Kommentar

Wissenschaftsfeindlich und rückwärtsgewandt

Die Corona-Pandemie erzeugt eine neue Front aus Verschwörungstheoretikern und Impfgegnern. Immer mehr Menschen glauben, sie leben in einer Diktatur, nur weil sie ihre Freiheitsrechte nicht zum Nachteil anderer ungehemmt ausleben dürfen. Das hat nicht nur Auswirkungen auf die Pandemie, sondern auch auf unsere Erinnerungskultur. Ein Kommentar von Elisa Stadler.

Der Zerfall der Erinnerungskultur muss sich nicht unweigerlich darin äußern, dass Erinnerung und Andenken sukzessiv aus dem Gedächtnis einer Gesellschaft schwinden. Eine voranschreitende Desensibilisierung, die sich symptomatisch in unqualifizierten und in hochgradig geschmacklosen Vergleichen zwischen vorläufigen Grundrechtseinschränkungen und der Judenverfolgung abzeichnet, ist ebenso ein klares Anzeichen dafür. Durch Ausweitung wird der Faschismusbegriff in der Praxis nach und nach entwertet, bis hinein in die Bedeutungslosigkeit. Aktuell gehen Protestierende mit aufgenähten Judensternen in die Öffentlichkeit oder verbreiten Parolen wie "Der Mundschutz ist das neue Hakenkreuz". Man ist so fassungslos, dass man diese Menschen am liebsten als unbedeutende Minderheit aus menschenverachtenden Spinnern abtun möchte. Aber im schlimmsten Fall könnte sich das als fataler Fehltritt erweisen.

Die neue Front aus Verschwörungstheoretikern und Impfgegnern ist so wissenschaftsfeindlich wie rückwärtsgewandt und enthüllt, gepaart mit einem bedenklichen Umgang mit Medien, ein mehr als mangelhaftes Verständnis bezüglich Rechtsstaat und Demokratie. Besonders Impfgegner scheinen von einem Misstrauen gegenüber Staat und Wirtschaft geleitet zu werden. So groß sind Furcht und Fanatismus, dass man nun Schulter an Schulter mit Rechten protestiert. Bleibt nur die Hoffnung, dass die beiden Szenen nicht gänzlich fusionieren.

Wenn immer mehr Menschen glauben, sie leben in einer Diktatur, nur weil sie ihre Freiheitsrechte nicht zum Nachteil anderer ungehemmt ausleben dürfen, hat man es mit einer Entwicklung zu tun, der man entschlossen entgegentreten muss. Es war absehbar, dass diese andauernde Empörungswut, die man bereits aus Diskussionen um Tempolimits, Billigflieger oder exzessiven Fleischkonsum kennt, sich nun in der Krise entladen würde. Jetzt ist es nicht so, dass kein Ursprung auszumachen ist, wo doch einerseits der Vertrauensverlust gegenüber der Politik nicht grundlos und die überspannte Freiheitsmentalität ein Teil unserer Marktwirtschaft ist.

Hohn und Spott sind alleine keine wirksamen Mittel mehr. Kritisches Denken und Handeln hingegen müssen neben Solidarität, Anstand und historischer Kompetenz unbedingt in einer liberalen Gesellschaft gefördert werden.

Der Kommentar erschien erstmals auf Facebook am 04.05.2020. Übernahme mit freundlicher Genehmigung der Autorin.

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