Dem Physiker, Unternehmer und Buchautor Lars Jaeger ist es ein wichtiges Anliegen, die Bedeutung von Wissenschaft und technologischer Entwicklung, aber auch von Philosophie und Geschichte, einem breiten Publikum nahezubringen, wissenschaftliches Denken in seinen Aus- und Wechselwirkungen zu erläutern und die Möglichkeiten, aber auch Gefahren neuester Technologien aufzuzeigen. Sein neuestes Buch beschreibt den Siegeszug der Wissenschaften auf der Basis von intellektuellen Tugenden, die unser Denken ausmachen und die es gerade in Zeiten von Fake News zu verteidigen gilt; es bietet historisch und thematisch weitumfassende, tiefgründige Lektüre auf populärwissenschaftlich hohem Niveau.
In vier Teilen mit zahlreichen Kapiteln und Unterkapiteln, deren Überschriften die Inhalte bereits erahnen lassen, wird dargestellt, "wie Europa als erster Kulturraum das wissenschaftlich-rationale Denken 'erfand', das die westliche Welt letztlich zur wirtschaftlichen und politischen Vormachtstellung führte". Lars Jaeger begründet diese Entwicklung mit vier wesentlichen Tugenden, die als einmalige Kombination aus kulturellen, ökonomischen und gesellschaftlichen Gegebenheiten aufeinandertrafen und bis heute hohe Bedeutung besitzen.
Als erste Tugend nennt er "Die Abkehr von Dogmen", deren Kern die wissenschaftliche Methode des methodischen Zweifels bildet. Über mehr als ein Jahrtausend war in Europa jegliches Denken über die Natur und den Menschen von religiösen Dogmen beherrscht. Erst ab dem 12. Jahrhundert nahm mit dem Theologen Peter Abaelard (1097–1142) ein langer Prozess seinen Anfang, der sie zunehmend infrage stellte. Uneingeschränktes Streben nach Wahrheit, verbunden mit intellektueller Redlichkeit und die Akzeptanz der Möglichkeit eigener Irrtümer bilden die Voraussetzung, die Welt immer besser so zu erfassen, wie sie wirklich ist: "Allumfassende Welterklärungsmodelle, philosophische Gedankengebäude und wissenschaftliche Theorien müssen immer wieder auf den Prüfstand."
"Vertrauen in die eigene Beobachtung" bildet die zweite Tugend. "In der Wissenschaft kommt es auf die eigene, überprüfbare Wahrnehmung an, nicht auf einen kollektiven Glauben." Die ersten Schritte zur Beobachtung der Natur mit dem Ziel, ihre Gesetze zu verstehen, unternahm der arabische Physiker Ibn al Haitham (965–1040). Nur sehr langsam setzte sich die Auffassung durch, dass sich die Welt nur durch den Einsatz der eigenen Sinne und der phänomenologischen Erfahrung realitätsnah erfassen lässt. Dieser empirische Ansatz bildete die Basis für das wissenschaftliche Experiment; Wissenschaftler begannen, Beobachtungen unter künstlichen Bedingungen durchzuführen, wobei die von Lukrez weitergeführte Lehre Epikurs über Roger Bacon und Francis Bacon vom Experiment zum Fortschrittsoptimismus führte.
"Die Suche nach dem Großen Ganzen", verbunden mit "Vertrauen in die unbestechliche Mathematik" ergibt die dritte Tugend. "Die Sprache der Natur ist die Mathematik" (Galileo Galilei) – nur mit ihrer Hilfe lassen sich aus isolierten Beobachtungsdaten allgemeine Naturgesetze herleiten, aus deren Kenntnis die Möglichkeit entsteht, sich ihrer gezielt zu bedienen. Ausgehend von Archimedes, über Kopernikus, Newton, Leibniz usw. beschreibt der Autor den Siegeszug der Mathematik.
"Die Umsetzung von Wissen in Technologie" beziehungsweise "Die Anwendung von Wissen zum Wohlergehen der Menschheit" bildet die vierte Tugend. Mit ihr wurde und wird das Wohlergehen der Menschen immer weiter gesteigert, wobei nicht übersehen werden darf, dass Technologien auch bewusst eingesetzt werden, Menschen zu schaden. Sie können aber auch unbewusst beziehungsweise unbeabsichtigt – siehe Klimawandel – dazu führen, dass ihr Einsatz gravierende Verschlechterungen der Lebensbedingungen mit sich bringt. Wissenschaft macht die Welt nicht besser, ihre Umsetzung in Technologien muss Risiken objektiv erfassen und ausschalten oder zumindest minimieren.
Die Verankerung der vier Tugenden im Denken der Menschheit war und ist von ständigem Auf und Ab gekennzeichnet. Derzeit sieht sich der westliche Kulturkreis mit der großen Herausforderung konfrontiert, dass alle vier Tugenden gleichzeitig angegriffen werden; beispielsweise durch:
- Fundamentalistisch-dogmatische Bewegungen mit großer Anhängerschaft.
- Die Unterschätzung des Wertes kritischen Denkens und eigener Wahrnehmung, womit Fake News immer größere Bedeutung erlangen.
- Die Aufteilung der Welt in Informations- und Wahrheitsblasen. Das große Ganze gerät aus dem Fokus, es wird salonfähig, sich eigene "Wahrheiten" zurechtzubasteln.
"Sternstunden der Wissenschaft" beschreibt, wie sich nach der Zerstörung antiken Wissens durch religiöse Fundamentalisten dessen Wiederentdeckung und Transfer aus dem oströmischen und arabischen Kulturraum vollzog und wie neben der Überwindung von Dogmen und der Verminderung kirchlich-religiöser Deutungshoheit zahlreiche weiterer Einflüsse – zum Beispiel durch die Entdeckung der "Neuen Welt", die Erstarkung des Bürgertums, die Erfindung des Buchdrucks – zu mehr Innovationswettbewerb führten.
Neben der Beschreibung erzielter Fortschritte, aber auch eingetretener Rückschläge, würdigt der Autor eine Vielzahl bedeutender Denker mit ihren Beiträgen von der griechischen Antike bis zur Neuzeit, von Platon bis zu Albert Einstein, wobei er auch die bei dieser Entwicklung entstandenen Auseinandersetzungen und technologischen Umstürze beleuchtet. Last not least ist es ihm ein Anliegen, auf die Gefahren der Gegenwart durch "Populismus als Feind der wissenschaftlichen Tugenden" hinzuweisen.
"Sternstunden der Wissenschaft" bietet – erhellt durch zahlreiche aufschlussreiche Originalzitate und mehrere Abbildungen – eine lange, spannende Reise durch die Erfolgsgeschichte des wissenschaftlichen Denkens. Der Autor verbindet damit "… eine große Hoffnung: Wenn wir erkennen, wie lang und mühsam der Weg war, bis das rationale Denken endlich den Glauben an Autoritäten und Magie vertreiben konnte, werden wir auch den vier wissenschaftlichen Tugenden wieder mehr Wertschätzung entgegenbringen. Denn dann erkennen wir, dass rationales Denken nicht selbstverständlich ist – und wir die Tugenden der Wissenschaft niemals kampflos preisgeben dürfen."
Lars Jaeger, Sternstunden der Wissenschaft – Eine Erfolgsgeschichte des Denkens, Südverlag Konstanz 2020, ISBN 978-3-87800-140-9, 335 Seiten, 20 Euro
9 Kommentare
Kommentare
Hans Trutnau am Permanenter Link
Schöne Rezension eines interessant klingenden Buches, Gerfried; mach Lust auf Lesen!
"Die Abkehr von Dogmen" ist auf jeden Fall auch meine allererste Tugend.
Es könnte jedoch sein, dass Abaelard einer von mehreren Ideengebern für den chronischen modernen Mythos war, dass Wissenschaft der Wahrheit näher käme - oder sie gar fände...
Letzteres (d.h. nicht nur 'fände') ist mir dann doch mehr als nur einen Tick zu dogmatisch.
Reinhold Schlotz am Permanenter Link
Eine Sternstunde der Wissenschaft, die auch als die „Geburt der Wissenschaft“ bezeichnet wird, bilden die ersten naturalistischen Denkansätze eines Anaximander von Milet vor 2600 Jahren.
Gerfried Pongratz am Permanenter Link
Interessante Ergänzung, Merci!
Hans Trutnau am Permanenter Link
"freischwebend im Raum" ist interessant, Reinhold (wenngleich etwas spekulativ damals); aber dass er "als Erster über die „Evolution der Lebewesen“ nachgedacht hat" - das finde ich dann doch etwas
Viel interessanter finde ich die Frage, wo wir hätten sein können, wenn die Antike mit ihren vielen Ideen nicht verdammt worden wäre...
Viele Konjunktive, ich weiß; es kam halt anders.
Reinhold Schlotz am Permanenter Link
Ich bin kein Historiker und kann mich natürlich nicht auf die Originalliteratur beziehen, lieber Hans. Ich kann aber gerne aus Carlo Rovellis Buch (S.
„Anaximander sieht den Ursprung des Lebens im Meer. Er spricht ausdrücklich von einer Evolution der Lebewesen, die er mit der Evolution klimatischer Bedingungen in Zusammenhang bringt. Die ersten Arten sind Meeresbewohner, und dann, als die Erde trockener wurde, haben sie sich ans Leben auf dem Festland angepasst. Er fragte sich auch, aus welchen Lebensformen die ersten Menschen hervorgegangen sein könnten … Bei allen offensichtlichen Einschränkungen verschlägt einem die Tatsache, dass dieser Text aus dem 6. Jahrhundert v.Chr. stammt, buchstäblich die Sprache.“
Siehe zu diesem Thema auch in Wiki:
https://de.wikipedia.org/wiki/Anaximander#Theorie_der_Menschwerdung_und_der_Seele
Offensichtlich hatte Anaximander schon eine Idee davon, was wir heute als „Biologische Evolution“ bezeichnen. Ich finde das mega-interessant und sehr spannend.
„… wo wir hätten sein können, wenn die Antike mit ihren vielen Ideen nicht verdammt worden wäre...“
Ich fände es erstrebenswert die vielen Konjunktive in möglichst viele Köpfe einzubringen …
Hans Trutnau am Permanenter Link
Lieber Reinhold, Rovelli ist wahrscheinlich ein verdammt schlauer Mensch.
A. war (ähnlich wie Theophanes) in einer gänzlich anderen Vorstellungswelt (Bsp. Neptunismus) unterwegs als wir heute. Er war m.E. eher Vordenker _für_ als Vorwegnehmer _der_ Evolution - was ihn nicht unterschätzen soll. Es soll lediglich Rovellis unterschwellige Ansicht korrigieren, alles hätte sich auf die Evolutiontheorie hinentwickelt und A. sei ihr Begründer. Das wäre wissenschafts-historisch so fehlerhaft wie Darwin bzw. Wegener als Begründ. der Evolutionslehre bzw. Plattentektonik zu bezeichnen. Das rührt offenbar von dem Mythos her, dass sich Wissenschaft + Erkenntnis allmählich der Wahrheit annähern (habe ich hier jüngst mehrfach moniert), weshalb die Historie verschiedener Disziplinen häufig entsprechend dargestellt wird - obwohl die Historie tatsächlich eher einer Zickzack-Linie gleicht, selbst heute noch.
Das soll, wie gesagt, das Vordenken nicht schmälern; es hat ja in der Tat viele Ideen gezeitigt.
Deinem letzten Satz stimme ich bes. zu.
Hans Trutnau am Permanenter Link
Habe mir Rovellis Buch mal vorsorglich in die Eltviller Buchhandlung meines Vertrauens bestellt, Reinhold; bin gespannt.
* In Ephesos nördlich von Milet war ich mal vor 11 Jahren auf Exkursion und fühlte mich damals in den teils ausgegrabenen / restaurierten antiken Stätten um ca. 2.500 Jahre zurückversetzt. War ein erhabenes Gefühl; schier unwirklich, aber dennoch nah dran!
Das muss dort damals eine unglaublich spannende Zeit gewesen sein...
Reinhold Schlotz am Permanenter Link
Hallo Hans, danke für deine Kommentare zu diesem Thema.
Ich halte Anaximander auch nicht für den Begründer der heutigen Evolutionslehre, genauso wenig, wie ich Aristarch von Samos für den Begründer des modernen heliozentrischen Weltbildes oder Demokrit und Leukipp für die Begründer der physikalischen Atomtheorie halte. Aber es waren wichtige Vordenker und Vorbereiter für eine wissenschaftliche Weltsicht, die immer wieder gerne vergessen werden.
Anaximander war Zeitgenosse von Thales von Milet im selben Ort. Sie müssen sich mit ziemlicher Sicherheit persönlich gekannt haben. Auch Pythagoras lebte in Samos nicht allzu weit von Milet entfernt, war für Thales und Anaximander allerdings noch ein junger Bursche. Beide werden in Rovellis Buch mehrfach erwähnt. Hinweise auf Xenophanes von Kolophon scheinen im Buch zu fehlen.
Anyway, das muss damals wirklich eine spannende Zeit gewesen sein.
Carlo Rovelli selbst halte ich auch für einen außergewöhnlichen Typen. Er vertritt als Physiker sehr offensiv die These, dass der Parameter „Zeit“ keine Realität beschreibt, sondern eine Illusion sei. Das kommt vermutlich daher (wenn ich das richtig verstanden habe), dass er in der Lage ist, innerhalb seiner Hypothese der Quantum-Loop-Gravity dynamische Prozesse ohne den Zeitparameter (t) zu beschreiben. Ich hadere schon lange mit diesem Parameter und halte die Zeit gleichermaßen für eine Konstruktion unseres Gehirns … aber das ist eine ganz andere Geschichte.
Wenn Du das Buch von Rovelli gelesen hast, interessiert mich deine Meinung dazu.
Hans Trutnau am Permanenter Link
Und schon da, das Buch.
Habe mir gleich das Kap. 8 (speziell S. 143) gekennzeichnet, wo Rovelli auf Popper / Kuhn etc. zu sprechen kommt. Erstes Querlesen dort hat mich nicht so überzeugt.