Studie

Gemischte Gefühle: LGBTI in der EU

Die European Agency for Fundamental Rights, kurz FRA, veröffentlichte am 14. Mai den Report "A long way to go for LGBTI equality". Dieser zeichnet ein Bild der Lebensrealität von LGBTI-Personen in der Europäischen Union und formuliert Handlungsempfehlungen für die Mitgliedsstaaten. Michael O'Flaherty, Direktor der FRA, weist in seiner Einleitung zudem darauf hin, dass die Effekte des Coronavirus diese Personengruppe besonders hart treffen könnten, beispielsweise beim Zugang zu medizinischen Behandlungen oder der Suche nach einem Arbeitsplatz.

Die Abkürzung "LGBTI" steht für Lesbische, Schwule, Bisexuelle, Transsexuelle und Intersexuelle Personen und definiert somit die Zielgruppe der Erhebung durch sexuelle Orientierung (LGB) und/oder Geschlechtsidentität (TI). Das Papier, das die FRA hier vorlegt, ist keine Studie im klassischen Sinne. Die Daten stammen aus einer freiwilligen Online-Umfrage, die zwischen Mai und Juli 2019 stattfand. Teilnehmen konnte jede(r), der oder die sich als LGBTI identifiziert; es partizipierten insgesamt 140.000 Personen. Die Ergebnisse sind daher nicht repräsentativ, es ist jedoch der bis dato umfangreichste Datensatz zur Thematik der Lebensrealität von LGBTI-Personen in der EU.

Die Lage in der EU

Bereits 2012 führte die FRA eine ähnliche Umfrage durch. Ein Vergleich mit dieser zeigt, dass LGBTI-Personen im Schnitt in allen Lebensbereichen öfter Betroffene von Diskriminierung werden als noch vor sieben Jahren. 21 Prozent (2012: 19 Prozent) der Befragten gaben an, im Jahr vor der Umfrage Diskriminierung am Arbeitsplatz erlebt zu haben, für Diskriminierung im Allgemeinen stieg diese Rate von 37 auf 43 Prozent. Ebenfalls mehr Menschen als 2012, nämlich jede(r) Dritte, erfuhren Diskriminierung bei Freizeitaktivitäten in der Öffentlichkeit. 61 Prozent der Befragten vermeiden es noch immer, mit der Partner*in Hand in Hand in der Öffentlichkeit aufzutreten. Trans- und Intersexuelle sind in allen Lebensbereichen überdurchschnittlich häufig betroffen.

Einen physischen oder sexuellen Übergriff aufgrund der eigenen Identität erfährt jede(r) Zehnte, bei Trans- und Intersexuellen ist es jede(r) Fünfte. Von diesen Übergriffen kommen lediglich 14 Prozent zur Anzeige bei einem polizeilichen Organ – der häufigste Grund dafür, einen Übergriff nicht zu melden, ist laut den Befragten die Angst vor einer homo- oder transphoben Reaktion der Behörde.

Die Lebensrealität von LGBTI-Personen variiert innerhalb der Europäischen Union enorm. 36 Prozent der Befragten sind der Meinung, Intoleranz gegenüber LGBTI-Personen habe im Allgemeinen zugenommen, 40 Prozent geben an, sie habe abgenommen. In Dänemark, Schweden, den Niederlanden und Malta beispielsweise lebt es sich sicher, es herrscht Zufriedenheit mit den jeweiligen Regierungen. In zehn Ländern jedoch ist nicht einmal jede(r) Fünfte mit den Anstrengungen der Exekutive zufrieden: In Italien und Bulgarien sind es acht, in Ungarn sechs und in Polen gerade einmal vier Prozent.

Erstmals wurden auch junge Menschen zwischen 15 und 17 Jahren befragt. Diese leben ihre Sexualität oder geschlechtliche Identität unterdurchschnittlich häufig offen aus und sind in allen Altersgruppen am häufigsten von Belästigung und Mobbing betroffen. In jedem zweiten Fall geschieht dies durch jemanden aus dem schulischen Umfeld. Der Report hebt die Bedeutung der Schule als einem zentralen Raum der Lebensrealität von jungen LGBTI-Personen hervor.

Die Lage in Deutschland

In Deutschland leben mehr Menschen ihre geschlechtliche Identität oder Sexualität offen aus als im EU-Durchschnitt, es sind jedoch in allen abgefragten Lebensbereichen auch mehr Menschen von Diskriminierung betroffen. 13 Prozent aller Befragten aus Deutschland haben in den fünf Jahren vor der Umfrage einen physischen oder sexuellen Übergriff aufgrund ihrer Identität erfahren. Auch in Deutschland ist der häufigste Grund dafür, einen Übergriff nicht anzuzeigen, die Angst vor eine homo- oder transphoben Reaktion.

Malta – ein Positivbeispiel

Der südeuropäische Inselstaat Malta zeigt sich bei LGBTI-Themen besonders ambitioniert. 2015 verabschiedete das Parlament den "Gender Identity, Gender Expression and Sex Expression Act", der Trans- und Intersexuelle vor Diskriminierung schützt und eine Änderung des behördlich eingetragenen Geschlechts ohne medizinische Nachweise ermöglicht. Auch schützt dieser minderjährige Intersexuelle vor geschlechtsangleichenden Operationen auf Initiative der Eltern. 2016 wurde die sogenannte Konversionstherapie verboten.

Malta verzeichnet die niedrigste Rate physischer oder sexueller Übergriffe, die höchste polizeiliche Melderate und ist das einzige Land in der EU, in dem mehr als jede(r) Zweite keinerlei Angst mehr hat, sich in der Öffentlichkeit zu bewegen. Über zwei Drittel der Befragten sind der Meinung, die Intoleranz in Malta habe in den fünf Jahren zuvor abgenommen.

Konklusion

Der häufigste von den Befragten genannte Grund für eine Verbesserung ihrer Lebenssituation ist die "Sichtbarkeit von LGBTI-Personen und deren Teilhabe am öffentlichen Leben", dicht gefolgt von "positiven Veränderungen in Gesetz und politischer Strategie". Die Befragung ergibt auch: Je offener die LGBTI-Identität ausgelebt wird, desto höher das Risiko, Diskriminierung oder Gewalt zu erfahren. Die Aspekte "Sichtbarkeit" und "Gesetzeslage" sind somit unmittelbar verzahnt. Damit LGBTI-Personen sich mit der gleichen Selbstverständlichkeit ausdrücken können wie jeder andere Mensch, bedarf es adäquater justizieller Gleichstellung. Damit die legislativen Instanzen der EU-Staaten die Notwendigkeit solcher Gesetzesnovellen erkennen, müssen sich LGBTI-Personen sichtbar am politischen Diskurs beteiligen können.

Die FRA empfiehlt gezielte Maßnahmen zur Verbesserung der Lebenssituation insbesondere von Trans- und Intersexuellen sowie von jungen LBGTI-Personen. Dazu gehören die Schaffung einer sicheren Atmosphäre in der Schule, der Öffentlichkeit und am Arbeitsplatz, eine Sensibilisierung der polizeilichen Organe für diskriminierende und LGBTI-feindliche  Straftaten und eine legislative Gleichstellung trans- und intersexueller Personen. Zur besseren Bekämpfung auch von intersektioneller Diskriminierung sind die Gleichbehandlungsstellen mit den entsprechenden Ressourcen und Befugnissen auszustatten. Die FRA mahnt weiterhin an, dass zahlreiche Staaten, darunter auch Deutschland, wichtige biomedizinische Abkommen zum Patientenschutz, beispielsweise das Oviedo-Abkommen, noch nicht ratifiziert haben.

Gesetze, wie das ungarische Parlament eines beschlossen hat, das das Geschlecht nach der Geburt als unabänderlich erklärt, oder in Polen, wo vor kurzem "LGBT-freie Zonen" eingerichtet wurden, scheinen angesichts der Empfehlungen der FRA und der Lebensrealität Betroffener fast eine Farce. Das Europäische Parlament hat die Kommission bereits dazu aufgefordert, diese Zonen in einer Resolution zu verurteilen. Es darf also davon ausgegangen werden, dass uns die innereuropäischen Spannungen beim Thema LGBTI noch eine Weile beschäftigen werden.

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