Neuapostolische Kirche:

"Nicht denken, nicht meinen, nur glauben!" (Teil 3)

Am 6. Juli 1960 starb das damalige Oberhaupt der Neuapostolischen Kirche (NAK), Johann Gottfried Bischoff, obwohl er laut eigener Prophezeiung, zu der sich seine Anhänger über Jahre auf Gedeih und Verderb bekennen mussten, niemals sterben würde. Es begann eine Zeit des eisernen Schweigens, unter der sowohl verbliebene wie "abtrünnige" Mitglieder leiden mussten. Fast 50 Jahre später leitet ausgerechnet Bischoffs Schwiegerenkel eine Wende ein, die schmerzhafte Eingeständnisse, aber auch Rückschläge und neue Fragen mit sich brachte. Aufarbeitung bereitet der NAK dabei bis heute Bauchschmerzen. Der letzte Teil unserer Artikelserie über ein einmaliges Religionsdrama.

"Die Nichterfüllung der 'Botschaft' kann mit dem Verstand letztlich nicht erklärt werden. Der göttliche Charakter der 'Botschaft' wird dadurch nicht in Frage gestellt."

Wir glauben, also denken wir nicht drüber nach

Als Kirchenleiter Richard Fehr 1996 diese Worte in der NAK-Hofzeitung Unsere Familie an seine Mitgliederschar richtet, steht seine Kirche mit dem Rücken zur Wand. Zu jenem Zeitpunkt befand sich die "extrem strenge Sekte" (SPIEGEL) mit ihren geschichtlichen Leichen im Keller im Kreuzfeuer des medialen Interesses. Fehr brachte dabei die gehegte Verdrängung zum Ausdruck, die auch ihn geprägt hat, und Fragen zum Tabu-Mythos auf den Sankt-Nimmerleinstag verschob. Ob dies zu dem Zeitpunkt wirklich noch die Überzeugung des mittlerweile siebten Stammapostels (1988–2005) war, darf heute getrost bezweifelt werden. Gegenüber seinem energischsten Kritiker erwiderte Fehr auf dessen offene Briefe nüchtern-politisch, dass eine Abkehr von der "Botschaft" schlicht zu viele vor den Kopf stoßen würde. In der Tat sahen viele darin den eigentlichen Grund für die neuapostolische Eiszeit in Sachen Aufarbeitung.

Dafür könnte man menschlich durchaus Verständnis aufbringen, denn Fehr trat ein "bescheidenes" Erbe in dieser Frage an. Am 7. Juli 1960 bezog die verbliebene Kirchenleitung mit dem hastig gewählten Nachfolger Walter Schmidt (1960–1975) innert Stunden nach Bischoffs Tod Position – mit wenig Erklärungsgehalt, aber viel moralischem Zeigefinger. Aus unerklärlichen Gründen müsse "Gott seinen Ratschluss geändert" haben, denn "der Stammapostel [Bischoff] kann sich nicht geirrt haben". In der Handreichung "Das ist die Wahrheit" watschte die Kirchenobrigkeit Ende des Jahres jede Kritik an der "Botschaft" durch die "Gegner" als Feigenblatt solcher ab, die sich selbst gerne an der Spitze von "Gottes Werk" gesehen hätten. Längst haben die überdauerten Fakten den Namen dieser Streitschrift Lügen gestraft.

Misstrauen gegen sich selbst

Andere Geistliche und Mitglieder taten ihr Übriges. Gott wollte die antichristlichen Verführer von der Kirche wie "Spreu vom Weizen trennen". Oder Gott musste die Vorstufe zum Weltuntergang vorerst abblasen, weil das Kirchenvolk noch nicht treu und fest genug geglaubt hat. Jede noch so absurde Erklärung ging viral, wenn sie den quälenden unauflöslichen Konflikt nur etwas linderte. Doch Stammapostel Schmidt war strategisch besonnener. Statt sich weiter mit dem Thema aufzuhalten, gab er eine Parole heraus, die die Neuapostolische Kirche prägte und ihr Sekten-Image für Jahre zementierte: "Wir schweigen und gehen unseren Weg", die Flucht aus dem Kessel der "Feinde" nach vorne.

Doch war der uncharismatische Denker Schmidt wirklich so abgeklärt? Landauf landab wurde die Order bekanntgegeben, keinen Umgang mit den Abgefallenen zu unterhalten – ähnlich dem "Gemeinschaftsentzug" der Zeugen Jehovas auch dann nicht, wenn es engste Freunde oder Familie waren. Flugblätter der Gegenseite, die vor Neuapostolischen Kirchen regelrechte Aufklärungskampagnen fuhr, sollten ungelesen den Priestern oder dem Kaminfeuer übergeben werden. Und um die Effektivität der Ächtungsmaßnahmen zu überprüfen, setzte Schmidt seine Untergebenen als Spitzel ein, die die Aktivitäten der "Apostolischen Gemeinschaft" rigoros überwachen sollten. Dabei ging es weniger um die Beobachtung der anderen als vielmehr um "Verräter" in den eigenen Reihen:

"Immerhin halte ich solch eine intensive Beobachtung für dringend erforderlich, da sich unter diesen Umständen auch kaum Geschwister [das heißt Mitglieder der NAK], und mögen sie noch so verärgert oder enttäuscht sein, dazu entschließen dort hinzugehen, weil sie wissen, dass ihr Schritt dann sofort bekannt ist." – Bezirksapostel Herrmann Schumacher brieflich an Walter Schmidt, 13. September 1962

Reise über den Rubikon

Nicht alle machten dabei mit oder reagierten, wie der Hamburger Kirchenmann Karl Weinmann, auf Schmidts Verfolgungseifer sichtlich genervt. Dennoch dauerte es bis 1982, als mit Hans Urwyler (1978–1988) das erste Tauwetter kam. Statt die Abgefallenen zu ächten, wollte das neue Oberhaupt sie lieber für die Kirche zurückgewinnen. Auch Kritiker gestehen Urwyler zu, dass er mit kirchenpolitisch korrekten Argumenten vor allem den selbstverschuldeten Druck abbauen wollte.

Über die Jahre weicht die Verweigerungshaltung dem Gewissen, die Kontakte häufen sich trotz Unterbrechungen bis Ende des Millenniums. 2000 ruft die NAK zum ersten von zwei "apostolischen Konzilen", um einen Burgfrieden zu erreichen. Zweifellos mutige Pioniere, ungeachtet derer denkbarer Absichten, bringen es bis 2005 sogar zu regionalen Versöhnungsaktionen. Doch erst 2006 überquerte die Kirche mit ihrem achten Stammapostel, Wilhelm Leber (2005–2013), den Rubikon endgültig. Als er gegenüber dem evangelischen Magazin ideaSpektrum bekannte, dass die "Botschaft" kein Dogma mehr sei, mag dies aus Sicht eines Außenstehenden nichtig wirken. Doch von diesem ideologischen Befreiungsschlag an war das Thema nicht mehr von der Agenda zu kriegen.

Es begann eine Achterbahnfahrt, wie sie die NAK noch nicht erlebt hatte. Trotz seiner Dogma-Absage bekannte Leber die "Botschaft" damals noch in der eigenen Kirchenzeitung als göttlich. Zwei Jahre nach seinem Ruhestand, 2015, ist er bei einer Veranstaltung in Hamburg selbst davon abgerückt. Der innere Konflikt eines Mannes, der mit Johann Gottfried Bischoff über Gattin und Mutter doppelt verwandt ist, übertrug sich auf die Kirche. Wollte er 2007 die Entstehung der "Botschaft" gemeinsam mit der Apostolischen Gemeinschaft öffentlich beleuchten, endete der Versuch in einem obskuren, aber folgenschweren Desaster. Die NAK rutschte in die Erklärungsmuster Walter Schmidts zurück und riss alte Wunden wieder auf. Proteste äußerten sich in Form von prominenten Kirchenaustritten, Amtsniederlegungen und einem vorläufigen Abbruch der Gespräche durch die Anders-Apostolischen.

Leber wusste fortan, dass Stillstand keine Option mehr war, wollte sich die NAK nicht völlig blamieren. Stattdessen ging er in die Offensive. Er traf sich öffentlichkeitswirksam mit Zeitzeugen, machte deren Standpunkt hörbar, gab sogar eine unabhängige Studie in Auftrag. Am gesamteuropäischen Jugendtag 2009 in Düsseldorf will die Kirche authentische "Vibes" der Modernisierung aussenden. Also geht Leber so weit wie keiner vor ihm: Vor 46.000 Zuhörenden gestand er aufgeregt Fehler der Kirche im Umgang mit den Abtrünnigen öffentlich ein. 2013, wenige Tage vor seinem Ruhestand, beendet er, was er in der LTU-Arena begonnen hatte und wurde in einer offiziellen Erklärung deutlich – auch gegen die Ausflüchte, mit denen Schmidt & Co. Bischoffs Tod 1960 zu mystifizieren versuchten.

"Wir haben Fehler gemacht" – Sein Gang nach Canossa führt Wilhelm Leber ins Heimstadion von Fortuna Düsseldorf:

Die "Botschaft", ein Schrecken ohne Ende

Ende gut, alles gut, würden sich einige Neuapostolen hier wohl den Schlusspunkt wünschen. Schließlich kam es im November 2014 doch auch zur Unterzeichnung einer ersten interkonfessionellen Versöhnungserklärung. Tut uns leid, so einfach ist es nicht!

So löblich die Entschuldigung für die Unmenschlichkeiten anderer sein mag, so stringent setzte Leber die NAK-Ursünde in seiner Stellungnahme fort. Den Eiertanz "lässt sich die Bewertung ableiten, dass [die 'Botschaft'] keine göttliche Offenbarung war" könnte man noch als vorsichtigen Opportunismus entschuldigen. Doch indem er Bischoffs Endzeit-Haltung als grundsätzlich "vorbildlich" bezeichnet und den Mitläufern von damals ausstellt, "klug gehandelt" zu haben, erntet Leber, der der "Botschaft" später selbst abschwört, abermals Kopfschütteln. Die Kirchenleitung mag das Unrecht bereuen, aber eben nicht den Vorsatz, mit dem es begangen wurde.

Denn das hieße wohl fundamental zu hinterfragen, als was sich die Kirche selbst sieht: Gottes unermüdliche Mahner zur Umkehr, bevor das letzte Stündlein schlägt. Es könnte auch bedeuten, dass gesunde Zweifel an den Worten der Apostel oder ihren Lehrsätzen – selbst die "Wiedergeburt" aus Wasser- und Geistestaufe kam erst durch den Machtkampf ins Credo – doch nicht so fehl am Platz sind. Die "Botschaft" als Konsequenz dieses Selbstverständnisses kann und darf also nicht mehr als ein bedauernswerter Betriebsunfall bleiben.

Das erklärt auch, wie die Kirchenleitung das jüngste "Botschafts"-Rätsel gleich selbst schuf. Als sie 2012 die renommierte Historikerin für Biografieforschung und Oral History, Dr. Almut Leh, mit einer Zeitzeugenstudie beauftragte, bestand das ernsthafte Interesse an einer fundierten, ergebnisoffenen Untersuchung. Dessen ist sich Frau Dr. Leh bis heute sicher. Folglich machte sie sich daran, die Wahrnehmung der "Botschaft" sowohl von neuapostolischen wie auch von Ex-NAK-Zeitzeugen zu rekonstruieren. Als sie ihre Arbeit 2015 mit einem Forschungsbericht abschloss und sich zwecks Publikation an ihre Auftraggeber wandte, hatte sich der Wind jedoch merklich gedreht. Die Auftraggeber verloren nicht nur das Interesse an einer Veröffentlichung, sondern untersagten diese geradezu. Was als unabhängige Aufarbeitung angekündigt war, wird bis heute streng unter Verschluss gehalten. Almut Leh bedauert dies sehr, sieht sie sich doch gegenüber ihren Interviewpartnern im Wort, denen sie guten Glaubens die Veröffentlichung ihrer Forschungsergebnisse zugesagt hatte.

Es gibt keine falschen Fragen, nur falsche Antworten

Was war geschehen? Peter Johanning, internationaler Sprecher der Kirche, begründet dies damit, dass die Versöhnung mit den anderen apostolischen Gemeinschaften abgeschlossen sei und es nicht ihrem Sinn von "Versöhnung" entspreche, auf den Stand gegenseitiger Vorwürfe zurückzukommen. Nur, "versöhnlich" war der Umgang weder mit Dr. Leh noch mit den übergangenen Zeitzeugen. Der evangelische Weltanschauungsbeauftragte Dr. Kai Funkschmidt hingegen stellte fest, dass auch unter neuapostolischen Verantwortungsträgern "einige nicht glücklich" über den plötzlichen Rückzieher waren. Versöhnen will sich der heutige Stammapostel Jean-Luc Schneider (seit 2013) vor allem mit den kollektiven Schuldgefühlen. 2014 bat dieser das Kirchenvolk zu Toulouse, die NAK-Jungen mit der Vergangenheit doch bitte nicht länger zu "belasten" – oder war es "belästigen"? Doch vielleicht ist ja noch nicht aller Tage Abend: Denn statt um Vorwürfe geht es in der Wissenschaft um Aufarbeitung, der er mit einer Offenlegung der Studie zum Durchbruch verhelfen könnte.

Kirchensprecher Johanning, selbst NAK-Bischof, machte in einer Predigt unlängst eine geistreiche Bemerkung. "Arroganz" sei, dem lateinischen Wortsinn folgend, die selbstgefällige Haltung, für den eigenen Standpunkt keinerlei Fragen mehr zuzulassen oder zu stellen. Sieh an, da könnten sogar Apostaten in das "Amen" seiner Apostel-Gemeinde einstimmen. Die Täter von damals, die sich mit Aufrufen zu "bedingungslosem Glaubensgehorsam" und "Nachfolge bis zuletzt" vor der Geschichte selbst freizusprechen versuchten, würden sich im Grab umdrehen. An diesem erfrischenden Kontrapunkt wird sich der weitere Umgang der NAK mit ihrer Geschichte jedenfalls messen lassen müssen. Fürchten darf sie sich davor eigentlich nicht. Denn eine andere "Botschaft", die sich auf Christus beruft und der Kirche heute noch gelten muss, besagt doch: "Die Wahrheit wird euch frei machen."


Quellenliste (Auszug):

Bitte beachten Sie auch den ersten und den zweiten Teil dieser Artikelserie.

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