Rezension

Der Fall Jakob Augstein

BONN. (hpd) Der Philologe Lukas Betzler und der Politikwissenschaftler Manuel Glittenberg nehmen in ihrer Studie "Antisemitismus im deutschen Mediendiskurs. Eine Analyse des Falls Jakob Augstein" eine diskurs- und textanalytische Untersuchung zum Thema vor. Die Autoren sehen in dem Vorfall eine Form des "verschleierten Antisemitismus", wobei sie aber etwas einseitig in Richtung dieser Deutung formulieren und keine Kontroll-Kriterien zur Prüfung ihrer Deutung nutzen.

Ende Dezember 2012 veröffentlichte das Simon-Wiesenthal-Center seine jährlich erscheinende Liste der "Top-Zehn der antisemitischen/antiisraelischen Verunglimpfungen", worauf sich auf Platz neun nach der ägyptischen "Muslimbruderschaft", dem iranischen Regime oder der griechischen "Goldenen Morgenröte" auch der deutsche Journalist und Kolumnist Jakob Augstein fand.

In seiner "Spiegel-Online"-Kolumne "Im Zweifel links" hatte er zuvor heftige Kritik an der israelischen Außenpolitik formuliert. Handelte es sich dabei aber um Antisemitismus? Über diese Frage setzte anschließend eine kontroverse öffentliche Debatte ein. Den Anlass dafür und eben diese Kontroverse analysieren der Philologe Lukas Bezler und der Politikwissenschaft Manuel Glittenberg in ihrer Studie "Antisemitismus im deutschen Mediendiskurs. Eine Analyse des Falls Jakob Augstein". Sie geht von der Annahme aus, dass in Deutschland zunehmend "verschleierter Antisemitismus im politischen Diskurs als eine mögliche, legitime Positionierung auftritt" (S. 11).

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Nach einigen Ausführungen zu verschiedenen Typen des Antisemitismus nehmen die Autoren eine antisemitismuskritische Textanalyse von Augsteins Kolumnen vor, wobei sie sich einem kognitionslinguistischen Ansatz qualitativer Art zur Rekonstruktion von Sinnstrukturen und Untersuchung ihres Wirkungspotentials bedienen. Es geht dabei um Passagen wie etwa: “Mit der ganzen Rückendeckung aus den USA, wo ein Präsident sich vor den Wahlen immer noch die Unterstützung der jüdischen Lobbygruppen sichern muss, und aus Deutschland, wo Geschichtsbewältigung inzwischen eine militärische Komponente hat, führt die Regierung Netanjahu die ganze Welt am Gängelband eines anschwellenden Kriegsgesangs …” (S. 60). Derartige Aussagen untersuchen Betzler und Glitterberg hinsichtlich der Übereinstimmung mit bekannten antisemitischen Stereotypen vom religiösen bis zum antiimperialistischen Motiv, wobei sich bei Augstein zeige, "dass zahlreiche tradierte antisemitische Stereotype in die Wahrnehmung und Darstellung des Nahostkonflikts einfließen" (S. 96).

Nach einer Art inhaltlichem Exkurs, der auf den Kontext von Antiamerikanismus und Antisemitismus bei Augstein abstellt, widmen sich die Autoren der Analyse des Diskurses über die Nennung des Journalisten auf der Top 10-Liste des Antisemitismus. Dabei nehmen sie diverse Akteure und verschiedene Entwicklungsphasen in den Blick. Zunächst habe eine Abwehr des Antisemitismusvorwurfs dominiert, etwas später hätten sich auch kritischere Stimmen artikuliert. Bilanzierend kommentiert man zu dieser letzten Phase: Insbesondere "die Übertragung klassischer antisemitischer Klischees auf Israel und die sekundär-antisemitischen Ideologeme in Augsteins Aussagen werden dabei problematisiert" (S. 270). Besondere Aufmerksamkeit findet auch die Rezeption der Augstein-Debatte in der Antisemitismusforschung. Zusammenfassend heißt es dazu, "dass die untersuchten Beiträge die Tragweite der antisemitischen Äußerungen Augsteins und die antisemitischen Dynamiken in der Augstein-Debatte nur unzureichend erfassen" (S. 284).

In der Gesamtschau hat man es hier mit einer aufwendigen und interessanten Aufarbeitung eines Mediendiskurses zum israelfeindlichen Antisemitismus zu tun. Dabei nutzen die Autoren eine beachtenswerte Analysemethode, die ihnen einen Blick auf den Grund mancher scheinbar harmloser, wenn auch überspitzter Kritik an Israel erlaubt. Gleichwohl geht mit ihrer Herangehensweise auch ein analytisches Problem einher: Sie betrachten und identifizieren so Antisemitismus-Potentiale. Doch fehlt bei ihnen neben dem identifizierenden Aspekt ein trennscharfer Gesichtspunkt zur Erkennung von nicht-antisemitischer Kritik an der israelischen Politik in einseitiger und scharfer Form. Dass Augstein mit Einseitigkeiten und Pauschalisierungen, Stereotypen und Vereinfachungen arbeitet, lässt sich kaum bestreiten. Nur ist dieses Agieren auch antisemitisch motiviert? Formale Gemeinsamkeiten müssen nicht auch für inhaltliche Übereinstimmungen stehen. Hier muss die Diskurs- und Textanalyse noch weiter im Sinne einer selbstkritischen Prüfung entwickelt werden.


Lukas Betzler/Manuel Glittenberg, Antisemitismus im deutschen Mediendiskurs. Eine Analyse des Falls Jakob Augstein, Baden-Baden 2015 (Nomos-Verlag), 318 S.