Im kommenden Jahr wird Hans Albert, der wichtigste Vertreter des Kritischen Rationalismus in Deutschland, 100 Jahre alt. Aus diesem Anlass schreiben das Hans-Albert-Institut (HAI) und die Bundesarbeitsgemeinschaft Humanistischer Studierender einen Essay-Wettbewerb für junge Menschen bis 30 Jahre zum Thema "Was ist rational?" aus. Einsendeschluss ist der 100. Geburtstag von Hans Albert am 8. Februar 2021.
Aus evolutionärer Perspektive war Politik oft eine Frage von Leben und Tod. Und so können politische Diskussionen leider auch heute leicht wie eine "Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln" wirken. Doch angesichts der fundamentalen Herausforderungen, mit denen sich die Menschheit im 21. Jahrhundert konfrontiert sieht, können wir es uns nicht mehr leisten, unserem evolutionären Erbe blind zu folgen. Wir benötigen stattdessen eine Kultur des rationalen Diskurses, in der Menschen die Bereitschaft zeigen, losgelöst von identitärem Lagerdenken einen nüchternen Blick auf die Fakten zu werfen und im fairen Austausch miteinander "der Wahrheit" allmählich näher zu kommen.
Ein Mensch, der dieses Ideal in seinem Wirken wie kein zweiter verkörpert, ist der Philosoph Hans Albert. Als Vordenker des Kritischen Rationalismus steht er für eine wissenschaftliche Denkweise, welche sich durch Klarheit, Kritikfähigkeit und Aufgeschlossenheit gegenüber alternativen Denkansätzen auszeichnet. Er zeigt, dass das Bemühen um kritische Rationalität eine zentrale ethische Verpflichtung ist, der wir uns allesamt stellen sollten.
Anlässlich des 100. Geburtstags dieses Ausnahmedenkers (und Beirats der Giordano-Bruno-Stiftung) im Februar 2021 ermutigt das Hans-Albert-Institut (HAI) deshalb in Kooperation mit der Bundesarbeitsgemeinschaft Humanistischer Studierender junge Menschen bis 30 Jahre die Tugenden des kritisch-rationalen Diskurses zu verinnerlichen und lädt zur Teilnahme am großen Essay-Wettbewerb "Was ist rational?" ein. Auch Schülerinnen und Schüler sind ausdrücklich zur Einsendung bis zum 8. Februar 2021 eingeladen. Konkret werden dabei Beiträge in den folgenden beiden Kategorien gesucht:
Kategorie I – Zeitgeist und Rationalität
Die Perspektiven auf die gesellschaftspolitischen Entwicklungen der vergangenen Jahre sind zwar kontrovers, aber untrennbar mit der Frage nach der Bedeutung der Rationalität und nach unserem Umgang mit Andersdenkenden verwoben. Aus diesem Grund sollen in der ersten Kategorie kreative Beiträge prämiert werden, die sich in 1.000 bis 3.000 Wörtern mit mindestens einer der drei folgenden am aktuellen Zeitgeist orientierten Fragestellungen auseinandersetzen:
Des einen Fake News, des anderen Fakten – kann man Informationen noch trauen? In einer Zeit, in der politische Diskussionen immer rücksichtsloser geführt werden und die viel beschworenen Filterblasen unseren Zugang zu Wissen algorithmisch zu regulieren scheinen, stellt sich die Frage, ob und wie man die Unmengen von Argumenten, Zahlen, Daten und Fakten, mit denen man tagtäglich konfrontiert wird, verarbeiten, geschweige denn kritisch prüfen soll. Wie können wir rational mit diesen Herausforderungen umgehen?
Meine Wahrheit, deine Wahrheit – Relativismus als Gefahr für unser Denken? In den letzten Jahren verbreitet sich eine Doktrin der Gleichwertigkeit unterschiedlicher Überzeugungen, die polemisch "Jeder Mensch hat ein Recht auf seine persönliche Wahrheit" zusammengefasst werden kann. Was ist aus kritisch-rationaler Perspektive von einer solchen Weltsicht zu halten? Und was bedeutet sie für unser Zusammenleben?
Angst statt Argumente – quo vadis Meinungsfreiheit? Der Begriff "Cancel Culture" hat sich in den letzten Jahren als Charakterisierung eines Zustandes etabliert, in dem durch forcierte Ausladungen oder gar Androhung von Gewalt die Grenzen des Sagbaren zunehmend verengt zu werden scheinen. Einige Kommentatorinnen und Kommentatoren beklagen eine ausufernde Form von politischer Korrektheit und sehen unsere Meinungsfreiheit in Gefahr. Sind diese Diagnosen zutreffend? Wie wichtig ist Meinungsfreiheit für einen funktionierenden, rationalen, gesellschaftlichen Diskurs?
Kategorie II – Rationalität und intellektuelle Offenheit
Kaum etwas ist so schwer wie das Eingeständnis, dass man falsch gelegen hat. Zuzugeben, dass die andere Seite im Recht gewesen ist, und auf Basis der Fakten die eigene Sichtweise radikal zu revidieren, wird oft als Zeichen der Schwäche und des Versagens gedeutet. Doch nichts könnte weiter von den Tatsachen entfernt sein: Nur wenn wir bereit sind, neue Belege ehrlich zu durchdenken, ihre logischen Konsequenzen zu akzeptieren und in die eigene Weltsicht zu integrieren, können wir als Gesellschaft Fortschritte machen.
Weitere Informationen über die Modalitäten des Essay-Wettbewerbs finden sich auf der Webseite des Hans-Albert-Instituts.
Intellektuelle Offenheit, die Neugierde gegenüber anderen Positionen und der Abschied von liebgewonnenen, aber fehlerhaften Auffassungen sind wertvolle, für eine an den Werten der Rationalität orientierte Lebensführung unerlässliche Tugenden, die es zu würdigen gilt. Gesucht sind deshalb Beiträge von 1.000 bis 3.000 Wörtern Länge, in denen die jeweilige Person ihre Erfahrungen mit dem Eingeständnis, in einer für sie wichtigen Frage falsch gelegen zu haben, schildert. Was war die ursprünglich vertretene Position? Wie hat sie sich geändert? Was war der Auslöser? Wie ist man selbst damit umgegangen? Wie hat das soziale Umfeld darauf reagiert? Hat die Erfahrung den eigenen Meinungsbildungsprozess nachhaltig verändert? Solche und vergleichbare Fragen sollten in dieser Kategorie behandelt werden.
Preise des Essay-Wettbewerbs
Über die Prämierung entscheidet eine interdisziplinäre und hochkarätige Jury. In beiden Kategorien erhalten die jeweils Erstplatzierten einen Geldpreis von 1.000 Euro, die Zweitplatzierten einen Preis von 500 Euro und die Drittplatzierten einen Buchpreis aus den Veröffentlichungen der Giordano-Bruno-Stiftung (gbs), die das Hans-Albert-Institut im Februar 2020 gegründet hat. Eine besondere Anerkennung von Schülerinnen und Schülern ist ebenfalls vorgesehen.
Die Gewinnerinnen und Gewinner sollen auf dem großen Symposium zum 100. Geburtstag von Hans Albert im September 2021 in Würzburg ausgezeichnet werden. Darüber hinaus ist eine Veröffentlichung der besten Beiträge in einem Sammelband angedacht.
Erstveröffentlichung auf der Website der Giordano-Bruno-Stiftung.
7 Kommentare
Kommentare
Hans Trutnau am Permanenter Link
Da fühlte ich mich durchaus angesprochen - bis es hieß, nur "für junge Menschen bis 30 Jahre". Da bin ich ja mal ganz locker außen vor.
Wie sollte da ein Näherkommen zuverlässig gemessen werden können?
Der aufgerufenen Jugend wünsche ich dennoch allen nur denkbaren Erfolg bei dem Wettbewerb.
Und Hans Albert ein gesundes Erreichen der 100!
Florian am Permanenter Link
Dass es keinen archimedischen Punkt der Wahrheitserkenntnis gibt, heißt nicht, dass man sich nicht der Wahrheit annähern könnte.
gesagt hat, die Welt zu kompliziert für uns, so dass wir niemals zu einer völlig irrtumsfreien Erkenntnis ihrer Beschaffenheit vordringen können. Wir können dann bestenfalls einige Erkenntnisfortschritte machen, die uns vielleicht der Wahrheit etwas näher bringen." In 'Der Mythos des Rahmens und der moderne Antirealismus' schreibt Albert zudem recht deutlich: "Der methodologische Revisionismus darf keineswegs mit dem Skeptizismus verwechselt werden. Die prinzipielle Revidierbarkeit hat nicht die Konsequenz, daß man gezwungen wäre, beliebige Meinungen als gleichberechtigt anzusehen und die Idee der objektiven Wahrheit aufzugeben". Diese Idee der objektiven Wahrheit sei als "regulative Idee für die menschliche Erkenntnis und für die Kultur überhaupt unentbehrlich". Der sogenannte 'Konstruktivismus' dagegen sei "die gefährlichste moderne geistige Tendenz, und, so darf man wohl sagen, eine der am weitesten verbreiteten Auffassungen. Er verbindet zwei Kantsche Ideen mit dem modernen Relativismus, nämlich die Idee, daß wir die uns bekannte Welt mit Hilfe unserer Begriffe herstellen, und die, daß wir eine von uns unabhängige Welt durch unsere Erkenntnis nicht erreichen können.“
Hans Trutnau am Permanenter Link
Lieber Flo, ich bestreite ja gar nicht, dass man sich der Wahrheit annähern *könnte* (könnte i.S. eines harten *Konjunktivs*).
Ja, doch, das *könnte* sein, aber wir wissen es nicht, weil wir es nicht messen können (weil uns der Maßstab dazu fehlt; vgl.a.: Albert-Schüler Herbert Keuth).
Daher sollten wir genau genommen noch nicht einmal (wie im Artikel gefordert) die Bereitschaft zeigen, der Wahrheit "allmählich näher zu kommen" – weil das schlicht *unerfüllbar* ist und evtl. sogar als Totschlagargument gegen missliebige Standpunkte ausgenutzt werden könnte.
"Widersprüche ausmerzen" oder "die Wahrheit suchen zu wollen" hielte ich für sinnvoller.
Ich halte dieses 'Näherkommen' für einen modernen Mythos, der von allen möglichen Seiten immer wieder genährt, wiederholt, gar beschworen wird (mir ggb. zuletzt vom Monitor-Redaktionsleiter G. Restle in etwa, dass Wissenschaft die beste Methode sei, sich der Wahrheit zu nähern). Das ist in meinen Worten, gerade heraus (sry), nicht viel mehr als Kaffeesatzleserei und verlangt Wissenschaft etwas ab (behauptet etwas von ihr), das sie nicht leisten *kann*.
Vllt. haben wir die Wahrheit ja sogar schon gefunden? Ich bin mitunter der Meinung, dies für die Biologie (Evolutionstheorie), Chemie (Periodensystem der Elemente) oder Geowissenschaften (Theorie der Plattentektonik) zu bejahen, gestehe mir dann aber immer schnell ein, dass dies zwar sauber durchdeklinierte, aber dennoch 'nur' fallibele und im besten Fall falsifizierbare Theorien sind.
Th. S. Kuhn führt(e) in "Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen" etliche Beispiele für die (vermeintliche) Annäherung an die Wahrheit an, darunter über unser Sonnensystem – vom antiken Heliozentrismus Aristarchs über den fast 2000 Jahre verfochtenen Geozentrismus Ptolemäus' bis zum Heliozentrismus seit der Neuzeit durch Kopernikus, Galilei, Kepler & Co. – alles in Allem eher ein Zickzack-Kurs als eine stetige Annäherung an etwas wie 'die' Wahrheit. Oder ist unser Sonnensystem gar keine Scheibe (sic!), sondern sogar eher ein Wirbel wie in https://www.youtube.com/watch?v=0jHsq36_NTU dargestellt?
Nach meiner unmaßgeblichen Meinung haben wir 'lediglich' mehr oder weniger taugliche *Erklärungsmodelle* für die Wahrheit (mit der ich in diesem unseren Fall die Realität, das "Ding an sich" meine); nicht weniger, aber auch nicht mehr – Erklärungsmodelle, die möglichst widerspruchsfrei (oder wenigstens -arm) ein (ja, selbstverständlich immer auch konstruiertes, wenngleich _nicht beliebig_ konstruiertes!) Abbild der Realität geben sollten, von der _scientific community_ akzeptiert, aber revidierbar sein sollten (ich denke, hier einigermaßen mit dem Popper-Schüler Alan Musgrave d'accord zu sein).
Aber dieses 'Wenige' unserer Erklärungsmodelle ist so *unsagbar* viel mehr als sog. heilige Bücher der Irrationalität uns jemals erzählen konnten oder können.
Und genau deswegen bin ich ein begeisterter, aber skeptischer (Natur-) Wissenschaftler!
Es könnte eine Idee sein, den HAI-Namensgeber HA hier teilnehmen zu lassen.
Die Frage ist nur: wie?
Hervorhebungen:
*fett*
_kursiv_
Florian am Permanenter Link
Lieber Hans, nun vermischst du nun doch leider einiges. In deinem ersten Kommentar hast du geschrieben, dass Hans Albert die Möglichkeit einer Annäherung an die Wahrheit nicht unterschreiben würde.
Dass ein archimedicher Punkt der Erkenntnis ein notwendiges Kriterium für eine (grundsätzlich fallible) Wahrheitsannäherung wäre, ist (sofern ich das richtig verstanden habe) nicht die Meinung von Hans Albert. Es ist deine eigene Schlussfolgerung, die ich aber bisher nirgendwo bei Albert selbst gelesen habe. Da ich als kritischer Rationalist jedoch gerne Fehler eingestehe, freue ich mich natürlich immer über Korrekturen - im Idealfall anhand eines Primärtextes von Albert.
Liebe Grüße und Danke für deinen Kommentar!
Hans Trutnau am Permanenter Link
Lieber Flo, ich sehe nicht, wo ich da 'einiges' vermische.
Ich stimme dir jedoch unumwunden zu, dass es meine eigene (und wie ich meine, logisch zwingende) Schlussfolgerung ist, die Wahrheitsannäherung nicht messen zu können, wenn wir den archimedischen Punkt (die Wahrheit) nicht kennen. Dazu benötige ich auch keinen Primärtext von HA.
Es reicht, wenn HA ganz entsprechend Popper zitiert: "*möglicherweise niemals* völlig irrtumsfrei … *vielleicht* der Wahrheit etwas näher".
Da heißt m.E. nichts Anderes als dass es möglich sein *kann* ('könnte' ist da lediglich eine Präzisierung, die man mir als Haarspalterei vorhalten kann), dass wir uns aufgrund (grundsätzlich fallibeler) "Erkenntnisfortschritte" der Wahrheit annähern, uns dessen aber *nicht sicher* sein können – schlicht und ergreifend, weil wir dies *nicht messen* können (mein o.g. Beispiel Helio-/Geo-Zentrismus möge das verdeutlichen). Und weil wir dies nicht messen können (nochmals – wie auch?), ist die Rede von einer Wahrheitsannäherung unnütz (wenn nicht sogar *schädlich*) für die Wissenschaft: Wissenschaft will die Wahrheit *suchen*; aber ob sie sie jemals *findet*, bleibt ungewiss.
Missverstehen wir uns oder reden wir lediglich aneinander vorbei?
Es könnte in der Tat eine Idee sein, den HAI-Namensgeber Hans Albert hier teilnehmen zu lassen, indem ihr vom HAI diesen Artikel samt Kommentaren ausdruckt und HA postalisch zukommen lasst, damit er dazu Stellung nehmen kann. Das ist zwar zeitlich verzögernd, könnte aber der Klarheit dienen.
Hans Trutnau am Permanenter Link
Flo, eine Präzisierung:
Fakt bleibt allerdings, dass wir die Wahrheit nicht (und falliblerweise wohl nie) kennen - und uns deshalb ein *validler Maßstab* zu der Wahrheitsnähe fehlt.
Es gibt dennoch, wie erwähnt, etliche Versuche, eine solche Wahrheitsnähe zu messen (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Wahrheitsn%C3%A4he), die aber allesamt gescheitert bzw. nicht anerkannt sind (vgl. dort unter 'Kritik' den Albert-Schüler Herbert Keuth).
Nichtsdestotrotz können wir selbstverständlich dennoch Erkenntnisfortschritt erreichen, indem wir schlankere, einfachere Theorien entwickeln (vgl. Ockhams Rasiermesser), die z.B. Widersprüche ausräumen (ich hatte das große Glück in meinem Leben, das mehrmals selbst zeigen zu können) - *und* wenn dies von der _scientific community_ anerkannt wird, was nicht immer (vgl. Kuhn) ein einfacher Prozess im Sinne von Poppers Falsifikationismus ist. Das mag dann "*vielleicht* der Wahrheit etwas näher" sein – aber eben nur vielleicht, ohne Gewissheit.
Was uns bleibt, ist *konjekturales* (vermutetes, aber möglichst gut begründetes) Wissen, wie es z.B. der Popper-Schüler Alan Musgrave ganz am Ende in "Alltagswissen, Wissenschaft, Skeptizismus" ausdrückt (übersetzt von Hans und Gretl Albert, die mir das Werk vor Jahren als "sehr gutes Buch" empfohlen hatten...). Aber dieses konjekturale Wissen ist (ich wiederhole mich) dennoch so dermaßen viel mehr als wir je zuvor wussten!
Apropos Albert - sendet ihr vom HAI doch diesen Artikel samt Kommentare ausgedruckt postalisch an ihn; er würde dazu gerne Stellung nehmen.
Hans Trutnau am Permanenter Link
Danke, lieber Flo, für deine Literatur-Infos per PN, zu denen ich wie folgt Stellung nehmen möchte (inkl. ein paar Bedenken und Empfehlungen, besonders hier am Ende):
Arpard-Andreas Sölter schreibt in "Begegnungen mit Hans Albert" u.a.: "[…] Versuche im Erkenntnisstreben [, (d.Verf.] stets der Wahrheit näher zu kommen", und gleich darauf: "doch ohne Dich jemals in ihrem Besitze zu wähnen. Betrachte sie stattdessen nur als hypothetische, stets revidierbare Annäherung." D'accord. Aber was bleibt dann?
Gert Albert hat mir seinen Aufsatz über kumulative Erkenntnis (https://www.researchgate.net/publication/343181093_Kumulative_Erkenntnis_in_einer_realistischen_Soziologie_in_Zeitschrift_fur_Theoretische_Soziologie_12020_S_4-31) inzwischen persönlich übersandt. Für mich ist das der erste Versuch, die Problematik überhaupt einmal sehr strukturiert anzugehen; auch bestreite ich die Möglichkeit kumulativer Erkenntnis (etwa in Form umfassenderer Theorien) ja gar nicht. D'accord. Aber was bleibt dann?
Seine "fünf Stufen der Wahrheitsannäherung" bleiben m.E. recht qualitativ und beziehen sich explizit auf die Soziologie. Es fragt sich, ob sich sein Konzept auch (und vor allem quantifizierbar) auf Naturwissenschaften anwenden lässt. Ich bleibe da aber sehr skeptisch (s.a. weiter unten die letzten 5-6 Absätze), auch deshalb, weil m.W.n. hinsichtlich Objektivität, Reliabilität und Validität derzeit kein entsprechendes Bewertungskonzept (zumindest in den Naturwissenschaften) allgemein akzeptiert ist.
Der m.E. 'moderne' Mythos, dass "Wissenschaft die beste Methode sei, sich der Wahrheit zu nähern", wird ja nicht nur durch Monitor-Redaktionsleiter G. Restle beschworen, sondern u.a. auch vom TV-Prof. Lesch ab 37 min in: https://www.youtube.com/watch?v=f7UvligKPCE; am besten daran ist allerdings gleich danach: "Das kann dauern." – Oder die Ansicht von R. Dawkins, unsere Aufgabe sei es, die objektive Wahrheit zu "finden" (gleich im ersten Satz in: https://hpd.de/artikel/prophet-und-unerbittlicher-waechter-vernunft-16403). Zu "suchen" wäre passender gewesen. Die Liste ließe sich fortsetzen.
Gefordert wäre m.E. eine generelle Interdisziplinarität, wie sie in anderem Zusammenhang z.B. Jakob Augstein (über den man denken mag, was man will) anmahnt in: https://www.3sat.de/kultur/kulturzeit/gespraech-mit-jakob-augstein-104.html. Also Augstein, Albert, Popper, Musgrave oder auch Scobel u.v.a.m. an einen Tisch; es kann dann m.E. nur besser werden! Das kann aber auch lange dauern – was in einer wirklich offenen Gesellschaft jedoch auch ausgehalten werden müsste.
Schlimmer wird es, wenn wissenschaftlichen Theorien Absolutheitsanspruch zugesprochen wird. So war es die sinngemäße Meinung von Jochen Reiter (als promovierter Biologe (!) und Direktor des Aquazoos Düsseldorf) bei seiner Eröffnungsrede des Evolutionswegs in Düsseldorf, "dass die Evolutionstheorie (jetzt) nicht mehr zu widerlegen" sei, wie nicht nur ich in den Kommentaren in: https://hpd.de/artikel/evolution-fuer-alle-18151
anmerkte. Ein solcher Anspruch liefe letztlich auf Dogmatismus hinaus! Die Behauptung der Nichtwiderlegbarkeit einer (dieser) Theorie bietet zumal *völlig unnötig* Angriffsfläche für Kreationisten insofern, als sie diese Theorie bereits wegen Kritikimmunisierung (und zwar berechtigt!) ablehnen könnten. Ich kann nur hoffen, dass sich J. Reiter hier versprochen hat.
Ein wichtiges Argument gegen die Nichtwiderlegbarkeit der Evolutionstheorie (d.h. *für* ihre Widerlegbarkeit) stammt von Richard Dawkins selbst (an etlichen Stellen), dass nämlich die Evolutionstheorie widerlegt wäre, wenn ein fossiliertes Kaninchenskelett in kambrischen Sedimentgesteinen gefunden werden würde (zur Erläuterung sei gesagt, dass es lt. Evolutionstheorie im ca. 500 Mio. Jahre alte Kambrium noch keine Säugetiere, also auch keine Kaninchen, gegeben hat). Alan Musgrave widerspricht Dawkins hier in seinem unten zitierten Buch "Weltliche Predigten" (S. 236) insofern, als Evolutionsbiologen hier eine 'Fälschung' reklamieren würden – was aber nicht unbedingt gerechtfertigt sein *muss*.
Was bleibt also?
Was bleibt also von der Wahrheitsnähe? Etwas Revidierbares, nichts Sicheres; mit deinem Zitat von Hans Albert im Interview mit Lorenzo Fossati etwa: "*Möglicherweise* ist, wie Popper einmal gesagt hat, die Welt zu kompliziert für uns, so dass wir *niemals zu einer völlig irrtumsfreien* Erkenntnis ihrer Beschaffenheit vordringen können. Wir können dann bestenfalls einige Erkenntnisfortschritte machen, die uns *vielleicht* der Wahrheit etwas näher bringen." Meine *Hervorhebungen* sprechen eigentlich Bände. Dieses (dein eigenes!) Zitat und die unten angeführte 'Fiktion' sind eigentlich schon eine vernichtende Kritik der angeblichen Wahrheitsnähe.
Bezüglich des Artikelthemas "Was ist rational?" sei auch noch *unbedingt* hingewiesen auf die "Secular Sermons" vom Popper-Schüler Alan Musgrave, die ich hier (zugegeben, sehr ausführlich) bereits vor 3 Jahren rezensiert hatte: https://hpd.de/artikel/alan-musgrave-weltliche-predigten-14831. Das 3. Kapitel "Geht die Wissenschaft rational vor?" trifft das Artikelthema nun wirklich voll auf den Kopf! Ich zitiere A. Musgrave aus der Rezension:
"Wissenschaft ist nicht deshalb ein rationales Unternehmen, weil sie über eine Methode zum Beweis ihrer Theorien verfügt oder zu deren zwingender Widerlegung. Sie ist rational, weil ihre kritischen Methoden immer bessere Theorien hervorbringen, die uns immer umfangreicher darüber in Kenntnis setzen, wie die Welt beschaffen ist" (S. 64). Der Autor verliert kein Wort darüber, ob (und, wenn ja, wie) wir die Begriffe 'besser' oder 'umfangreich' quantifizieren könnten.
Und *am Ende der Rezension im Fazit auch der Hinweis* auf sein anderes, von Hans und Gretl Albert übersetztes Buch, – mit einem wesentlichen Wink mit dem Zaunpfahl darin…
Last, not least, möchte ich nochmals auf den Wikipedia-Eintrag Wahrheitsnähe (https://de.wikipedia.org/wiki/Wahrheitsn%C3%A4he) hinweisen, wonach ein Versuch dieser Annäherung "*rein fiktiv*" ist und "nur modellhaft anwendbar, da die tatsächliche Wahrheit bekannt sein müsste, um es auf Theorien in der Praxis anzuwenden" (und nochmals den Hinweis auf den dort verlinkten Albert-Schüler Herbert Keuth!).
Ich sehe wahrlich genug _science fiction_ in der Welt; *mehr* _Fiktion_ benötige ich nicht!
Science als solche reicht mir völlig; d.h. gut begründetes, aber immer 'nur' konjekturales (d.h. vorläufiges) Wissen! – Vorläufiges Wissen in Form von mehr oder weniger gut begründeten Erklärungsmodellen.
Ich wiederhole mich – in welchem sog. heiligen, wahrheitsheischenden Buch gab es das jemals zuvor oder wird es das jemals geben? All dies hat kritische Wissenschaft hervorgebracht.
Sorry, aber dieser Kommentar ist notwendigerweise etwas lang geworden.
Ich hoffe, dass diese Anmerkungen auch für die Teilnehmer des Essay-Wettbewerbs eine Inspirationsquelle sind; allen wünsche ich ein gutes Gelingen!
Ein m.E. sinnvoller Forschungsschwerpunkt wäre es zu fragen, wo wir eigentlich landen, wenn wir forschen (und fragen), aber dabei irrationale Fallgruben wie Zirkelschlüsse und dogmatisch gesetzte Letztbegründungen vermeiden wollen? Und als letzter Wink mit dem Zaunpfahl – sind dabei Zirkelschlüsse eigentlich *immer* vermeidbar?