Rezension

Shermers skeptische Tour de Force durch Politik und Wissenschaft

"Giving the Devil his due" (dt. "Dem Teufel sein Recht lassen") ist eine 366-seitige kommentierte Auswahl von Aufsätzen des US-amerikanischen Wissenschaftsjournalisten und Skeptikers Michael Shermer aus den letzten 15 Jahren.

Das Buch wurde im April 2020 als gebundene englische Ausgabe und als von Shermer selbst eingesprochenes Hörbuch veröffentlicht. Der Autor gliedert sein Buch in fünf Teile, welche ich zunächst zusammenfasse. Anschließend diskutiere ich einige zentrale Ideen und ziehe ein Fazit.

1. Des Teufels Advokat: Betrachtungen über die Freiheit des Denkens und der Rede

Der Titel des Buches bezieht sich vor allem auf diesen ersten Teil. Hier plädiert Shermer für eine möglichst liberale Auslegung der Meinungsfreiheit. Seine an John Stuart Mill angelehnte Kernthese lautet, dass man schlechte Ideen grundsätzlich besser durch öffentliche Gegenrede und Bloßstellen als durch Zensur entlarven könne. Wenn man dies nämlich nicht täte, sei man dem Risiko ausgesetzt, das Wort entzogen zu bekommen. Dieses Prinzip überträgt er nicht nur auf politische Provokateure und Intelligent-Design-Verfechter, sondern konsequent auch auf Holocaustleugner. Kritisch betrachtet Shermer die an Universitäten verbreite Identitätspolitik, die Diversität von Merkmalen wie Ethnie oder sexuelle Orientierung bevorzugt gegenüber einer Vielfalt an Meinungen und Standpunkten. Dies führe laut Shermer zu einer ideologisierten intellektuellen Monokultur und zu fanatischer Intoleranz gegenüber abweichenden Meinungen. (Für eine ausführlichere Diskussion der Ideen des ersten Abschnitt des Buches empfehle ich diesen Artikel.)

2. Homo Religiosus: Betrachtungen über Gott und Religion

Shermer tritt zunächst für einen Pluralismus des Glaubens ein. In einer freiheitlichen Gesellschaft müsse jeder, auch völlig absurder, Glaube toleriert werden, solange dadurch keine Individualrechte verletzt werden. Diese Freiheiten ermöglichten dann auch die Verbreitung aufklärerischen Denkens, Religionskritik und Skeptizismus in einer Gesellschaft. Weiterhin befasst sich Shermer mit der Frage, wie sich in einem sinnlosen und sterbenden Universum Sinn aus dem individuellen Streben nach Wachstum und Glück stiften lässt. Abschließend stellt Shermer im anspruchsvollsten Essay des Buches diverse aktuelle astrophysiche Hypothesen vor, die die Entstehung des Universums ohne einen übernatürlichen Schöpfungsakt erklären. Insgesamt greift Shermer in diesem Abschnitt zu einem Großteil Ideen der "New Atheists" auf und erweitert sie mit eigenen Thesen.

3. Aufgeschobene Träume: Betrachtungen über Politik und Gesellschaft

In diesem Teil analysiert und beurteilt Shermer aktuelle politische Fragen und Kontroversen aus seiner Perspektive als klassischer Liberaler ("classical liberal"). Dies ist eine recht pragmatische politische Weltanschauung der Mitte, die sich an den Prinzipien der Aufklärung orientiert. Im Gegensatz zum Konservatismus ist er kulturell liberal, säkularistisch und technokratisch. Im Gegensatz zu linken und grünen Ideologien ist er wirtschaftsliberal, nur für moderate Reformen und für eine starke innere und äußere Sicherheit. Die besten Aspekte der Gesellschaft sollen verstärkt werden, zum Beispiel durch eine Liberalisierung von Kultur und Wirtschaft sowie effektivere Bildung, innere Sicherheit und sozialstaatliche Absicherung. Bewaffnet mit dieser Ideologie und allerhand Studien attackiert Shermer erneut die Identitätspolitik als Stammesdenken und Verrat an den Idealen Martin Luther Kings, der von einer Welt träumte, in der Menschen nur anhand ihres Charakters bewertet werden, nicht anhand äußerer Merkmale wie ihrer Hautfarbe. Statt liberale Werte wie Meritokratie, Individualismus und Meinungsfreiheit zu verteidigen, würde sie für tribalistische Stimmungsmache, Kollektivismus und Zensur eintreten.

Cover

Weitere zwei Essays widmet Shermer der Frage nach der idealen Gesellschaft. In einem Essay kritisiert er Elon Musks utopische Idee, eine zukünftige Gesellschaft auf dem Mars könne mit wenigen knapp formulierten Gesetzen auskommen. Laut Shermer braucht es zum Florieren erstens eine umfangreiche liberale Verfassung und eine möglichst Kooperative und wirtschaftlich liberale Organisation. Dies entspreche evolutionären Bottom-up–Prozessen, die in der Wirtschaft ebenso effektiv sein wie in der Biologie, wie Shermer in einem weiteren Essay erläutert. Praktisch bedeutet das für Shermer unter anderem die Privatisierung von Schulen und Straßen sowie die Legalisierung aller Drogen. Von einem totalen Anarchokapitalismus distanziert sich Shermer aber mittlerweile.

Schließlich diskutiert er in drei Aufsätzen, unter welchen Bedingungen Privatleute Waffen besitzen sollen und kommt, nachdem er dieses Recht zunächst verteidigt, schließlich doch zu dem Schluss, dass strenge Auflagen wie in Europa am besten sind. Erhellend ist Shermers Analyse der unterschiedlichen Moralvorstellungen von Konservativen und Linken, wobei er die Ideen Georg Lakoffs und Jonathan Haidts aufgreift. Die Anhänger dieser politischen Lager hätten jeweils unterschiedliche Wertvorstellungen, die sich aber ergänzten, so wie ein sanfter und ein strenger Elternteil.

4. Scientia Humanitas: Betrachtungen über wissenschaftlichen Humanismus

Shermer beginnt mit einem Manifest für seine Lebensphilosophie, den wissenschaftlichen Humanismus. Diese Weltanschauung ist nahezu deckungsgleich mit dem Konzept des evolutionären Humanismus. Shermer betont den Naturalismus als Grundlage nicht nur für die Naturwissenschaft, sondern auch für Philosophie und Ethik. Wie Sam Harris in "The Moral Landscape" (2011) und im Gegensatz zu David Hume geht Shermer davon aus, dass man aus wissenschaftlichen Erkenntnissen durchaus moralische Prinzipien ableiten kann. Als Beispiel stellt er in einem Essay eine Skala der zivilisatorischen Entwicklung vor, an dessen Spitze eine globale, demokratische, frei handelnde Gesellschaft steht, die es zu erreichen gelte, da sie allen Menschen auf der Welt zu möglichst viel Freiheit, Wohlstand und Glück verhelfe. Der letzte Aufsatz zeugt von Shermers weltanschaulichen Entwicklung weg vom Libertarismus hin zum sozialeren klassischen Liberalismus. Er gesteht darin ein, dass Erfolg im Leben für praktisch alle Menschen nicht primär auf eigenen Leistungen basiert, sondern zum Großteil aus Glück: Vor unserer Geburt können wir uns weder unsere genetische Veranlagung noch unser soziales Umfeld und unsere Chancen im Leben aussuchen.

5. Transzendente Denker: Betrachtungen über kontroverse Intellektuelle

In diesem Abschnitt preist Shermer seine persönlichen Helden und kritisiert zwei umstrittene Intellektuelle. Paul Kurtz, einer der Gründer der modernen Skeptiker-Bewegung, hat Shermer in seiner Evolution zum bekanntesten Kopf dieser Bewegung stark beeinflusst. Shermer nennt ihn den Skeptiker der Skeptiker, weil er davor warnte, dass auch Skeptiker darauf achten müssen, nicht auf Ideologen in ihren eigenen Reihen hereinzufallen. Im nächsten Essay über Christopher Hitchens zeichnet Shermer ein Portrait eines gleichsam redegewandten wie trinkfesten Journalisten und Universalgelehrten, gespickt mit diversen persönlichen Anekdoten. Laut Shermer war "Hitch" stets bereit, seine Ansichten anhand neuer Informationen zu ändern, ohne jedoch – wie von einem christlichen Autor behauptet – heimlich doch gottgläubig gewesen zu sein. Schließlich wird Richard Dawkins als Super-Intellektueller dargestellt, der sich in einer anderen Sphäre bewegt als andere Denker. Shermer erzählt eine Anekdote von einer Konferenz, auf der Dawkins die Gespräche der Wissenschaftler so prägnant mit sporadischen Einwürfen moderierte, dass alle anderen ständig auf seine Bemerkungen Bezug nahmen.

Den streitbaren kanadischen Psychologen Jordan Peterson, der sich nicht zu schade war, ein Zitat für den Klappentext des Buches abzugeben, diskutiert Shermer hingegen kritisch. Petersons pragmatisches Wahrheitskonzept sei ebenso wie sein Konzept der tiefgreifend prägenden mythischen Archetypen weitgehend beliebig. Seine Self-Help-Ratschläge seien altbacken und banal. Sein vehementer Protest gegen ein Gesetz, gemäß dem Trans-Personen mit selbst gewählten Pronomen angesprochen werden müssen, alarmistisch. Allerdings verliert Shermer dann doch selbst einige Worte über ausartende "political correctness" und er verteidigt Peterson gegen den Vorwurf, die Ideologie der "alt right" und "hate speech" zu verbreiten. Schließlich – etwas antiklimaktisch – setzt sich Shermer mit dem "alternativen Archeologen" Graham Hancock auseinander. Hancock behauptet, dass es bereits Jahrtausende vor den ersten Hochkulturen wie den Ägyptern technisch hoch entwickelte Zivilisationen geben habe, die sogar telekinetische Fähigkeiten gehabt haben sollen. Shermer wirft Hancock mangelnde stichhaltige Belege für diese Behauptung vor und deutet scheinbar verblüffende Zahlenmuster, stilistische Gemeinsamkeiten und architektonische Meisterleistungen in frühgeschichtlichen Kulturen als zufällig entstanden beziehungsweise wissenschaftlich erklärbar.

Diskussion und Fazit

Shermers philosophisches Weltbild hat teils Anknüpfungspunkte zu Michael Schmidt-Salomons, wie in "Jenseits von Gut und Böse" (2012) und "Die Grenzen der Toleranz" (2016) dargelegt. Im Essay über Gene, Umwelt und Glück argumentiert Shermer, dass wir unseren Erfolg im Leben wenn überhaupt nur in sehr begrenztem Maße selbst bestimmen. Seine Thesen über Meinungsfreiheit sind von der Idee geprägt, dass wir auch radikale oder sogar extremistische Meinungen tolerieren müssen, weil uns durch Zensur oder Selbstzensur die Chance entgeht, etwas dazuzulernen und unser kollektives Wissen sowie den moralischen Zeitgeist weiterzuentwickeln.

Nicht immer gelingt Shermer die Abwägung zwischen argumentativer Quantität und Qualität. Sein Schreibstil wechselt zuweilen zwischen jovialer Stammtischrede und inhaltlich überladener Vorlesung. Manche der Texte sind zu kurz, um um die angerissenen Themen tiefgreifend zu diskutieren. Seine Erklärungen wirken didaktisch, seine Schlussfolgerungen ein wenig trivial. Sie richten sich vermutlich hauptsächlich an Skeptiker-Novizen. Dies betrifft beispielsweise die Essays über Religion, Kulte und seine Portraits von Dawkins und Hitchens. Andere der Essays, wie jene über Astrophysik, naturalistische Ethik und zivilisatorische Evolution, sind eine Tour de Force. Sie sind ausgezeichnet formuliert, aber in ihrer Informationsdichte anstrengend zu lesen.

Shermers Werk ist unverkennbar geprägt von seinem politischen Denkmuster des klassischen Liberalismus. Er vertritt seine politischen Standpunkte kompromisslos und zum Teil polemisch. Hier vermisst man dann am ehesten den sonst so skeptischen Duktus. Eine intensive Auseinandersetzung mit Einwänden gegen den klassischen Liberalismus an sich und den daraus abgeleiteten radikalen Thesen wie denen zu Meinungsfreiheit und freien Märkten findet sich im Buch weder in den Aufsätzen noch in Shermers Prologen. Es wäre wünschenswert, dass er sich in Zukunft beispielsweise mit Patrick J. Deneens "Warum der Liberalismus gescheitert ist" (2019) und Thane Rosenbaums "Saving Free Speech...from Itself" (2020) auseinandersetzt. Deneen vertritt die These, dass ein individualistischer Liberalismus die Menschen voneinander entfremdet und zu konsumistischem, verantwortungslosem Handeln verführt. So würden sie anfällig für Demagogen vom Schlage Trumps. Rosenbaum schlägt in eine ähnliche Kerbe und warnt davor, dass Meinungsfreiheit ohne Grenzen dazu führen kann, dass der öffentliche Diskurs verroht. Dies führe dazu, dass sich die provokantesten Populisten durchsetzen und dass die Hemmschwelle für Diskriminierung, Hetze und Gewalt in einer Gesellschaft sinkt.

Die Zusammenstellung der Essays ist trotz dieser Kritikpunkte inhaltlich und sprachlich insgesamt hervorragend gelungen. Fast alle der Aufsätze zeugen von Shermers unvoreingenommenen, skeptischen Haltung. Shermer redet nicht um den heißen Brei herum, sondern nimmt seine skeptischen Skalpelle zur Hand und operiert damit virtuos. Ihm ist hoch anzurechnen, dass er sich mit fragwürdigen Ideen intensiv auseinandersetzt und sie argumentativ entlarvt, statt sie einfach zu verwerfen oder lächerlich zu machen. Insbesondere die wissenschaftlichen und philosophischen Essays zeugen von einem großen Talent, vielfältige Zusammenhänge anschaulich zu beschreiben und Denkfehler mit Logik und Fakten zu demontieren. Die Aufsatzsammlung ist als Überblick über Shermers jüngeres Schaffen definitiv eine Empfehlung wert.

Abschließend noch ein Warnhinweis zur Hörbuch-Fassung: Sie ist erstaunlich schlecht produziert. An unzähligen Stellen wurde das Herausschneiden von Versprechern versäumt.

Michael Shermer, Giving the Devil His Due, Cambridge University Press 2020, ISBN 9781108779395

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