Ateizm Dernegi bezweifelt und von hier ein Recht auf Wahrheit gefordert.
  3. In der Türkei einen Tag für Kinder.

Ateizm Derneği ist bisher bei allen nationalen Feiertagen auf der Strasse – so beispielsweise zur Demonstration am 1. Mai oder, dem Frühlingsfest und auch am 19. Mai, dem Tag des Sports und der Jugend etc. "Das zieht Kritik nach sich: Die einen sagen, wir wären Faschisten, dann heißt es, nein, das sind Kommunisten. Das alles ist falsch, wir Gottlosen, wir wollen zeigen, dass es uns gibt. Wir gehen auf die Strasse und dorthin gehen wir als Minderheit, als diejenigen, sie keiner Religion angehören."

Zeha Pala zeigt Möglichkeiten auf, die bisher noch kleine Anzahl organisierter Atheisten und Gottlosen in der Türkei zu unterstützen, ohne dort zu leben, z. B. Mitglied zu werden. Oder der Facebook-Seite beizutreten, der Seite, die zuvor in der Türkei für drei Wochen gesperrt worden war und der dann wieder geöffnet wurde.

Ungeahnten Disput löste die Frage einer in Deutschland geborenen Frau (mit Migrationshintergrund) aus, mit der nach mehr als 2 1/2 Stunden die Präsentation endete: "Glauben Atheisten an Gott?". Aus der anschließenden immer emotionaleren Diskussion entwickelte sich schließlich ein Polizeieinsatz, ausgelöst durch die nach Gott fragende Zuhörerin, die sich diffamiert fühlte. Drei Polizisten stellten im DBG-Haus in Berlin die Personalien einiger Teilnehmer der Veranstaltung fest.

Das sei bei der Informationsveranstaltung in Köln das gleiche gewesen, berichtet Morgan Romano. Sie denken nicht, dass das Privatpersonen gewesen seien, sondern dass ihre Facebook-Seite von Religiösen mitgelesen werde, die dann aktiv werden. Ob eine Organisation dahinter stehe, wissen sie nicht.

Sie wollen nach Deutschland wiederkommen. Nicht nur, weil sie hier inzwischen Freunde und Unterstützer gefunden haben, sondern weil sie ihr weltanschauliches Engagement stärker in die türkische Community hineintragen wollen.

Wie die tagesschau berichtet, stimmten nach Angaben der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu in Deutschland anlässlich der aktuellen Parlamentswahlen rund 53 Prozent der türkischen Wahlberechtigten für die AKP. Die HDP bekam demnach rund 18,7 Prozent. Drittstärkste Kraft wurde die CHP mit 15,8 Prozent der Stimmen.

Mit anderen Worten, die Segmentierung der Türken innerhalb Deutschlands ist noch ausgeprägter als in der Türkei selber. Das gilt es, weiter zu verändern.