NEU-BAMBERG. (hpd) Sie sehen aus wie die Kreationen talentierter Maler, oft wie imaginäre Übungen mit dem Malerpinsel. Sie tragen meist prächtige Farben und sind mit Fortsätzen und Anhängen dekoriert, die nur ein Künstler ersonnen haben mag. Scheinbar ungeschützt sind sie die Unterwasseranalogien der Schmetterlinge. Und doch sind sie nur Tiere, die in einer "Freß-oder-gefressen-werden-Welt" überleben wollen, manchmal Jäger und manchmal Beute. Mehr noch, nehmen sie doch am Spiel der Evolution teil, weil sie den Schutz aufgegeben haben, der für andere Schnecken unverzichtbar ist. Und es sieht wohl so aus, als hätten sie dabei gewonnen.
"Das Gefühl des ehrfürchtigen Staunens, das uns die Naturwissenschaft vermitteln kann, gehört zu den erhabensten Erlebnissen, deren die menschliche Seele fähig ist. Es ist eine tiefe ästhetische Empfindung, gleichrangig mit dem Schönsten, das Dichtung und Musik uns geben können. Es gehört zu den Dingen, die das Leben lebenswert machen, und am meisten gilt das gerade dann, wenn es in uns die Überzeugung weckt, daß unsere Lebenszeit endlich ist." (Richard Dawkins)
Bevor das Tauchen populär wurde, wussten eigentlich nur Wissenschaftler über die Gruppe der Nacktschnecken Bescheid. Aber heutzutage ist das bereits ein Begriff aus Tauchers Umgangssprache für Meeresschnecken ohne Gehäuse, vielen Fotografen sicherlich ein Lieblingsmotiv! Der Lebensraum von Nacktschnecken (besser Nacktkiemer als direkte Übersetzung des Ordnungsnamens Nudibranchia) reicht von der Brandungszone bis ins offene Meer. Einige haben sich sogar in der Tiefsee angesiedelt. Nacktschnecken kann der suchende Taucher wohl überall und zu jeder Zeit in allen Meerestemperaturen antreffen. Die meisten der farbenprächtigen Tiere sind tagaktiv, und wenn man ihre Nahrung kennt, findet man sie auch dort.
Über die Ordnung NUDIBRANCHIA
Wir beobachten die Nacktkiemer bei der Verteidigung, beim Angriff, bei der Nahrungssuche, beim Fortpflanzen, beim Verstecken, beim Nesseln und beim Schwimmen. Soweit wir das wissen, sind sie sich langsam bewegende Fleischfresser, die noch langsamere Tiere erbeuten oder solche, die sich gar nicht bewegen können. Sie gehören alle zur Unterklasse der Hinterkiemerschnecken. Diese Gruppe schließt auch die Kopfschildschnecken, Saftsauger und Seehasen ein, doch ihre bekanntesten Vertreter sind die Nacktkiemerschnecken!
Alle Nudibranchier haben einen fleischigen Fuß, mit dem sie sich aufgrund muskulärer Kontraktion vorwärts bewegen können. Und die Mehrzahl aller Arten trägt auf dem Kopf Riechorgane, auch Rhinophoren genannt. Grundsätzlich handelt es sich aber nicht um "übliche" Schnecken, denn sie haben als erwachsene Tiere den Schutz durch ein starres Gehäuse aufgegeben! Vielmehr nutzen sie diverse Verteidigungsstrategien, um ihre weichen Körper in einem Ozean voller hungriger Jäger zu schützen. Der Verlust des Gehäuses macht sie weitaus mobiler: Die meisten Arten kriechen zwar noch auf dem Boden, doch viele können immerhin weit genug schwimmen, um einen Paarungspartner zu finden oder einem Verfolger zu entkommen. Aber auch ohne Gehäuse haben Nacktschnecken es nicht nötig, "davonzuschweben".
Für viele der bizarren Lebewesen ist eine chemische Verteidigung die Waffe ihrer Wahl. Einige produzieren Säuren, die die meisten Fische als extrem unschmackhaft finden. Andere scheiden Gifte ab, die so stark sein können, dass eine einzelne Nacktschnecke, zusammen in einem Eimer mit Fischen und Krebsen transportiert, diese innerhalb einer Stunde abtötet. So die Erfahrung des Autors. Es gilt noch von einer anderen verwegenen Verteidigungstrategie zu berichten: Fadenschnecken borgen sich fremde Waffen. Sie ernähren sich von einer anderen Kategorie mariner Invertebraten, der Hydroiden und Meeresanemonen. Diese sind in der Form einmalig, dass sie Nematocysten (Nesselkapseln) produzieren, die dann explodieren, wenn man sie angreift. Sie brennen außerordentlich, wie jeder Taucher mit ungeschützten Händen es bestätigen kann. Wenn nun eine Fadenschnecke einen solchen Hydroiden frisst, kann sie die Nesselkapseln aufnehmen, ohne dass sie explodieren. In ihrem Verdauungssystem neutralisiert sie die reifen Nematocysten, schiebt aber die unreifen in kleine Säcke in den Enden der Anhänge auf dem Rücken. In diesen "Cnidosacs" entwickeln sie sich zu explodierenden Waffen! Diese Anhänge sind oft die buntesten Teile der Fadenschnecke: sie ziehen die Aufmerksamkeit von Fressfeinden an, lenken aber gleichzeitig vom Kopf der Schnecke ab. Ein Fisch, der in die Anhänge hineinbeißt, bekommt ein Maul voller Nesselgift verabreicht, das er so schnell nicht vergessen wird. Die Fadenschnecke kriecht unverletzt weiter und regeneriert die Anhänge, die bei der Attacke verloren gingen.
Es gibt aber mehr zu berichten als wer nun eigentlich wen frisst, sogar über die gehäuselosen Schnecken der Unterwasserwelt. Die Frage, woher denn die kleinen Nacktschnecken kommen, ist zwar für die beteiligten Nudibranchier wichtiger, dürfte aber die LeserInnen auch interessieren. Irgendwie überrascht es nicht, dass diese Farbwunder unter Wasser wieder einen ungewöhnlichen Weg beschreiten: Sie sind Zwitter, was bedeutet, dass die reproduzierenden Organe beider Geschlechter in den adulten Tieren vorhanden sind. In diesen sogenannten Gonaden sind die zwei Gewebetypen auf verschiedene Weisen arrangiert. Die Gonade liegt auf der rechten Seite der Schnecke kurz hinter dem Kopf und die Gonopore, wo der Austausch des Samens stattfindet, kurz dahinter. Zur Fortpflanzung kann also jedes Tier einer bestimmten Art mit jedem anderen dieser Art kopulieren, immer wird es zur Befruchtung kommen. In den meisten Fällen positionieren sich zwei Nacktschnecken Kopf zu Schwanz, so dass sich ihre rechte Seiten berühren und die Möglichkeit gegeben ist, die Geschlechtsprodukte auszutauschen. Nach der Befruchtung gehen die Tiere auseinander, um das Eigelege auf einem passenden Untergrund zu platzieren.
Die geschlüpften Eier werden in ihrer planktonischen Phase Veliger genannt. In diesem larvalen Stadium tragen sie noch das für ihre Klasse typische Gehäuse. Je nach Art siedeln sie nach verschiedenen Zeitspannen am Meeresgrund, zumeist in der Nähe der Nahrung, die sie in ihrem kurzen Leben bevorzugen werden. Bei der Metamorphose in jugendliche Nacktschnecken verlieren sie das Gehäuse. Die Lebensspanne der Nudibranchier hängt vom vorhandenen Vorrat an Futter ab. Nacktschnecken, die sich von langsam wachsenden Organismen wie Schwämmen, Meeresanemonen, Gorgonien und Seefedern ernähren, leben etwa ein Jahr lang. Im Gegensatz dazu leben manche Arten nur bis zu sechs Wochen, weil ihre Nahrung aus Nesseltieren und Moostierchen besteht, die nur vorübergehend auftreten. Diese Nacktschnecken verhungern ganz einfach und schrumpfen dabei in sich zusammen.
Zur Systematik der Nacktkiemerschnecken
Unter den mehr oder weniger nackten Schnecken ist die Ordnung der Nudibranchia mit mehr als 2000 Arten die größte Gruppe und wird in vier Unterordnungen unterteilt.
Die Unterordnung DORIDINA ist die größte davon. Von diesen in meinen Büchern genannten Sternschnecken gibt es insgesamt mehr Arten als in allen anderen Unterordnungen der Nudibranchia zusammengefaßt sind! Um einen besseren Überblick zu erlangen, wird Doridina deshalb in drei Superfamilien unterteilt: Die Phanerobranchia (Neonsternschnecken) – was bedeutet, dass sämtliche ihrer Arten die Kiemen nicht einziehen können, da eine entsprechende Tasche fehlt – sind in allen tropischen und temperierten Meeren zuhause. Die eher länglichen Nacktschnecken besitzen einen glatten oder mit Papillen besetzten Körper, sowie einen stark reduzierten Mantelrand, der meist nur aus einer kleinen segelartigen Struktur im Kopfbereich und gelegentlich einer Leiste entlang der Körperseite besteht.
Die Mitglieder der Superfamilie Cryptobranchia (Prachtsternschnecken) haben die Fähigkeit, ihre Kiemen in eine Tasche auf der Oberseite ihres Körpers einzuziehen, wenn sie gestört werden. Ihre Morphologie ist wesentlich einheitlicher, als die der Neonsternschnecken. Die meisten Arten besitzen eine ovale Körperform, mit vergrößerten Köpfen, die sich vom Körper absetzen und tragen außerdem einen weiten Mantel, der den größten Teil des Fußes und des vorderen Kopfbereichs bedeckt. Der Name der dritten Superfamilie Porostomata (Warzensternschnecken) bedeutet Porenmund. Ihre Arten ähneln den Vertretern der Cryptobranchia, aber die Köpfe reichen wesentlich deutlicher in ihre Körper hinein. Die Verwandtschaft der beiden Warzenschnecken-Familien basiert auf dem gemeinsamen Verlust der Radula und der damit einhergehenden Ausbildung des Saug-Fressens. Die meisten Warzenschnecken zeigen Warzen oder Pusteln auf dem Mantel, deren Aussehen es erleichtern, die Art zu identifizieren.
Die Unterordnung ARMININA oder Furchenschnecken ist die kleinste innerhalb der Nudibranchia, obwohl ihre Arten in den Weltmeeren weitflächig verbreitet sind. Diese Unterordnung ist eher ein Sammelbecken für alle Arten, die nicht in die anderen drei hineinpassen. Sie ist eine paraphyletische Gruppe, d.h., die Familien sind nicht näher miteinander verwandt. Man kann sie in der Form charakterisieren, dass die Arten einen Kopfschleier und einziehbare Rhinophoren tragen, die ohne Hülle oder Taschen sind.
Baumschnecken der Unterordnung DENTRONOTINA repräsentieren die typisch "nackten" Formen dieser Ordnung, können aber bis zu 300 mm lang werden. Paarige einfache oder verästelte Anhänge, mit Atemfunktion, sind in der Regel entlang eines gut markierten oberen Randes auf jeder Seite des Körpers vorhanden. Ein gefranster oder glatter Kopfschleier überdeckt das Maul. Baumschnecken fressen hauptsächlich Nesseltiere mit der Ausnahme der Gattung Melibe, die aus der Strömung filtert und keine Radula besitzt. Arten der Familie Tritoniidae, die die Kiemen auf dem seitlichen Rand des Rückens tragen, fressen ausschließlich diverse Arten von Gorgonien und Weichkorallen.
Die AEOLIDINA stellen die zweitgrößte Unterordnung der Nudibranchia dar. Fadenschnecken, wie man sie populär nennt, teilen sich in etwa 20 Familien auf. Sie alle sind an ihrem langgestreckten, schmalen Körper zu erkennen, die mehrere Reihen von Körperanhängen (Cerata) auf der Rückenoberfläche tragen.
Fadenschnecken ernähren sich von Moostierchen und diversen Hohltieren wie Hydroiden, Meeresanemonen, Weich- und Hartkorallen, aber auch vom Laich anderer Hinterkiemer und Fischen. Die üppigen rückseitigen Körperanhänge sind oft mit Bändern von kräftigen Farben versehen, was auch für die langen Mundtentakeln und die Rhinophoren gilt. Augen erkennt man ebenfalls an der Basis der Rhinophoren.
Das Zitat von Richard Dawkins entstammt dem Buch "Der entzauberte Regenbogen - Wissenschaft, Aberglaube und die Kraft der Phantasie"(1998/2007)
5 Kommentare
Kommentare
Andreas am Permanenter Link
Nudibranchia sehen phantastisch aus!
Bernd Kammermeier am Permanenter Link
Wenn die Bibelautoren damals nicht nur das Gilgamesch-Epos als Vorlage gehabt hätten, sondern deine phantastischen Bücher, Helmut, dann hätten sie Gott noch ein paar Extratage der Schöpfung gegönnt, um diese schillern
Danke für deine immer wieder faszinierenden Einblicke in Lebensräume, die BEWEISEN, dass das ewige Spiel der Natur eine Formenvielfalt hervorbringt, gegen die alle kreativen Ideen - ob Mensch oder Wettergott - abstinken müssen. Mit drei Worten: Evolution ist schön!
Hans Trutnau am Permanenter Link
Da schrieb der Meister. Herzlichen Dank, lieber Helmut, für diesen begeisterten (und gleichsam begeisternden) Beitrag. BTW, Dein Pendant bzgl.
Helmut Debelius am Permanenter Link
Ob ich wohl so alt werde, Hans?
Hans Trutnau am Permanenter Link
Locker älter, Helmut. Dir geht's doch blendend. Immer nur schön radeln...